FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2005

 

Zur Problematik der Rückführung von Pflegekindern


Voruntersuchung
der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie
und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien

 

Die z.Zt. laufende Voruntersuchung soll die zuständigen Ministerien überzeugen, dass die Folgen der Rückführung von Pflegekindern in ihre Herkunftsfamilien dringend einer empirischen Untersuchung bedürfen, und die Jugendämter angewiesen werden, diese Untersuchung zu ermöglichen – natürlich unter Wahrung des Datenschutzes. Aus der Voruntersuchung resultierten folgende Argumente für eine solche empirische Erhebung.

I. Programmatisch und ideologisch statt empirisch begründete
   Rückführungspraxis der Jugendämter und Familiengerichte

In dem Modellprojekt »Erzieherische Hilfen im familiären Setting (proFam)« unter Trägerschaft des Berliner Arbeitskreises zur Förderung von Pflegekindern e.V. wurden Maßnahmen der Fremdplatzierung für Kinder aus ‚schwierigsten Bedarfslagen’ geleistet. Die Zusammenarbeit mit den Herkunftsfamilien war ein wichtiges Anliegen. Zur Programmatik des Projektes gehörte  die „Vorbereitung und Begleitung des familiären Reintegrationsprozesses nach Rückführungen“. (Dittrich, Preiss, 2002, S. 48) Die hier bei ‚Erziehungsfamilien’ angewandten Methoden seien „...fast ohne jeden Abstrich auf den Bereich der Vollzeitpflege zu übertragen.“ (a.a.O. S. 44) Von insgesamt 39 im Zeitraum von Juli 1998 bis März 2001 aus diesem Projekt beendeten Hilfen wurden 33 Kinder (84,6%) zu ihren Eltern zurückgegeben. Zu einem späteren Zeitpunkt, während einer Tagung des Instituts für Vollzeitpflege und Adoption, berichtete proFam von einer Rückführungsquote von 70% bei 55 abgeschlossenen Hilfen (vgl. Sutter, 2005, S. 45). Im Einführungsreferat dieser Tagung wird eingeräumt: „Es gäbe bislang leider keine empirische Forschung zum Grad ihres Gelingens oder Misslingens, offenbar bestehe aber eine hohe Quote scheiternder Rückführungen mit der Folge erneuter Fremdunterbringung“. (a.a.O. S. 43)

Tatsächlich bekennen sich nicht nur die an diesem Projekt beteiligten Berliner Jugendämter, sondern auch viele andere zur programmatisch statt empirisch begründeten Favorisierung der Rückführung. Dazu Blandow:
„Da die ‚Rückführung’ von Kindern in ihre Familien ein gegenwärtig hoch geschätztes jugendhilfepolitisches Ziel ist und es gewissermaßen einen edlen Wettstreit um hohe Rückführungsquoten gibt, werden die sehr unterschiedlichen Tatbestände [Anm. geplante Rückgabe, Rücknahme, Rückkehr] gerne verwischt.“ (Blandow, 2004, S. 142)

Die Vormünderin Karin Ahlers beschrieb in dem Buch »5 Jahre KJHG aus der Sicht des Pflegekinderwesens« das Ausmaß der möglichen Willkür bei Entscheidungen um Aufnahme und Verbleib von Pflegekindern. Sie schilderte den drastischen Fall einer Herausnahme mit dem Ziel, das seit 4 Jahren in der Pflegefamilie verweilende Kind den Großeltern zuzuführen, was nur unter Gewaltanwendung mit Polizei und Gerichtsvollzieher gegen den Willen der Pflegeeltern und unter heftigem Protest des Kindes gelang. Sie resümiert aus den schriftlichen Unterlagen: „Auch heute noch gibt es Jugendämter, die die Ansicht vertreten, Kinder müssten grundsätzlich zurück!“ (Ahlers, 1996, S. 235)

Eine Pflegemutter aus Süddeutschland berichtete uns per Mail:
„Ich habe gestern mal den Fragebogen unseres Jugendamtes gesehen, den Pflegeelternbewerber ausfüllen müssen. Neben vielen pseudo-therapeutischen Fragen über die eigene persönliche Vergangenheit wird auch folgende Frage gestellt: ‚Die meisten Dauerpflegen enden mit einer Rückführung. Wie stehen Sie zu dieser Tatsache und wie würden Sie im konkreten Fall diesen Prozess unterstützen?’.... Da wird den Leuten, die sich für ein Pflegekind bewerben quasi gleich die Unterschrift unter eine eventuelle Rückführung abgepresst!“

