KANN DIE RECHTSSPRECHUNG DES EUGHMR VERFASSUNGSGEMÄSS ÜBERNOMMEN UND ANGEWENDET WERDEN?
von Rechtsanwalt Peter Hoffmann, Hamburg
AM BEISPIEL DES "AUSBALANCIERTEN TEILSYSTEMS DES INNERSTAATLICHEN RECHTS" IM PFLEGEKINDSCHAFTSWESEN UND SEINEM VORRANG GEGENÜBER DER RECHTSPRECHUNG DES EUGHMR1
zwischen
EuGHMR (FamRZ 2004, 1456)
und
OLG Naumburg (FamRZ 2004, 1507 u. 1510),
sowie
BVerfG - 2. Senat - (FamRZ 2004,1857)
und der Divergenz zu
BVerfG - 3. Kammer d. 1. Senats - (FamRZ 2005,173)
Vorbemerkung: Die Frage der Verfassungswidrigkeit oder Verfassungsmäßigkeit des Europarechts beschäftigt den 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts nicht nur im Strafrecht2, sondern auch im Familienrecht3. Dort war es ebenfalls der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts, der davor gewarnt hatte, dass die „schematische Vollstreckung“ der Rechtsprechung des EuGHMR „zu verfassungsrechtlichen Problemen führen“ und „gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtstaatsprinzip verstoßen“ (Leitsatz 1.) könnte.
Ebenso wie im Strafrecht stellt sich im Familienrecht die Frage des Europa-Rechts als Abbild von Hobbes’ „Leviathan“ von 1651, dem menschengeschaffenen Staatsmonstrum.
Die Kontroverse war zunächst zwischen EuGHMR und OLG Naumburg entstanden, hat sich nun aber möglicherweise zu einer handfesten Divergenz zwischen dem 2. Senat – zuständig für Europa-Rechtsfragen – und der 3. Kammer des 1. Senats – zuständig für Familien-Rechtsfragen – und noch darüber hinausgehend zu einer Grundsatzfrage ausgeweitet.
Im Grundsatz geht es um die Frage, ob bereits eine auf die biologische Herkunft beschränkte Beziehung ein „Familienleben“ ist, woraus Umgangsrechte und Sorgerecht abgeleitet werden können (so der EuGHMR) oder ob eine „sozial-familiäre Beziehung“ hinzutreten muss, um derartige Rechte in Betracht zu ziehen (so bisher das Bundesverfassungsgericht).
Im konkreten Fall, der die Gerichte (AG Wittenberg, LG Dessau, OLG Naumburg, BVerfG, EuGHMR) seit mehreren Jahren zunehmend intensiv beschäftigt, geht es insbesondere um die Frage, ob das seit vier Tagen nach seiner Geburt in seiner Adoptionspflegefamilie lebende (bald sechsjährige) Kind mit dem biologischen Vater Umgang ausüben soll, „um die familiäre Beziehung weiterzuentwickeln“ und ob dem biologischen Vater auch die elterliche Sorge übertragen werden soll (so EuGHMR) oder ob der grundgesetzlich garantierte Schutz des Kindeswohls in der Adoptivpflegefamilie höherrangig zu bewerten ist, (so bisher die Rechtsprechung der Bundesverfassungsgerichts zu Pflegekindern).
Es wird im Folgenden aufgezeigt, dass die Rechtsprechung des EuGHMR zu Pflegekinder sich nicht mit der seit über 30 Jahren entwickelten ausdifferenzierten Systematik von Gesetz und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage des Kindeswohls in Einklang bringen lässt.
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