FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2007

 

Bindungsstörungen - Grundlagen, Diagnostik
und Konsequenzen für sozialpädagogisches Handeln

Karl Heinz Brisch

 

Einleitung
Die Bindungstheorie wurde erstmals von John Bowlby formuliert, der als Psychiater und Psychoanalytiker in den 60er Jahren in London lebte. Diese Theorie besagt, dass ein Säugling bei seiner Geburt eine angeborene Motivation mitbringt, sich an einen Menschen zu binden, der für ihn zum sicheren emotionalen Hafen wird. Wann immer der Säugling Angst erlebt, etwa durch die Trennung von seiner Bindungsperson, werden seine Bindungsbedürfnisse aktiviert und er sucht aktiv die Nähe und den Körperkontakt zu seiner Bindungsperson. Körperkontakt beruhigt auf vorzügliche Weise das aktivierte Bindungssystem eines Menschen (Bowlby, 1975; Brisch, 1999).

Alle Menschen können potentiell für einen kleinen Säugling zur Bindungsperson werden. Es ist die vortrefflichste Aufgabe einer Bindungsperson, das Überleben des Säuglings zu sichern, der in jeder Hinsicht von dieser Bindungsperson abhängig ist. Dieses motivationale System „Bindung“ steht mit einem anderen motivationalen System, dem Erkundungssystem, in einem engen Wechselkontakt. Beide Systeme stehen wie auf einer Wippe zueinander in Bezug. Wenn etwa das Bindungsbedürfnis aktiviert ist, weil das Kind in einer pädagogischen Einrichtung Angst hat, kann Lernen nicht sehr ausgeprägt oder entspannt stattfinden. Bindungssicherheit ist eine Voraussetzung für kognitive und emotionale Lernprozesse. Ein Kind kann weder Klavier noch Geige spielen lernen, obwohl es eine begabte Geigen- oder Pianolehrerin neben sich sitzen hat, wenn es Angst vor der Lehrerin hat. Unter diesen Umständen ist sein Bindungsbedürfnis aktiviert und die Möglichkeit zur Exploration des Musizierens ist nicht sehr ausgeprägt. Auch wenn die Lehrerin technisch noch so perfekt und pädagogisch hervorragend ausgebildet ist, wird der Lernprozess eines Kindes miserabel schlecht sein, wenn die Lehrerin ihm Angst macht.

Umgekehrt, wenn sich in einem Kind ein Gefühl von Bindungssicherheit ausbreitet, weil die Angst sozusagen durch die Nähe zur Bindungsperson gedämpft wird und Beruhigung entsteht, kann Lernen besonders gut stattfinden. Dann ist ein Säugling oder ein Kind in der Lage, die Welt zu erkunden, in dem es sich von seinem Explorations- und Neugierverhalten leiten lässt. Mit einem inneren Gefühl von Bindungssicherheit kann man schließlich um die ganze Welt fahren und das Leben in seinen verschiedensten Varianten erkunden.

Die Entwicklung von Bindungssicherheit
Feinfühliges Interaktionsverhalten, etwa der Mutter, des Vaters oder einer Pädagogin, eines Pädagogen, fördert die Entwicklung einer sichern Bindung. Eine dialogische Sprache ist ebenfalls für die sichere Bindungsentwicklung förderlich. Mütter wie Väter sprechen mit ihren Säuglingen so, dass sie die Affektzustände des Säuglings benennen. Die Mutter sagt etwa: Meine Güte, hast du Hunger, bist du durstig, hast du eine Wut. Für kleine Säuglinge ist das emotionale Erleben insgesamt mit einer unspezifischen Stressreaktion verbunden, denn Säuglinge können verschiedene Affekte noch nicht sehr gut differenzieren. Viele Kinder, die in Jugendhilfeeinrichtung betreut werden, sind auf einem frühen Stadium der undifferenzierten Affektentwicklung stehen geblieben, da ihnen in den frühen Entwicklungsjahren feinfühlige Interaktionspartner fehlten, die mit ihnen sprachen, sich in ihre Affektwelt eingefühlt haben und ihren Affekten Worte gaben. Kinder sind ebenso auf feinfühlige Pädagoginnen und Pädagogen angewiesen, die diese Sprachfunktion übernehmen und verschiedene Affekte in ihrem spezifischen Kontext benennen. Der sprachliche Austausch muss in einem gewissen dialogischen Rhythmus und in einem bestimmten Zeitmuster erfolgen. Wenn Pädagogen einem 15jährigen, der sich nicht an Regeln gehalten hat, einen langen Vortrag halten, wird dieser nach wenigen Minuten abschalten und bestenfalls noch sitzen bleiben, wenn er freundlich ist. Ansonsten wird er nach drei Minuten provozieren, aggressiv werden, aufstehen und sagen: „Ich gehe!" Eine sichere Bindung zum Pädagogen wird sich auf diese Weise nicht entwickeln können (Ainsworth, 2003; Ainsworth und Bell, 2003).