Der Kinderneurologe Gert Jacobi hatte zwischen 1967 und 1998 an der Frankfurter Universitätsklinik 222 Fälle von schwerer und schwerster Kindesmisshandlung ärztlich betreut. Mit wenigen Ausnahmen waren die Misshandlungen keine einzelnen Gewaltakte, sondern Wiederholungstaten. Gert Jacobi erklärt: „Die Vorstellung, dass man durch Erziehungshilfen oder eine fürsorgerische oder psychotherapeutische Betreuung einer Misshandlungsfamilie das Problem aus der Welt schaffen kann, ist eine ziemlich verbreitete Vorstellung, in der Regel jedoch reines Wunschdenken... Der gröbste Fehler in der Betreuung eines chronisch misshandelten, jungen Kindes ist der, zu meinen, dass man seiner Mutter hilft, über ihre Aggressivität hinwegzukommen, indem man es wieder an sie zurück gibt.“ (Jacobi, 2005, S. 18f.)

II.  Häufigkeit der Rückführungen

Im »Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich« des Deutschen Jugendinstitutes wird über die Häufigkeit von Rückführungen ausgeführt, dass differierende Schätzungen von Experten vorliegen, die zwischen 6% und 42% Rückführungen von allen Pflegeverhältnissen streuen, und dass diese Rückführungshäufigkeit nicht von objektiven oder fachlich anerkannten Kriterien abhängig sei. Für die Rückführbarkeit von Pflegekindern gäbe es unter Fachleuten keine allgemein anerkannten Richtlinien (vgl. Permien, 1987, S. 255).

Für das Land Berlin liegt eine Studie vor, in deren Verlauf alle beendeten Pflegeverhältnisse der (damals) zwölf Bezirke von Januar 1985 bis Juni 1987 erfasst wurden. In diesem Zeitraum wurden 505 Pflegeverhältnisse in insgesamt 448 Pflegefamilien beendet, wegen Volljährigkeit 44%, wegen Abbruch mit nachfolgender Heimeinweisung oder Pflegestellenwechsel 22%. Insgesamt wurden 88 Pflegekinder zu ihren Herkunftsfamilien zurückgeführt, 18 davon sogar nach einer Pflegedauer von über 3 Jahren (vgl. Nielsen, 1990, S. 216).

In der Untersuchung »Strukturen der Vollzeitpflege in Niedersachsen« wurden von  217 im Jahr 2001 beendeten Hilfen in Pflegefamilien 11,1% geplante Rückführungen durchgeführt (vgl. Erzberger, 2003, S. 126). Von 239 dort untersuchten Pflegschaften wurden 24,3% mit Rückkehroption geplant (a.a.O. S. 118). Insgesamt 54 Kinder und Jugendliche sind nach Beendigung der Hilfe in die Herkunftsfamilie zurückgekehrt. „In 20% der Fälle kehrten die Kinder und Jugendlichen in stabile Verhältnisse ohne weiteren Unterstützungsbedarf zurück, 30% fanden stabile Familien vor, allerdings musste hier weiterhin eine Unterstützung gewährleistet sein, und 50% schließlich wechselten von der Pflegefamilie in instabile Verhältnisse ihrer Herkunftsfamilie.“ (a.a.O. S. 132)

Aus den Zahlen der Bundesstatistik, die Rückführungen von Pflegekindern zu Herkunftseltern nicht explizit erfasst, leitet Blandow eine Quote der ‚Rückkehrer’ von rund 20% - 30% ab (vgl. Blandow, 2004, S. 144).

