FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2004

 

Kinder psychisch kranker Eltern in Pflegefamilien*

von Dr. Richard M.L. Müller-Schlotmann (Okt. 2004)

 

* Vortrag im Rahmen der 3. Bundestagung Erziehungsstellen in Marburg: "Mit elternreichen Kindern leben", veranstaltet von der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH), dem St. Elisabeth Verein Marburg und der Phillips-Universität Marburg.

 

Fallbeispiel

„An dem Abend, als die Krankheit meiner Mutter ausbrach, war ich mit ihr allein. Mitten in der Nacht weckte sie mich, ich sollte ihr helfen, Wanzen zu suchen, die vom Geheimdienst in unserem Haus versteckt sein sollten. Wir suchten gemeinsam, fanden aber nichts. Später lief sie halb nackt um unser Haus und beschimpfte Passanten, die sie als ihre Verfolger ansah. Irgendwann haben die Nachbarn dann die Polizei gerufen, und meine Mutter wurde abgeholt.“ So zitiert Knuf (2000, 34) Thomas W., der im Alter von acht Jahren „in dieser Nacht seine Mutter an die Psychose und die Psychiatrie verlor“.

Statistik

500 000  Kinder in Deutschland haben einen psychisch erkrankten Elternteil; das ist jedes 30. Kind. Von den jährlich 6000 Sorgerechtsentzügen in Deutschland werden etwa ein Drittel wegen einer psychischen Erkrankung der Eltern ausgesprochen.

Während das Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken in der Gesamtbevölkerung bei ca. einem Prozent liegt, liegt es bei Kindern mit einem an einer Schizophrenie erkrankten Elternteil bei 10 bis 15% und steigt, wenn beide Elternteile an dieser Krankheit leiden, auf 40% (Mattejat 2001, 68).

Kinder sind wie Thomas W. nicht selten die ersten Personen, die mit den Symptomen einer psychischen Erkrankung als erste konfrontiert werden. Und schlimmer noch: zwischen der kindlichen Wahrnehmung der ersten Symptome der Krankheit und der ärztlichen Diagnose liegen oft Jahre (Wagenblass 2003, 10).

Psychische Erkrankung und die Folgen

Psychische Krankheiten unterliegen immer noch einer weit verbreiteten gesellschaftlichen Abwertung. Sätze wie: „Ist deine Mutter denn schon wieder in der Klapse?“ spiegeln die Abwertung und tragen zu einem Empfinden von Schande erheblich bei.

Primäre Auswirkungen der Krankheit zeigen sich zunächst im veränderten Verhalten des kranken Menschen. Neben den direkt der Krankheit zuzuschreibenden Phänomenen, in denen sich manische Phasen mit depressiven abwechseln können, Ängste oder Panikattacken auftreten, eine Borderline-Störung mit nicht einschätzbarem und nicht voraussehbarem Verhalten verbunden ist oder Menschen in ihrer Schizophrenie Sinnestäuschungen unterliegen, geht psychische Krankheit aus der Sicht des Kindes häufig mit mehr oder weniger längeren und mehr oder weniger plötzlichen Trennungen (das heißt: Beziehungsdiskontinuitäten) auf Grund von Krankenhausaufenthalten einher. Psychische Krankheiten sind mit dem starken Hervortreten negativer Gefühle wie Angst, Aggression, Wut, Reizbarkeit oder Depressivität verbunden. Der erkrankte Elternteil ist in seiner affektiven Zuwendung unberechenbar – und nicht nur dieser. Auch der gesunde Elternteil ist überfordert und reagiert unangemessen. Insgesamt kann die Krankheit sehr viel „Raum“ in der Familie einnehmen, so dass für die Kinder weniger Zeit, weniger Betreuung, weniger Aufmerksamkeit und weniger elterliche Führung und Orientierung bleibt.