Neben dem Dialog ist Blickkontakt von großer Bedeutung. Wenn Bindungsbeziehungen zwischen Mutter sowie Vater und Kind entstehen, oder auch zwischen Partnern, wird in bindungsrelevanten Situationen, etwa wenn Angst erlebt wird, früher oder später das Bedürfnis nach Berührung, der Suche nach Körperkontakt, Gehalten werden aufkommen. Ohne Berührung ist es auf die Dauer schwierig, eine sichere Bindungsbeziehung zu entwickeln, auch in Partnerschaften. Wenn ein Partner in USA lebt und der andere wohnt in Deutschland, ist es trotz Telefon und Emails oder Fotos vom anderen schwierig, eine sichere partnerschaftliche Bindung aufzubauen, da der Partner in angstvollen Krisensituationen nicht als sichere Basis mit Körperkontakt und realer Nähe als Unterstützung und sicher Basis erlebt werden kann. Genauso wenig können Kleinkinder, wenn sie etwa durch einen Sturz oder Fieber Angst erleben und nach ihrer Bindungsperson rufen, über ein Handytelefonat mit der Mutter ausreichend getröstet werden. In solchen Situationen erwarten und hoffen sie auf die reale Anwesenheit der Bindungsperson.

In Interaktionsstudien konnte man sehen, wie Mütter selbst mit ihren drei Monate alten frühgeborenen Säuglingen (um die Zeit der Frühgeburtlichkeit korrigiertes Alter) beim Wickeln mit feinfühlig auf vielen Ebenen interagieren können. Während der frühen Zeit der Inkubatorpflege haben diese Säuglinge ganz andere Interaktionserfahrungen gemacht. Die Interaktion zwischen Mutter und Säugling ist trotzdem sehr erfreulich feinfühlig, mit Blickkontakt, Berührung und positivem Affektausdruck und sehr intensivem Sprachaustausch von beiden Seiten. Diese Art der frühen feinfühligen Interaktion ist sehr hilfreich, damit sich sichere Bindungen entwickeln können, selbst bei sehr kleinen Frühgeborenen, mit sehr niedrigem Geburtsgewicht und vielen Entwicklungsrisiken (Schmücker u. a., 2005). Auch wenn die frühe Startzeit nicht so feinfühlig verläuft, besteht die Möglichkeiten, durch spätere feinfühlige Interaktionserfahrungen eine sichere Bindung zu entwickeln. Dies kann sich im Säuglingsalter, aber auch in der Adoleszenz bei Jugendlichen ereignen. Neue feinfühlige und emotional verfügbare Interaktionserfahrungen, die über einen längeren Zeitraum vorhersehbar sind und bei denen die Bindungsperson emotional für die Signale des Gegenübers verfügbar ist, helfen dem Gehirn vermutlich, sich neu zu strukturieren und es besteht nochmals eine neue Chance für eine sichere emotionale Entwicklung. Das Bindungssystem bleibt zeitlebens offen für neue Bindungserfahrungen und somit für Veränderungen. Dies ist besonders für die pädagogische Arbeit von großer Bedeutung, weil es Ziel dieser Arbeit ist, den Kindern und Jugendlichen mit Bindungsstörungen neue emotionale Erfahrungen in Beziehungen zu ermöglichen.