Nach den Ausführungen des Familienrechtsexperten Salgo kehren 39 Prozent der Pflegekinder wieder in familiäre Verhältnisse zurück. Er bezieht sich bei dieser Aussage auf die Dokumentation der Kom-Dat Jugendhilfe (vgl. Rauschenbach, 1998) und vermutet, dass die Arrangements nach der Rückkehr in der Regel nicht stabil seien. Es gibt zwar keine gesicherten Erkenntnisse über anschließend notwendig werdende Fremdplatzierungen, jedoch Hinweise dafür, dass diese bei gut der Hälfte der betroffenen Minderjährigen eintreten. Die Fraglichkeit dieser Rückführungspraxis ergibt sich schon aus den Vorgeschichten der Fremdunterbringungen, nach denen wegen des intensiven Ausbaus der ambulanten Hilfen „...zunehmend solche Kinder und Jugendliche in Betracht kommen, die nicht mehr über familienunterstützende Hilfen erreicht werden können.“ (Salgo, 2001, S. 37)

III. Kasuistische Belege für die Problematik von Rückführungen

Elisabeth Garbe-Lehmann, Mitarbeiterin des Kinderschutzbundes Hannover, schilderte im »1. Jahrbuch des Pflegekinderwesens« die ‚gut geplante Rückführung’ ihrer Pflegetochter und die langfristigen negativen Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes. Die Rückkehr wurde nach einer 10-monatigen Verweildauer bei den leiblichen Eltern revidiert und Anna* zu den Pflegeeltern zurückgebracht. Die 21-jährige hat 16 Jahre nach diesem Ereignis mit dieser Vergangenheit noch immer nicht abgeschlossen (vgl. Garbe-Lehmann, 1998, S. 158f.). Sie erzählt heute von den traumatischen Erfahrungen während dieser Zeit, den daraus resultierenden Problemen im Alltag und bilanziert: „Wenn man bedenkt, dass mir diese Angst und die damit verbundene psychotherapeutische Behandlung mit großer Wahrscheinlichkeit erspart geblieben wären, hätte man mich in meiner Familie [Anm. Pflegefamilie] gelassen, so muss man feststellen, dass die Idee der Rückführung unverantwortlich war.“ (Lehmann, 1998, S. 18)  

Eine Fachanwältin aus Niedersachsen gibt im telefonischen Interview folgende Informationen über eine Klientin:
Lisa wurde im Alter von drei Jahren zu Pflegeeltern gegeben. Die Eltern hatten sie stark vernachlässigt und sind suchtmittelabhängig. Besuchskontakte fanden monatlich statt. Lisa bot eine Reihe von Verhaltensauffälligkeiten, besonders im Zusammenhang mit der Umgangsgestaltung. Im Alter von fünf Jahren wurde Lisa zu den leiblichen Eltern zurückgeführt. Die Entscheidung wurde vom Gericht gegen die Empfehlung des Jugendamtes und des Vormundes ausgesprochen. Nach der Rückführung in die Herkunftsfamilie musste Lisa dort wiederholt Gewalt erleben. Mutter und Ehemann seien drogenrückfällig geworden, die Ehe stehe kurz vor der Auflösung. Mittlerweile lebt die Mutter mit dem 7-jährigen Kind im Frauenhaus. Lisa wurde erst mit sieben Jahren eingeschult und erhielt während der Zeit davor keinerlei Förderung. Auch zur regulären Einschulungsuntersuchung wurde sie nicht vorgestellt. Lisa lebe in instabilen und ihre Entwicklung gefährdenden Verhältnissen. Das Scheitern sei laut Aussage der betreuenden Fachleute vorauszusehen.

Eine Sozialpädagogin, die Pflegeeltern begleitet, berichtet über zwei Rückführungen:
Fela wurde nach der Geburt in Pflege gegeben. Die Herkunftsfamilie gilt als  Multiproblemfamilie. Die Rückkehroption bestand von Anfang an. Die Hilfeplangestaltung  verlief unbefriedigend. Im Alter von einem Jahr wurde Fela zurückgeführt, veranlasst vom Jugendamt, den Eltern und besonders einer Familienhelferin. Heute ist Fela 18 Monate alt und lebt bei der leiblichen Mutter. Die Pflege des Kindes sichert eine Kinderpflegerin und darüber hinaus ist eine Familienhelferin im Einsatz. Die Mutter selbst habe nicht gelernt, wie man ein Kind versorgt. Außerdem habe sich an der desolaten Familiensituation nichts verändert. Ein negativer Verlauf sei schon jetzt erkennbar.