Kinder erleben die Unberechenbarkeit in der affektiven Zuwendung, die fehlende Verlässlichkeit der Eltern, das Schwanken zwischen Nähe und Distanz einerseits und zwischen Verwöhnung und Entwertung andererseits. Eltern mit einer psychischen Erkrankung haben ein vermindertes Einfühlungsvermögen, die Verhaltenssteuerung ist beeinträchtigt, sie handeln eher impulsiv oder entwickeln eine Tendenz zur Gewalt gegen andere oder gegen sich selbst. In depressiven Phasen leiden sie unter Antriebsstörungen wie Passivität, Apathie oder Interesselosigkeit unter geringer emotionaler Beteiligung. Ihr verzerrter Umgang mit der Realität ängstigt die Kinder, die die Wirklichkeit anders erleben. Arbeitslosigkeit, chaotischer Umgang mit Zeit und Geld, Desorganisation des Haushaltes und Konflikte mit dem sozialen Umfeld tragen als sekundäre Krankheitsfolgen zu einer Verschlimmerung bei.

Es besteht die deutliche Gefahr einer Vernachlässigung der Kinder. Aus Angst vor dem Verlust des Sorgerechts kommt es häufig zu weiteren Belastungen für die Familie und damit für das Kind. In der Familie wird die Bedeutung der Krankheit oft heruntergespielt, die Krankheit nicht als Krankheit akzeptiert oder die Behandlung aus Angst davor, die Kinder zu verlieren, abgebrochen. Tabuisierung und Verleugnung bringen das Kind in Loyalitätskonflikte gegenüber ihren Eltern oder manchmal auch zwischen den Eltern, denn es kommt oft zu Belastungen in der Partnerschaft, in der sich Partner Koalitionspartner unter den Kindern suchen. Wird die Krankheit nicht als solche akzeptiert, wird der kranken Person oft ein Mangel an Willen unterstellt, gegen die Krankheitssymptome anzugehen. Der gesunde Elternteil neigt zu emotionalen Überreaktionen, schimpft und wird aggressiv oder resigniert, zieht sich zurück oder wendet sich ab.

Die Isolation der Familie und Kommunikationsverbote innerhalb wie außerhalb der Familie machen es dem Kind oft unmöglich, sich außerhalb der Familie Unterstützung und Hilfe zu holen oder schlichtweg korrigierende Erfahrungen zu machen. Neben der Verleugnung der Krankheit wird sie manchmal sehr betont; sie nimmt in der Familie sehr viel Raum und Aufmerksamkeit, so dass alle Familienmitglieder regelrecht auf die Krankheit fixiert sind.

Eltern, die unter einer psychischen Krankheit leiden, haben meist Phasen, in denen sie gesund oder normaler wirken. Gerade in diesen Phasen kommt es häufig zur Überkompensation, die Eltern versuchen, die Vernachlässigung oder ungerechte Behandlung gegenüber dem Kind wieder gutzumachen. „Ich hatte oft den Eindruck, als ob sie mich dann mit ihrer ganzen Liebe überschütten wolle, um gutzumachen, was sie mir antat, wenn es ihr schlecht ging“ (Mattejat/Lisofsky 2001, 38). Dabei erleben die Kinder extrem schnelle Veränderungen, manchmal von Stunde zu Stunde. Immerhin zeigt sich an diesem und anderen Beispielen, dass die Eltern Hilfe benötigen, wenn die Kinder die Krankheit des einen Elternteils und dessen Schuldgefühle zu ihrem Vorteil ausnutzen.

Das Erleben des Kindes

Zunächst können Kinder nicht verstehen, was im Erwachsenen vorgeht. Sie sind deshalb verwirrt. Sie versuchen, dem kranken Elternteil und dessen Wahrnehmung zu glauben und beginnen, ihrer Wahrnehmung zu misstrauen.

Verleugnungsstrategien und Kommunikationsverbote verstärken das Gefühl des Kindes, aus Loyalität zu seiner Familie oder zu den Eltern Probleme in der Familie nicht verraten zu dürfen. Dahinter mögen Ängste der Eltern stecken, dass die Familie sonst auseinander fällt oder getrennt wird, aber diese müssen nicht ausgesprochen werden. Die Ängste der Eltern nehmen die sensibilisierten Kinder häufig wahr, auch wenn sie nicht benannt werden.