Bindungsqualitäten
Werden die Bedürfnisse des Säuglings in dieser von Ainsworth (1977) geforderten feinfühligen Art und Weise von einer Pflegeperson beantwortet, so besteht eine große Wahrscheinlichkeit, daß der Säugling zu dieser Person im Laufe des ersten Lebensjahres eine sichere Bindung entwickelt. Wenn man Säuglinge im Alter von einem Jahr in einer Trennungssituation von ihrer Bindungsperson untersucht, zeigen in nicht-klinischen Stichproben ca. 65% der Kinder mit 12 Monaten eine sichere Bindung an ihre Bindungsperson, etwa die Mutter, und ca. 65% an ihren Vater. Dies bedeutet, daß ein sicher gebundener Säugling seine spezifische Bindungsperson bei Bedrohung und Gefahr als „sicheren Hort“ und mit der Erwartung von Schutz und Geborgenheit aufsuchen wird. Wenn sich etwa die Mutter von ihm trennt und bei ihm Angst aufkommt, dann wird das Bindungsbedürfnis aktiviert und wir können beim Säugling Bindungsverhalten beobachten. Dies zeigt sich darin, dass er weint, ruft, der Mutter nachläuft, er sucht aktiv wieder Körperkontakt mit der Mutter, um sich schließlich auf ihrem Arm wieder rasch zu beruhigen (Ainsworth und Wittig, 2003).

Wird die Pflegeperson eher mit Zurückweisung auf seine Bindungsbedürfnisse reagieren, so besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, daß der Säugling sich an diese Pflegeperson mit einer unsicher-vermeidenden Bindungshaltung bindet (ca. 25% der Säuglinge). Ein unsicher-vermeidend gebundenes Kind wird in Notsituationen eher die Bindungsperson meiden oder nur wenig von seinen Bindungsbedürfnissen äußern. Es hat eine Anpassung an die Verhaltensbereitschaften seiner Bindungsperson gefunden, das heißt Nähewünsche werden von ihm erst gar nicht so intensiv geäußert, da der Säugling weiß, daß diese von der Pflegeperson auch nicht so intensiv mit Bindungsverhalten im Sinne von Schutz und Geborgenheit gewähren beantwortet werden. Dies führt aber zu einer erhöhten inneren Stressbelastung des Säuglings, die an erhöhten Cortisolwerten gemessen werden kann (Spangler, G. et al. 1995). Bindungsvermeidende Kinder verhalten sich scheinbar „cool“ in Angst machenden Situationen. Sie sind sehr beliebte Prototypen und viele Mütter wünschen sich solche Kinder, weil man sie schnell mal bei der einen oder anderen Betreuungsperson unterbringen kann und sie jeden fremden Babysitter scheinbar problemlos akzeptieren. Sie weinen nicht, rufen nicht, laufen nicht hinter der Mutter her und protestieren nicht. Vielmehr tun sie so, als sei etwa eine Trennung von der Mutter für sie gar kein Problem. Misst man dann aber Cortisol als Stresshormon im Speichel und im Blut, zeigen diese Kinder nach einer Trennungssituation maximalen Stress, obwohl sie bis zum ersten Lebensjahr schon gelernt haben, diesen nicht mehr zu äußern, was sie sonst evolutionsbiologisch eigentlich täten.

Werden die Signale manchmal zuverlässig und feinfühlig, ein anderes Mal aber eher mit Zurückweisung und Ablehnung beantwortet, so entwickelt sich eine unsicher-ambivalente Bindungstqualität (ca. 10%) zur Pflegeperson, zum Beispiel zur Mutter. Diese Säuglinge mit einer unsicher-ambivalenten Bindung reagieren auf Trennungen von ihrer Hauptbindungsperson mit einer intensiven Aktivierung ihres Bindungssystems, indem sie lautstark weinen und sich intensiv an die Bindungsperson klammern. Über lange Zeit sind sie kaum zu beruhigen und können nicht mehr zum Spiel ausgeglichener emotionaler Verfassung zurückkehren. Während sie sich einerseits an die Mutter klammern, zeigen sie andererseits aber auch aggressives Verhalten. Wenn sie etwa bei der Mutter auf dem Arm sind, strampeln sie und treten nach der Mutter mit den Füßchen, während sie gleichzeitig mit ihren Ärmchen klammern und Nähe suchen. Dieses Verhalten wird als Ausdruck ihrer Bindungsambivalenz interpretiert (Ainsworth und Wittig, 2003).