David kam im Alter von fünf Jahren in die Pflegefamilie. Die psychisch erkrankten Eltern besuchten ihn wöchentlich. Unabhängig von der Erkrankung wird die Familie als Multiproblemfamilie eingeschätzt. Bei David liegt keine psychisch diagnostizierte Krankheit vor, jedoch zeigt er Auffälligkeiten in Erleben und Verhalten, z.B. „war er nicht an Essen gewöhnt“ und „wollte immer mit dem Kopf durch die Wand“. Da die Pflegemutter die Hilfeplangestaltung als sehr unbefriedigend erlebte, nahm sie diese immer in Begleitung wahr. Die Rückführung wurde von Eltern und Jugendamt aufgrund eines kinder- und jugendpsychiatrischen Berichts veranlasst, als David acht Jahre alt war. Für David wurde bei der Rückführung eine Therapie verordnet, die aber nicht eingehalten wurde. Die Mutter hatte sich auch sonst nicht an die vereinbarten Auflagen gehalten. David war nach der Rückführung im Alltag oft sich selbst überlassen und in seiner Entwicklung zurückgefallen. Er spielt kein Instrument mehr, hat mit dem Sport aufgehört und bedauert den Verlust der Pflegeeltern.

Die Geschäftsführerin und Sozialarbeiterin eines großen Pflegeelternlandesverbandes teilt zu zwei dramatischen Rückführungen mit:
Yvonne wurde im Alter von sechs Wochen zu Pflegeeltern gegeben. Der ältere Bruder erhielt bereits Sozialpädagogische Einzelfallhilfe. Die Mutter war psychisch erkrankt und vernachlässigte das Mädchen. Die Rückführung wurde vom Gericht gegen die Empfehlung des Jugendamtes, aber mit Zustimmung der Einzelvormünderin angeordnet, als Yvonne dreizehn Monate alt war. Die Vormünderin betreute das Mädchen nach der Rückführung noch für eine Weile. Zwei Jahre nach der Rückführung wurde Yvonne in der leiblichen Familie schwer misshandelt und missbraucht. Sie ist heute fünf Jahre alt und lebt in einem Kleinstheim.

Bernd kam im Alter von 2½ Jahren zu Pflegeeltern. Der Unterbringung ging eine Sozialpädagogische Familienhilfe voraus. Er wurde vernachlässigt und war ein sehr unruhiges Kind. Der Vater war alkoholabhängig, die Mutter im Alltag oft überfordert. Besuchskontakte gab es monatlich.  Die Perspektive des Pflegeverhältnisses war unklar. Die Rückführung wurde gegen die Empfehlung des Jugendamtes vom Gericht angeordnet, als Bernd 4½ Jahre alt war. Über diese sehr dramatische Rückführung wurde in der Zeitschrift PATEN (Heft 1, 2000, S. 20ff.) ausführlich berichtet. Der heute 8-jährige Bernd musste 1½ Jahre nach der Rückführung wieder untergebracht werden und lebt jetzt in einer Erziehungsstelle.

Die Vorsitzende eines Landesverbandes für Pflege- und Adoptiveltern gab folgendes Interview:
Rainer kam im Alter von vier Jahren zu Pflegeeltern. Bereits vorher gab es eine Inobhutnahme und eine Unterbringung in Bereitschaftspflege. Der Junge wurde vernachlässigt und körperlich misshandelt. Die Eltern sind suchtmittelabhängig und psychisch erkrankt. Die Mutter hatte während der Schwangerschaft viel Alkohol getrunken, und bei Rainer wurde ein fetales Alkoholsyndrom (FAS) diagnostiziert, ebenso wie bei einem Geschwisterkind, das auch in Pflege gegeben wurde. Rainer war stark retardiert, kotete und nässte ein und war in der Sprachentwicklung stark verzögert. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht wurde der Mutter vom Familiengericht entzogen. Als Rainer sechs Jahre alt war, wurde die Pflege vom Jugendamt beendet und Rainer erneut in Bereitschaftspflege gegeben, mit dem Ziel der Rückführung zur Mutter, die dann auch durchgeführt wurde. Das Jugendamt gab trotz desolater Bedingungen eine positive Prognose ab, der das Gericht in seiner Anordnung folgte. Rainer lebt heute bei der alkoholabhängigen Mutter, die erneut schwanger ist und ihren Lebensunterhalt mit Prostitution bestreitet. Das Geschwisterkind lebt derzeit wiederholt bei Bereitschaftspflegeeltern.