Kinder erleben häufig Schuldgefühle. Sie fühlen sich verantwortlich für die Erkrankung, weil sie böse sind oder sich nicht genügend um den erkrankten Elternteil kümmern. Sie erwarten, dass es dem kranken Elternteil besser geht, wenn sie sich besser benehmen. Tatsächlich übernehmen viele Kinder die Versorgung, vor allem die emotionale Versorgung und nicht nur des kranken Elternteils, sondern nicht selten auch des überforderten gesunden Elternteils. Sie nehmen die Organisation des Haushalts in die Hand und sorgen dafür, dass die Vernachlässigung etwa der Haushaltstätigkeiten nicht zu weiteren Konflikten in der Partnerschaft führt. Das Erwachsenseinmüssen, die versorgende Rolle gegenüber Eltern übernehmen zu müssen, Partnerersatz für den Partner oder die Partnerin des erkrankten Elternteils zu sein, führen zu Rollendiffusionen und Unsicherheiten. Das Kind kann kaum noch Kind sein. Mit dem Verlust der Fähigkeit zur „Regression im Dienste des Ich“ kann das Kind nicht mehr unbeschwert spielen, Verantwortung nicht mehr abgeben. Es entwickelt eine hohe Leidensfähigkeit, kann aber auch die eigenen (Leistungs-)Grenzen nicht akzeptieren. Die Kinder sind mit dem Gefühl, für den Zusammenhalt der Familie verantwortlich zu sein, überfordert. Insbesondere Töchter fühlen sich auf Rollenzuschreibungen fixiert. Sie sind für die kranken und die gesunden Elternteile die Gesunden, die Vernünftigen, die Erwachsenen, die Puffer zwischen den Eltern, das Auffangnetz oder der Abfalleimer in der Familie.

Zentrales Thema betroffener Kinder sind Ängste. Die Angst vor dem kranken Elternteil oder der Wut des gesunden Elternteils und vor Gewalt und unkontrollierten Gefühlsausbrüchen ist ebenso präsent wie die Angst um den erkrankten Elternteil, der sich selbst gefährdet oder die existentielle Angst vor dem Auseinanderbrechen der Familie und vor dem Verlust wichtiger Beziehungen und Bindungen.

Viele Kinder sind mit der Situation überfordert. Sie sind hilflos und hoffnungslos. Weil sie sich selber häufig als nicht hilfreich oder erfolgreich erleben, entwickeln sie ein negatives oder instabiles Selbstkonzept. Schamgefühle gegenüber Gleichaltrigen, Tabuisierung der Krankheit und Verleugnungsstrategien der Familie führen zu einer sozialen Isolation des Kindes. Sie verlieren das Vertrauen in die Fähigkeit, durch das eigene Verhalten Vorhersehbares bewirken zu können (Kontrolle äußerer Ereignisse) oder können dieses Vertrauen nicht erwerben. Diese Beeinträchtigung der Selbstwirksamkeit trägt zu einer Haltung der Hilflosigkeit und Abhängigkeit bei. Kinder entwickeln häufig Bewältigungsstrategien, die ihnen viele Möglichkeiten verbauen. Sie bilden Schutzmauern um sich herum - häufig auch gegenüber Freunden oder Erwachsenen, die helfen könnten. Die eigenen Gefühle werden gut abgeschirmt.

80% der Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil reagieren mit Verhaltensauffälligkeiten wie Nägelkauen, aggressivem Verhalten, Schulschwierigkeiten, Schlafstörungen, Einnässen, Unruhe oder Konzentrationsproblemen.

Aber die Kinder entwickeln auch soziale Kompetenzen. Sie zeigen überdurchschnittliche Fähigkeit zum Krisenmanagement, eine hohe Selbstständigkeit, ein großes Verantwortungsbewusstsein und ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen in andere Menschen.

In der Pubertät, dem beginnenden Ablöseprozess aus der Familie und der Entwicklung von mehr Eigenständigkeit verschärft sich die Problematik. Der Konflikt zwischen dem eigenen Autonomiestreben und der Verantwortung für den erkrankten Elternteil ist schwierig zu lösen. In den wiederstreitenden Gefühle zwischen Scham, Trauer, Wut und Hass kommen immer wieder Schuldgefühle hoch. Das Kind schämt sich für seine negativen Gefühle und versucht sie nicht wahrzunehmen oder zu verleugnen.