In der Bindungsforschung wird noch unterscheiden, ob ein Kind ein „organisiertes“ oder ein „desorganisiertes“ Bindungsmuster entwickelt hat. Die sicheren und unsicheren Bindungsqualitäten sind organisierte Bindungsmuster. Dies bedeutet, daß eine Mutter bei ihrem einjährigen Säugling genau weiß, wie er reagieren wird, wenn sie sich etwa von ihm trennt. Die Mütter können genau vorhersagen, ob ihr Kind weint oder ob es eher „cool“ im Sinne der unsicher-vermeidenden Bindungsqualität reagiert. Innerhalb des ersten Lebensjahres hat sich somit ein vorhersagbares Bindungsverhalten entwickelt, dem eine neurobiologische Repräsentation oder ein neuronales Muster zu Grunde liegt, das auch als ein „Inneres Arbeitsmodell von Bindung“ bezeichnet wird. Dieses legt fest, wie Bindungsverhalten zwischen einem einjährigen Säugling und seiner Bindungsperson reguliert wird.

Erst später wurde noch ein weiteres Bindungsmuster gefunden, welches als desorganisiertes und desorientiertes Muster bezeichnet wurde. Diese Kinder zeigen Sequenzen von stereotypen Verhaltensweisen, oder sie halten im Ablauf ihrer Bewegungen inne und erstarrten für die Dauer von einigen Sekunden. Dies wird dahingehend interpretiert, daß diese Kinder keine aktuelle Bindungsverhaltensstrategie zur Verfügung haben. Diese Kinder laufen manchmal auf die Mutter zu, wenn die Mutter nach einer Trennung wiederkommt, nach einer anderen Trennung laufen sie vor der Mutter davon, bleiben plötzlich stehen, geraten in tranceartige Zustände - und dieses wechselnde Verhalten ist nicht vorhersehbar. Ungefähr 15% - 20% der Kinder in unausgewählten Stichproben zeigen ein solches desorganisierte Bindungsmuster. Aus vielen Längsschnittstudien ist allerdings bekannt, daß bei unverarbeiteten Traumaerfahrungen der Eltern und manchmal auch bei Traumaerfahrungen der Säuglinge dieses desorganisierte Bindungsmuster auf bis zu 70% - 80% der Kinder ansteigen kann. Viele Kindern und Jugendliche, die in Pflegestellen und Heimen leben, zeigen solche desorganisierten Verhaltensweisen in bindungsrelevanten Situationen (Main und Hesse, 1992; van IJzendoorn u. a., 1999; Solomon und George, 1999).

Bindungsrepräsentation (Bindungshaltung) der Bezugsperson
Durch ein spezifisches, halbstrukturiertes Erwachsenen-Bindungs-Interview gelang es, auch einen Aufschluss über die Bindungshaltung der Erwachsenen zu gewinnen. Es fanden sich ähnliche Bindungsstile wie bei den Kindern.

Erwachsene mit einer sicheren Bindungshaltung können im Interview frei und in einem kohärenten Sprachfluss über ihre Erfahrungen von Bindung, Verlust und Trauer, die sie mit ihren Eltern und wichtigen Bezugspersonen erlebt haben, sprechen.

Erwachsene mit einer unsicher-distanzierten Bindungshaltung weisen zwischenmenschlichen Beziehungen und emotionalen Bindungen wenig Bedeutung zu.

Erwachsene mit einer unsicher-verstrickten Bindungshaltung zeigen im Interview durch eine langatmige, oft inkohärente Geschichte und Beschreibung ihrer vielfältigen Beziehungen, wie emotional verstrickt sie zum Beispiel mit ihren Eltern und anderen Beziehungen bis zum Erwachsenenalter noch sind.

Es wurde später noch ein weiteres Bindungsmuster in Zusammenhang mit ungelösten, traumatischen Erlebnissen gefunden, wie etwa nach unverarbeiteten Verlusten sowie nach Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen (Ainsworth und Eichberg, 1991; Lyons-Ruth und Jacobvitz, 1999; Schuengel u. a., 1996).