Aus dem süddeutschen Raum berichtete eine Sozialarbeiterin über die Arbeit im dortigen Pflegekinderdienst, den sie 25 Jahre leitete:
Rückführungen bei Dauerpflege seien aus bindungstheoretischen Erwägungen konzeptionell nicht vorgesehen gewesen. Von 1991 bis 1994 kam es dennoch zu acht ungewollten Rückführungen, bei denen Kinder, die positive Bindungsbeziehungen zu ihren Pflegeeltern bereits entwickelt hatten, zu ihren leiblichen Eltern zurück mussten. In diesen acht Fällen wurde die Rückführung gegen die Empfehlung des Jugendamtes ausgesprochen und durchgeführt. Die weitere Entwicklung verlief bei all diesen Kindern ungünstig, 6 davon mussten zu einem späteren Zeitpunkt wieder untergebracht werden. Beispielhaft soll hier auf die ausführliche Falldarstellung im 3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens hingewiesen werden, der einige der folgenden Zitate entnommen sind:
„Trotz intensiver Betreuung einer alkoholabhängigen Mutter durch eine sozialpädagogische Familienhilfe, eine Erziehungsberatungsstelle und den Allgemeinen Sozialen Dienst musste ein 10 Monate alter Junge wegen akuter Gefährdung durch die Mutter fremduntergebracht werden. Der Vater war sehr an dem Jungen interessiert, konnte ihn jedoch nicht vor der Mutter schützen. Als das Baby aus dem elterlichen Haushalt genommen wurde, zeigte es keinerlei Trennungsreaktion. Seine ausdruckslose Mimik, seine traurigen Augen und sein Unvermögen, freundliche Kontaktversuche zu erwidern, ließen das Ausmaß der Beziehungslosigkeit und Mangelversorgung des Babys erahnen.... Er wurde nach 4 Wochen in eine Vollzeitpflegefamilie vermittelt, um eine zu starke Anbindung an die Bereitschaftspflegemutter zu verhindern. Die positive Entwicklung des Jungen setzte sich in allen Bereichen in der Pflegefamilie fort.... Die Besuche verliefen problemlos und in gutem Einvernehmen, bis die leiblichen Eltern den Antrag auf Rückführung des Kindes stellten. Zu diesem Zeitpunkt war der Junge 19 Monate alt. Es wurde eine Gutachterin eingeschaltet. Diese stellte fest, dass der Junge das Verhalten eines sicher an seine Bezugsperson gebundenen Kindes zeige. Sie führte aus, dass die bereits erfahrene Verunsicherung des Kindes und die klar erkennbaren Tendenzen, eigene Antriebe und Wünsche mit Vehemenz auszuleben, erhöhte Anforderungen an das pädagogische Geschick der Bezugspersonen stelle.... Einen Abbruch seiner zentralen emotionalen Beziehung könne der Junge ebenso wenig verkraften, wie ein unsicheres oder unausgeglichenes Erziehungsverhalten... Durch geschicktes Agieren der Mutter und ihrer Anwältin wurde die Glaubwürdigkeit des Richters, der Gutachterin und der zuständigen Sozialarbeiterin in Frage gestellt. Der Richter wurde als befangen erklärt, der nun zuständige Richter übernahm die Meinung der Mutter.... Der Richter beschloss zwecks ‚Bindungsanbahnung’ zunächst wöchentliche Besuche und dann eine Übernachtung bei den Eltern ... Die Rückführung erfolgte.... Bald berichtete der Kindergarten, dass der Junge wegen seines aggressiven Verhaltens in der Gruppe nicht tragbar sei. Der Junge ist jetzt 14 Jahre alt und besucht wegen seiner gravierenden Verhaltensauffälligkeiten eine Schule für Erziehungshilfe...“ (Zwernemann, 2004, S. 266ff.)