Schutzfaktoren

Um den betroffenen Kindern und ihren Eltern helfen zu können, wird mehr und mehr auf schützende Faktoren Bezug genommen. Die Resilienzforschung (Julius/Goetze 1998) beschäftigt sich mit der Frage, warum manche Kinder trotz widriger Umstände nicht oder nur vorrübergehend mit auffälligem oder gar straffälligem Verhalten reagieren. Zu den protektiven oder Schutzfaktoren zählt vor allem eine positive Bindungsperson; dies kann der gesunde Elternteil sein oder ein anderer wichtiger Erwachsener aus dem sozialen Umfeld, zum Beispiel ein Großelternteil. Ein dauerhaft verlässliches Umfeld mit einer guten emotionalen Einbindung des Kindes, kompensatorische Elternbeziehungen oder ein gutes Ersatzmilieu, entsprechende Förderung, ein hoher sozio-ökonomischer Status mit entsprechenden familialen Ressourcen wirken sich als Schutzfaktoren aus. Je offener über die Krankheit gesprochen werden darf, je mehr die Krankheit als Krankheit akzeptiert wird, desto günstiger für das Kind. Auch im Kind selber wirken sich Persönlichkeitsmerkmale positiv auf die Verarbeitung aus. Robuste, kontaktfreudige, intelligente Kinder mit einem günstigen kognitiven Stil und einer realistischen internalen Kontrollüberzeugung werden in ihrem Verhalten seltener auffällig.

Was brauchen die Beteiligten?

Die beschriebenen Schutzfaktoren weisen darauf hin, was Kinder psychisch kranker Eltern benötigen und was gegebenenfalls zu schaffen ist. In eine Gesamtdiagnose müssen neben der medizinischen Diagnose viele weitere Faktoren berücksichtigt werden, um ein multidisziplinäres, multimodales und multiprofessionelles Hilfsangebot einzurichten. Dies erfordert die Koordination und Kooperation zwischen helfenden Institutionen.

Im Gesundheitssystem selbst gibt es Ansätze für eine umfassendere Betreuung des kranken Elternteils, seiner Kinder und der Angehörigen. Im stationären Bereich gibt es Projekte stationärer oder teilstationärer integrierter Mutter-Kind-Behandlungen, ambulanter Betreuungen und der Angehörigenarbeit (Mattejat/Lisofsky 2001; Hartmann 2001; Lüders/Deneke 2001). Beispiele für Gruppenarbeit mit Kindern greifen die Notwendigkeit auf, auch ihnen ein Forum für ihre Probleme im Umgang mit der psychischen Erkrankung eines Elternteils zu geben (Mattejat/Lisofsky 2001; Staets/Hipp 2001; Dierks 2001; Hipp/Staets 2003; Schuhmann/Ehrhardt 2003). Obwohl die Modellprojekte sich in den Zielgruppen und Schwerpunkten der Arbeit unterscheiden, lassen sich die Ziele zusammenfassen. Es geht regelmäßig um eine Vermeidung von Trennungen und Beziehungsabbrüchen, der Stärkung des sozialen Umfeldes, ein besseres Verständnis der Krankheit, einen Abbau von Ängsten, einer Reflektion des elterlichen Umgangs mit dem Kind, Stärkung der Elternkompetenzen und die Ermöglichung einer realistischen Wahrnehmung.

Zentrale Bestandteile der Präventionsarbeit mit Kindern sind die Wahrnehmung der kindlichen Ängste, die Ermutigung, die eigenen Gefühle auszudrücken, die Stärkung einer realistischen Wahrnehmung, eine kindgerechte Aufklärung über die Bedeutung und Folgen der psychischen Erkrankung des Elternteils, Entlastung von Schuldgefühlen, Förderung der Eigenständigkeit unter anderem auch in der Freizeitgestaltung.