Bindungskontinuität zwischen den Generationen
Durch verschiedene Längsschnittstudien sowohl in Deutschland, als auch in den USA und in England konnte nachgewiesen werden, daß mit einer 75% Übereinstimmung sicher gebundene Mütter häufiger auch sicher gebundene Kinder haben, beziehungsweise Mütter mit einer unsicheren Bindungshaltung auch häufiger Kinder, die mit einem Jahr unsicher gebunden sind. Ähnliche Zusammenhänge, wenn auch nicht mit gleicher Intensität (nur 65% Übereinstimmung), fanden sich für die Beziehung zwischen der Bindungshaltung der Väter und der Bindungsqualität ihrer Kinder.

Diese Studien weisen auf eine Weitergabe von Bindungsstilen und -mustern zwischen Generationen hin. Die eigene Bindungshaltung der Mutter (bzw. des Vaters) beeinflusst ihr Verhalten gegenüber ihrem Säugling. Es konnte nachgewiesen werden, daß sicher gebundene Mütter sich auch in der Pflegeinteraktion mit ihren Kindern feinfühliger verhielten als dies unsicher gebundene Mütter taten. Die Mutter-Kind-Interaktion scheint ein wichtiger Prädiktor zu sein, aus dem heraus sich in Teilbereichen die Ausbildung der Bindungsqualität des Säuglings im ersten Lebensjahr erklären lässt (Brisch, 2003; Egeland u. a., 2001; Fonagy und Target, 2005; Brisch u. a., 2002).

Sichere Bindung als Schutzfaktor
Sichere und unsichere Bindungsentwicklungen sind noch keine Psychopathologie, sondern sie sind Schutz- und Risikofaktoren. Denn Kinder mit einer sicheren Bindung sind gegenüber psychischen Belastungen widerstandsfähiger, wie z. B. bei einer Scheidung der Eltern, die für viele Kinder eine große emotionale Belastung darstellt. Sicher gebundene Kinder haben bessere Bewältigungsmöglichkeiten, sie können sich selbst mehr Hilfe holen, sie fragen nach Hilfe, zeigen mehr gemeinschaftliches Verhalten, sind gerne mit anderen zusammen, leben lieber in Gruppen. Und, was ganz entscheidend ist, sie haben bessere Empathiefähigkeiten. Das heißt, sie können sich in Welt der Gefühle, Gedanken und Handlungsabsichten von anderen besser hinein versetzen. Kinder im Alter von 3-4 Jahren entwickeln in dieser Zeit im Kontext von Bindungsbeziehungen zum ersten Mal die selbstreflexive Fähigkeit, dass sie sagen können: „ich denke, dass du denkst, dass ich denke“; oder „ich fühle, dass du fühlst, dass ich fühle“; oder: „ich weiß, dass deine Denke und meine Denke und dass dein Fühlen und mein Fühlen ganz unterschiedlich sein können“. Jüngere Kinder gehen davon aus, dass alle Hunger haben, wenn sie selbst Hunger haben, oder dass alle müde sind, wenn sie selbst müde sind und ins Bett wollen. Manche Jugendliche, die in pädagogischen Heimen betreut werden, sind auf einem sehr frühen Stadium vor dem Erwerb dieser selbstreflexiven Fähigkeiten stehen geblieben und haben nie eine Empathiefähigkeit entwickelt. Diese ist aber eine Vorausbedingung, um befriedigende Beziehungen zu gestalten. Kinder mit sicheren Bindungen sind auch kreativer, aufmerksamer, haben eine bessere Ausdauer, sind flexibler, wenn sie Aufgaben lösen müssen, ihre Lern- und Gedächtnisleistungen und die Sprachentwicklung sind besser. Viele Kinder mit Bindungsstörungen dagegen haben auch Sprachentwicklungsstörungen (Brisch, im Druck; Brisch, 2000; Brisch und Hellbrügge, 2003; Hüther, 2003).