Die Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP) ist aus langjährigen Erfahrungen und Forschungen in ihrem Therapeutischen Programm für Pflegekinder (TPP) sehr skeptisch gegenüber Rückführungen (vgl. Eberhard, Eberhard, Malter, 2000, S. 28 f.). In den 25 Jahren ihrer Projektgeschichte gab es 3 Rückführungen gegen den Rat der Projektleitung und der Pflegeeltern. Alle drei nahmen einen sehr ungünstigen Verlauf. Eines dieser Schicksale wurde im FORUM, der Internetzeitschrift der AGSP, veröffentlicht (s.a. Erfahrungsbericht...):
„Im Februar 1988 nahmen wir den damals achtjährigen David in unsere Familie.... Er war der Mutter wegen deren fortgesetzten Alkoholmissbrauchs mit der Maßgabe entzogen worden, dass nach erfolgreicher Entziehungskur und nach langsamer Wiederannäherung ein erneutes Zusammenwohnen möglich wäre. Um es vorweg zu nehmen: dieses Kriterium erfüllte die Mutter während der acht Jahre seines Lebens bei uns nie; sie versuchte es nicht einmal. Ihren Beruf als OP-Schwester konnte sie seit Jahren nicht mehr ausüben, und meines Wissens ist ihr bis heute keine Berufstätigkeit mehr gelungen...... David entwickelte sich allmählich zu einem netten, allseits beliebten Kind, dem die Lernanforderungen der Schule keinerlei Probleme bereiteten... David bekam eine Gymnasialempfehlung... Dort machte er allerdings Bekanntschaft mit Drogen. Der gepflegte, lernwillige, ehrgeizige Junge, für den Abitur und nachfolgendes Studium selbstverständlich gewesen waren, der auch in der Wahl seiner Freunde wählerisch war, veränderte sich in wenigen Wochen dramatisch. Als wir ihm ins Gewissen redeten, seine Zukunft nicht mit Drogen zu gefährden, machte er uns mit seiner neuen Lebensphilosophie bekannt: er hätte jetzt erlebt, dass man auch ohne Beruf und ohne Arbeit durchs Leben kommen könne und das wäre nun sein neues Ziel. Wir kämpften beharrlich gegen die dramatische Persönlichkeitsveränderung.... Schon nach kurzer Zeit entzog er sich diesen Zumutungen, indem er nicht nach Hause kam und wir ihn mehrfach bei der Polizei als vermisst melden mussten...... Trotzdem wurde seinem Wunsch vom Jugendamt sofort nachgegeben: er durfte bei ihr [der Mutter] und ihrem ebenfalls alkoholabhängigen Lebenspartner einziehen. Unsere Warnungen an das Jugendamt und an die Mutter halfen nicht. Sie war euphorisch und ohne jeden Bezug zu den Schwierigkeiten, die ein pubertierender verhaltensgestörter Jugendlicher in ihr Leben bringen würde. Relativ bald prügelte er sich mit ihrem Lebensgefährten und wurde hinausgeworfen. Wir sind fest davon überzeugt, dass David in unserer Familie geblieben wäre, wenn die Möglichkeit, bei seiner Mutter unterzukriechen, vom Jugendamt mit der gebotenen Konsequenz verhindert worden wäre. Das Jugendamt brachte ihn in einem betreuten Wohnprojekt unter. Die Schule hat er seit seinem Weggang von uns nur noch unregelmäßig besucht. Er rutschte in die Dealerszene ab und wurde straffällig....“ (Frommann, 2005)

IV. Bilanz

Die hier vorgestellten Schicksale sind leider keine seltenen Ausnahmefälle. Die ungünstigen Verläufe waren vorhersehbar. Sie sagen aber nichts über das Verhältnis von misslungenen zu gelungenen Rückführungen. Dafür wäre eine empirische Untersuchung in möglichst vielen Jugendämtern erforderlich. Die erhebliche Relevanz einer solchen Untersuchung bedarf angesichts der beträchtlichen psychosozialen Konsequenzen und ökonomischen Kosten verfehlter Rückführungen keiner weiteren Begründung. Die Stiftung »Zum Wohl des Pflegekindes« ist bereit, dieses Anliegen zu unterstützen.