Da zwischen dem Gesundheitssystem und dem Jugendhilfesystem unterschiedliche Präferenzen zu bestehen scheinen, ist ein intensiver Austausch zwischen diesen Systemen eine notwendige Voraussetzung, um Veränderungen auf der Basis gegenseitigen Vertrauens zu ermöglichen. Beide Seiten müssen sich über ihre Arbeitsbereiche verständigen und nach gemeinsamen Handlungsstrategien suchen. Verzerrte Wahrnehmungen führen zu einer skeptischen Haltung zueinander. Dabei geht es nicht darum, Elternwohl und Kindeswohl gegeneinander abzuwägen, sondern nach Möglichkeiten zu suchen, beides sinnvoll miteinander zu verbinden. Lazarus (2003) schlägt vor, auf die Beziehung zwischen den Bedürfnislagen des Kindes und seine Lebensbedingungen zu achten. Er zitiert Dettenborn, der dann von einer günstigen Relation spricht, „wenn die Lebensbedingungen die Befriedigung der Bedürfnisse insoweit ermöglichen, dass die sozialen und altersmäßigen Durchschnittserwartungen an die körperliche, seelische und geistige Entwicklung erfüllt werden.“ (Lazarus 2003, 25). Er unterscheidet zwischen einer Best-Variante, einer Genug-Variante und einer Gefährdungsabgrenzungs-Variante. Aber auch bei der Abwägung mit Blick auf das Kindeswohl müssen der Wille des Kindes, seine Bindung, die Betreuung und Erziehungskontinuität und die Fördermöglichkeiten überprüft werden, und darauf muss angemessen reagiert werden.

Eine besondere Form der familienunterstützenden Arbeit mit betroffenen Familien ist die Patenschaft für Kinder psychisch kranker Eltern (Szylowicki 2003). Psychisch kranken Elternteilen wird über einen freien Träger der Jugendhilfe in der Nachbarschaft eine Familie zur Seite gestellt, die einen regelmäßigen Kontakt zum Kind hält und in Krisenfällen das Kind in Kurzzeitpflege nimmt. Eine Fachkraft trifft mit den Familien Vereinbarungen und berät und begleitet sie. Dadurch erhalten die Kinder eine Entlastung und die Betreuungskontinuität ist sicher gestellt, wenn der Elternteil klinisch behandelt werden muss.

Kinder von Eltern mit einer psychischen Erkrankung in Pflegefamilien

Werden Kinder psychisch kranker Eltern in Pflegefamilien oder Erziehungsstellen untergebracht, bringen sie ihre Beziehungserfahrungen in die neue Familie mit. Derzeit gibt es im Pflegekinderwesen zu wenig Forschungsergebnisse zu den Folgen differenzierter Beziehungserfahrungen von Pflegekindern in ihren Herkunftsfamilien. Zwar geht die Fachöffentlichkeit davon aus, dass ein nicht geringer Anteil der Kinder traumatische Erfahrungen in der Herkunftsfamilie erlebt, aber über eine erste Unterscheidung der Folgen von Vernachlässigung und Misshandlung für die Integration der Pflegefamilie hinaus (Müller-Schlotmann 1998), werden die spezifischen Folgen beispielweise von Beziehungserfahrungen mit abhängig kranken, suizidgefährdeten oder psychisch kranken Elternteilen für die Psychodynamik des Kindes und insbesondere für die Beziehungsdynamik in der Pflegefamilie nicht beschrieben.

Einzelbeobachtungen weisen darauf hin, dass Pflegekinder aus Familien mit einem psychisch kranken Elternteil Besuchskontakten mit diesen Elternteilen besonders ablehnend gegenüber stehen. Die Kinder werden vor dem Umgangskontakt krank, reagieren mit Ängsten, selbstverletzendem oder aggressivem Verhalten vor dem oder auf den Besuchskontakt, verweigern sich oder sprechen deutlich aus, was sie wünschen: „Du bist nicht meine Mutter.“ Teilweise erkennt das Kind seine Eltern offenbar nicht, weil manche Psychopharmaka zu Veränderungen führen. Die Patientinnen und Patienten erscheinen gedämpft oder verändern sich äußerlich, werden dick.

Je nach dem Zeitpunkt der Erkrankung des leiblichen Elternteils, dem Alter des Kindes, dem Wunsch, die Pflegeeltern mögen die „richtigen“ Eltern werden, und mit den eigenen Verarbeitungsmöglichkeiten und Ressourcen, reagieren die Kinder vermutlich unterschiedlich auf die Besuchskontakte.

