FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2003

 

Den Eltern schutzlos ausgeliefert

von Beate Bias

 

Vorbemerkung: Der folgende Artikel von Beate Bias, der uns von Pflegeeltern aus Brandenburg zugeschickt wurde, zeigt an Fallbeispielen und Statistiken die ganze Misere des mangelhaften Kinderschutzes in Deutschland. Hauptverantwortlich sind auch in Brandenburg Jugendämter, die ihr Wächteramt nicht ernst nehmen, sich trotz der gesetzlichen Möglichkeiten und der eindeutigen Richtlinien des Deutschen Städtetages hilflos stellen, statt dessen an die Wachsamkeit der Bürger appellieren, dann aber deren Hinweisen nur zaudernd oder gar nicht folgen.
K.E. (Nov. 2003)

 

Blaue Flecken, Striemen, Knochenbrüche. Säuglinge und Kleinkinder lernen in Brandenburg häufig eher Gewalt als ihre Muttersprache kennen. Jüngstes Beispiel ist ein Fall aus der Uckermark. Dort war ein drei Wochen altes Baby vom Vater fast in den Tod geschüttelt worden. Aber warum werden jedes Jahr mehr als 400 Kinder im Land Opfer von Gewalttaten?

Ist das Kind aus dem Fenster gefallen oder wurde es gestoßen? War es plötzlicher Kindstod oder wurde der Säugling erstickt? Ob ein Baby von den Eltern misshandelt oder getötet wurde, ist häufig schwer nachweisbar. Laut einer Studie der Kinderhilfsorganisation UNICEF sterben in Deutschland jede Woche zwei Kinder, weil sie körperlich mißhandelt oder von ihren Eltern vernachlässigt wurden.

Als der kleine Maik aus Templin (Uckermark) in seinem Kinderbett bitterlich weint, ist der Vater nur genervt. Er packt den Säugling an den Armen und schüttelt den drei Wochen alten Säugling fast in den Tod. Solche Fälle kennt Annelie Dunant vom Sozial-Therapeutischen Institut Berlin-Brandenburg aus ihrer Berufspraxis nur zu gut. "Der Vater schlägt das Kind, weil er seine Ruhe haben will. Die Mutter schaut zu, weil sie schwach und unselbstständig ist." Die Fälle gleichen sich.

"An Konsequenzen denken die Eltern meistens nicht", versucht Dunant die unverständliche Welt solcher Mütter und Väter zu erklären. Wissenschaftlich wird das Phänomen mit fehlenden Handlungsmustern begründet. Eltern wissen aus eigener Erfahrung demnach nicht, dass ein schreiendes Kind anders als mit Schlägen behandelt werden kann, sagt Dunant. Meist haben diese Eltern in ihrer Kindheit Ähnliches erlebt - keine Liebe sondern Gewalt..

So reagieren sie in Streßsituationen mit Schlägen gegen das eigene Kind. „Hier kann nur noch kompetente Unterstützung helfen“, ist sich Dunant sicher. Das Geld für ihre Beratungsstelle ist jüngst vom Land gekürzt worden.

Auslöser für Misshandlungen sind verbunden mit Armut und einer Überforderung der Eltern -verstärkt durch Alkoholmissbrauch. Annelie Dunant stellt jedoch klar: "Misshandlungen von Kindern kommen in Brandenburg in allen Bevölkerungsschichten vor." Meist seien es jedoch die einfachen Familien, in denen die Übergriffe entdeckt werden. "Anderswo verstehen die Eltern es leider besser, die Gewaltexzesse zu vertuschen."

Was bei allen Fällen gleichermaßen gilt, ist der Wunsch nach einer heilen Familie. „Deshalb versuchen die Eltern die Fassade nach außen hin zu wahren“, sagt Carmen Marquis, die Chefin des Landesverbandes der Pflege- und Adoptiveltern Berlin/Brandenburg. Genau aus diesem Grund sei es für die Mitarbeiter der Jugendämter so schwer, einen Weg in diese Familien zu finden.

So müssen sich die Behörden immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, dass sie nur Familien helfen, die freiwillig in die Amtsstuben kommen. „Hier sehe ich den größten Mangel", kritisiert Annelie Dunant. "Die Jugendämter haben ihre unpopuläre Wächterfunktion aufgegeben“, sagt die Chefin des Sozialtherapeutischen Instituts. Fakt sei aber, dass Misshandlungen nicht vom Schreibtisch aus aufgedeckt werden könnten.

Unterdessen plädiert die Leiterin des Landesjugendamtes für mehr Zivilcourage. „Jeder Einzelne muss den Mut haben, sich einzumischen", sagte Doris Scheele an die Adressen von Nachbarn und Bekannten. In der Realität zerplatzen solche Appelle oft wie eine Seifenblase. Wie im Fall des kleinen Pascals aus Strausberg (Märkisch Oderland). Dort hatte sich der leibliche Vater nach eigenen Angaben mehrfach an die Behörde gewandt. Geschehen ist unterdessen nichts. Erst als das Kind im März dieses Jahres vom Lebensgefährten der Mutter fast totgeprügelt wurde, entzog man der Frau endgültig das Sorgerecht.

Mit solchen Fällen konfrontiert, verweist das Landesjugendamt auf die Möglichkeiten der Behörden. „Wenn die Türen der Familien geschlossen bleiben, haben wir schlechte Karten“, erläutert Doris Scheele. Nur wenn „gravierende Anhaltsmomente“ vorliegen würden, könnte das Amt das Kind sofort aus der Familie nehmen. Eine einheitliche Definition für solche "Anhaltsmomente" gibt es bislang nicht. So hängt das Wohl der betroffenen Kinder vom Urteil des jeweiligen Mitarbeiters ab.

Deren Fähigkeit hatte unlängst die CDU-Abgeordnete Carola Hartfelder in Frage gestellt. Nach Gesprächen mit Richtern und Trägern der Jugendhilfe kritisierte sie eine mangelnde Qualifikation der Beschäftigten. Bildungsminister Steffen-Reiche (SPD) reagierte auf diesen Vorwurf enttäuscht, wie es hieß. Die nahezu 1000 Mitarbeiter würden offenbar wegen Einzelfällen in Misskredit gebracht, verteidigte Reiche die Beschäftigten.

Solch ein Einzelfall muss in Augen Reiches auch der drei Wochen alte Maik aus Templin sein. Nur knapp sei der Säugling dem Tod entkommen, sagten Ärzte aus dem Krankenhaus in der vorigen Woche. Ohnehin ist das Risiko von Neugeborenen, an den Folgen von Misshandlungen zu sterben, drei Mal so hoch wie bei Kindern zwischen einem und vier Jahren. Auslöser sei die besondere Verletzlichkeit von kleinen Babys.

Es müssen aber nicht immer Schläge und Tritte sein, die ein Kind ein Leben lang zeichnen, sagt Carmen Marquis vom Pflegeeltern-Verband. "Ein Säugling verspürt bereits Todesangst, wenn er nichts zu essen bekommt."
Märkische Oder-Zeitung, 27. Sept. 2003

 

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