Christoph Malter (Juni, 2005)

 

Literatur:
Ahlers, Karin: Aufnahme und Verbleib der Pflegekinder – ein Vabanquespiel? In: Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“ (Hg.): 5 Jahre KJHG aus der Sicht des Pflegekinderwesens. Idstein, 1996, (232-238)

Blandow, Jürgen: Pflegekinder und ihre Familien. Weinheim, München, 2004

Dittrich, Cornelia; Preiss, Jeannette: Das Modellprojekt proFam – Erzieherische Hilfen im familiären Setting. In: Familien für Kinder gGmbH (Hg.): Update für das Pflegekinderwesen, Qualitätsanforderungen an erzieherische Hilfen im familiären Setting (Tagungsdokumentation). Berlin, 2002, (44-50)

Eberhard, Gudrun u. Kurt; Malter, Christoph: Intensivpädagogisches Programm: Ein Aktionsforschungs-Projekt für lebensgeschichtlich schwer geschädigte Kinder und Jugendliche in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien. In: PAN (Hg.) Paten, H.1, 2000, (28-29) 

Erzberger, Christian: Strukturen der Vollzeitpflege in Niedersachsen. Eine Untersuchung im Auftrag des Ministeriums für Frauen, Soziales, Familie und Gesundheit und der Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“. Bremen, 2003

Frommann, Karin u. Armin: Erfahrungsbericht über die Rückführung unseres Pflegekindes. In: FORUM (http://www.agsp.de/html/e11.html), 2005

Garbe-Lehmann, Elisabeth: Aus traumatisierten Kindern werden irgendwann einmal Erwachsene ... ! – Leben mit traumatisierten Kindern. In: Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“ (Hg.): 1. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Idstein, 1998, (146-171)

Hopp, Henrike: Das Medienspektakel und seine Auswirkungen (Presseschau). In: PAN (Hg.) Paten, H.1, 2000, (20-27)

Jacobi, Gert: Physische Schädigung durch Vernachlässigung und Misshandlung in früher Kindheit. In: Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“ (Hg.): Traumatische Erfahrungen in der Kindheit – langfristige Folgen und Chancen der Verarbeitung in der Pflegefamilie (Tagungsdokumentation). Idstein, 2005, (15-71)

Lehmann, Anne: Die Erinnerung an meine Kindheit verfolgt mich noch immer. In: Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“ (Hg.): 1. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Idstein, 1998, (16-19)

Nielsen, Heidi: Beendigung von Pflegeverhältnissen und die Folgen für die Betroffenen. In: Güthoff, F.; Jordan, E.; Steege, G. (Hg.): Hamburger Pflegekinderkongress „Mut zur Vielfalt“. Münster, 1990, (211-216)

Permien, Hanna: Rückführung von Pflegekindern in ihre Herkunftsfamilien. In: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich. Weinheim, München, 1987, (255-265)

Rauschenbach, Thomas (Hg.): Kommentierte Daten der Kinder und Jugendhilfe. Informationsdienst der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder und Jugendhilfestatistik.
1998, H. 2

Salgo, Ludwig: Zielorientierung und Hilfeplanung nach dem SGB VIII (KJHG). In: Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“ (Hg.): 2. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Pflegekinder in Deutschland – Bestandaufnahme und Ausblick zur Jahrtausendwende. Idstein, 2001, (36-67)

Sutter, Katharina: Rückführung von Kindern als Regelfall? Das Konzept des Berliner Modellprojektes ‚proFam’. In Bundesverband der Pflege und Adoptivfamilien (Hg.): PFAD Fachzeitschrift für das Pflege- und Adoptivkinderwesen. H.2, 2005 (43-46)

Zwernemann, Paula: Praxisauswertung und Fallanalysen über Besuchskontakte bei Pflegekindern. In: Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“ (Hg.): 3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Kontakte zwischen Pflegekind und Herkunftsfamilie. Idstein, 2004, (239-276)

 

* Dieser und die folgenden Namen wurden geändert

 

[AGSP] [Aufgaben / Mitarbeiter] [Aktivitäten] [Veröffentlichungen] [Suchhilfen] [FORUM] [Magazin] [JG 2011 +] [JG 2010] [JG 2009] [JG 2008] [JG 2007] [JG 2006] [JG 2005] [JG 2004] [JG 2003] [JG 2002] [JG 2001] [JG 2000] [Sachgebiete] [Intern] [Buchbestellung] [Kontakte] [Impressum]

[Haftungsausschluss]

[Buchempfehlungen] [zu den Jahrgängen]

Google
  Web www.agsp.de   

 

 

 

 

 

simyo - Einfach mobil telefonieren!

 


 

Google
Web www.agsp.de

 

Anzeigen

 

 

 

 


www.ink-paradies.de  -  Einfach preiswert drucken