Den Erfahrungen mit der Unberechenbarkeit der Eltern in der affektiven Zuwendung, der Trennungen durch plötzliche Krankenhausaufenthalte und der Parentifizierung des Kindes stehen neue Erfahrungen mit starken und verlässlichen Eltern gegenüber. Das Kind genießt die Normalität, die es lange nicht erlebt hat. Die ständigen Grenzverletzungen in der Herkunftsfamilie versucht es durch Vergessen oder Verleugnung, also durch Formen von Abspaltung, zu verarbeiten. Manche Kinder verhalten sich auch um den eigenen Geburtstag herum auffällig, möglicherweise weil dieser sie daran erinnert, dass es noch leibliche Eltern außerhalb der aktuellen Familie hat. Auch Krankheit bekommt häufig eine besondere, eher beängstigende Rolle für das Kind.

Für die Gestaltung von persönlichen Umgangskontakten ist Transparenz notwendig. Es ist sinnvoll, einerseits klare Absprachen mit den Herkunftseltern zu treffen und ausreichend zu begründen, um Grenzverletzungen zu vermeiden und dem Kind möglichst viel Sicherheit zu geben. Ein regelmäßiger Kontakt zur Herkunftsfamilie, wie er gerade in eng begleiteten Erziehungsstellen über die beratende Fachkraft möglich ist, trägt zu gegenseitigem Vertrauen bei. Missverständnisse und Kommunikationsstörungen müssen schnell aufgegriffen und geklärt werden. Andererseits, dies zeigt die Diskussion in der Seminararbeit, kennen die Kinder ihre Eltern. Sie wissen um deren Unzuverlässigkeiten. Sie werden vielleicht enttäuscht sein, wenn die Eltern nicht kommen, aber es ist auch nicht Aufgabe der sozialen Eltern, ihnen durch eine Vorspiegelung einer falschen Wirklichkeit eine realistische Wahrnehmung vorzuenthalten. Der Vorschlag, Besuchskontakte so zu gestalten, dass sie sowohl mit als auch ohne leibliche Eltern zu einem schönen gemeinsamen Ausflug werden können, ist insofern sehr hilfreich. Soziale Eltern und Pflegekinder müssen auch die Grenzen akzeptieren, hinter denen sie das Verhalten der leiblichen Eltern nicht verändern können. Kinder psychisch kranker Eltern empfinden ambivalente Gefühle für ihre Eltern, die sie in Konflikte bringen können. Sie hassen ihre Eltern oder schämen sich für sie, auch dann, wenn sie ungepflegt zum Besuchskontakt erscheinen. Eine realistische Einschätzung dessen, was sie - mit Hilfe der Erwachsenen - erreichen können und worauf sie keinen Einfluss haben, zu erlagen, ist hilfreich, aber bis dahin ist es manchmal ein langer Weg.

Statt auf Besuchskontakte gänzlich zu verzichten ist es vielleicht möglich, mit dem Kind gemeinsam zu üben, wie es sich gegen beängstigende Verhaltensweisen des psychisch kranken Elternteils wehren kann. Manche begleitende Fachkräfte verabreden Zeichen mit dem Kind, mit dem es deutlich macht, dass es überfordert ist und dass der Kontakt abgebrochen werden soll.

Über die konkreten Umgangskontakte hinaus ist es wichtig, das Kind über die psychische Erkrankung des Elternteils aufzuklären und ihm alle Informationen zu geben, die es braucht und wünscht. Dazu gehört auch die Aufklärung über das Risiko einer eigenen Erkrankung, wenn sich das Kind - meist im Jugendalter - für diese Frage interessiert.

Biografiearbeit mit Kindern oder Jugendlichen, wie Jörg Maywald sie vorgestellt hat, ist eine gute Ergänzung zur Aufklärung und bringt dem Kind Zusammenhänge in seinem Lebensverlauf näher.

Für das Zusammenleben mit einem Kind aus einer Herkunftsfamilie mit einem psychisch kranken Elternteil ist es wichtig, auf „Auslöser“ für auffälliges Verhalten zu achten. Was verrät sein Verhalten über seine Einstellung zu Krankheiten? Wie reagiert es, wenn es der Pflegemutter, dem Pflegevater oder Kindern in der Familie nicht gut geht? Genießt es klare Grenzen und wie kommt es damit im Alltag zurecht? Manchmal ist es einfach, sich an die anderen Kinder in der Familie anzuhängen, statt einen eigenen Freundeskreis aufzubauen. Was verrät sein Verhalten über sein Selbstkonzept?

Beispiele aus Verwandtenpflegefamilien zeigen, wie schwierig es ist, mit den eingespielten und gewohnten - und damit vom Kind erwarteten - symbiotischen Abhängigkeitsbeziehungen und der daraus resultierenden Rollendiffusion umzugehen, wenn die Pflegeeltern zu sehr in der Verantwortung für die eigene Familie im weitesten Sinne stehen. Pflegeeltern müssen sich darüber im klaren sein, dass sie für die Pflegekindern da sind und diese aus Instrumentalisierungen - für den Familienfrieden, für Wohlverhalten, für die Gesundheit des psychisch kranken Elternteils - lösen müssen. Eine enge fachliche Begleitung, die Verteilung von Aufgaben und die Absprache von Kommunikationswegen entlastet die Pflegeeltern. Zum Schutz vor eigener Überforderung und zum Schutz der eigenen Familie sind klare Vereinbarungen sinnvoll. Innerhalb dieser Grenzen flexibel zu sein und Veränderungen zuzulassen, ermöglicht gemeinsames Handeln; ein deutliches Zeichen für das Kind, dass die Erwachsenen im System bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und verantwortlich zu handeln.

 

Literaturliste

Beek, K.: Im Schatten der Kindheit. Soziale Psychiatrie 3/2003, 12 - 15

Dierks, H.: Präventionsgruppen für Kinder psychisch kranker Eltern im Schulalter („Auryngruppen“). . Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2001, 560-568

Hartmann, H.-P.: Stationär-psychiatrische Behandlung von Müttern mit ihren Kindern. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2001, 537-551

Hipp, M./Staets, S.: „Familiäre Ressourcen stärken“ Das Präventionsprojekt „Kipkel“. Soziale Psychiatrie 3/2003, 27 - 30

Julius, H./Goetze, H.: Resilienzförderung bei Risikokindern. Potsdam 1998

Knuf, A.: „Mit meiner Mutter stimmt etwas nicht“. Die vergessenen Kinder psychisch Kranker. Psychologie Heute 2000, 34 – 39

Lazarus, H.: Zum Wohle des Kindes? Soziale Psychiatrie 3/2003, 22 - 26

Lisofsky, B.: „Aus der Krankheit kein Geheimnis machen ...“ Soziale Psychiatrie 3/2003, 34 - 36

Lohr, M.: Direkt an der Hauptstraße. Soziale Psychiatrie 3/2003, 4 - 7

Lüders, B./Deneke, Ch.: Präventive Arbeit mit Müttern und ihren Babys im tagesklinischen Setting. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2001, 552-559

Mattejat, F.: Kinder psychisch kranker Eltern im Bewußtsein der Fachöffentlichkeit – eine Einführung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie

Mattejat, F./Lisofsky, B. (Hg.): ... nicht von schlechten Eltern. Kinder psychisch Kranker. Bonn 2001

Müller-Schlotmann, R.M.L.: Integration vernachlässigter und misshandelter Kinder in Pflegefamilien. Regensburg 1998

Schuhmann, K./Ehrhardt, K.: „Mut, Kraft und Stärke geben“ Das Kinderprojekt AURYN. Soziale Psychiatrie 3/2003, 31 - 33

Staets, S./Hipp, M.: KIPKEL – ein interdisziplinäres ambulantes Präventionsprojekt für Kinder mit psychisch kranken Eltern. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2001, 569-579

Wagenblass, S.: Wenn Eltern in ver-rückten Welten leben ... Soziale Psychiatrie 3/2003, 8 – 11

dies.: Biographische Erfahrungen von Kindern psychisch kranker Eltern. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2001, 513-524

Wagenblass, S./Schone, R.: Zwischen Psychiatrie und Jugendhilfe – Hilfe- und Unterstützungsangebote für Kinder psychisch kranker Eltern im Spannungsfeld der Disziplinen. . Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2001, 580-589

 

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