Bindungsstörungen
Wenn ein Kind in der frühen Entwicklungszeit traumatische Erfahrungen mit seinen potentiellen Bindungspersonen gemacht hat, die eigentlich für Schutz und Sicherheit zuständig sind, entwickelt es eine Bindungsstörung. Diese stellt eine schwere frühe Psychopathologie dar, die immer auch eine Gefährdung des Kindeswohls bedeutet. Viele Kinder in Heimen haben solche traumatischen Erfahrungen gemacht und leiden unter Bindungsstörungen. Ein Beziehungstrauma bedeutet, dass ein großer Stress erlebt wird, wenn Bedrohung und Angst bis zu Panik und Todesangst erlebt wird. Wenn die Eltern selbst die Kinder bedrohen, kann die Angst nicht gelöst werden, da die Kinder etwa vor ihren Eltern nicht fliehen können und auch Kampf als Notfallstrategie nicht zur Verfügung steht, da die Kinder in der Regel in jeder Hinsicht von ihren Eltern abhängig sind. Unter diesen Umständen entsteht eine massive körperliche Übererregung, die psychosomatische Reaktionen und Beschwerden zur Folge haben kann. Durch die extreme Stresssituation wird die Produktion von Hormonen wie etwa Cortisol angestoßen, die auf einem hohen Niveau langfristig fixiert bleiben kann. Diese Stresshormone machen bei einer Dauererregung Veränderungen im Gehirn, die dann als organisierte Verhaltensstörung in bindungsrelevanten Situationen beobachtet und als Bindungsstörungen diagnostiziert werden können. Es ist somit nicht nur eine Frage, ob man sich als Kind gut oder schlecht fühlt, vielmehr wirkt das Stresshormon Cortisol bei ständig hohen Werten im Gehirn neurotoxisch, so dass Gehirnzellen regelrecht abgebaut werden. Dies hat zur Folge, dass die Hirninnenräume größer werden und auch das Gehirnwachstum sich verlangsamt. Ein Kind, das wegen familiärer Gewalt traumatisiert wird, erlebt einen massiven Dauerstress, der neurobiologische Schädigungen zur Folge hat. Frühe Vernachlässigung hat sicherlich die schwerwiegendsten Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung und Gehirnreifung, obwohl man nicht unbedingt blaue Flecken, einen gebrochen Arm oder eine Schädelfraktur sieht.

In der klinisch psychotherapeutischen Arbeit sehen wir Kinder und auch Jugendliche mit ausgeprägten Störungsvarianten in ihrem Bindungsverhalten, die als Psychopathologie diagnostiziert werden. Zwei extreme Formen der reaktiven Bindungsstörung können auch nach ICD 10 klassifiziert und diagnostiziert werden: eine Form mit Hemmung (F 94.1) und eine mit Enthemmung (F 94.2) des Bindungsverhaltens (Brisch, 1999).

Eine Bindungsstörung sollte allerdings nicht vor dem 8. Lebensmonat wegen der in diesem Alter bekannten „Fremdenangst“, die eine entwicklungsbedingte Durchgangsphase mit Angst des Säuglings gegenüber Fremden ist, diagnostiziert werden. Die psychopathologischen Auffälligkeiten sollten mindestens über einen Zeitraum von 6 Monaten und in verschiedenen Beziehungssystemen beobachtet worden sein. Weitere, in den internationalen Klassifikationssystemen bisher nicht erfasste Formen von Bindungsstörungen können sich klinisch dadurch äußern, daß Kinder kein Bindungsverhalten (Typ I) zeigen. Auch in Bedrohungssituationen wenden sie sich an keine Bezugsperson, in Trennungssituationen zeigen sie keinen Trennungsprotest.

Eine weitere Form ist durch undifferenziertes Bindungsverhalten (Typ II a) gekennzeichnet. Solche Kinder zeigen eine soziale Promiskuität: sie zeichnen sich durch undifferenzierte Freundlichkeit gegenüber allen Personen aus. Sie suchen in Stresssituationen zwar Trost, aber ohne die Bevorzugung einer bestimmten Bindungsperson. Jeder, der sich in ihrer Nähe befindet, kann sie auf den Arm nehmen und trösten, auch eine absolut fremde Person.

Andere Kinder neigen zu einem deutlichen Unfallrisikoverhalten (Typ II b): in Gefahrensituationen suchen sie nicht eine sichernde Bindungsperson auf, sondern begeben sich vielmehr durch zusätzliches Risikoverhalten in unfallträchtige Situationen. Auf diese Weise mobilisieren sie das Fürsorgeverhalten etwa ihrer Eltern, die nur angesichts der massiven Unfallbedrohung oder realen Verletzung ihres Kindes adäquates Bindungsverhalten zeigen.

Eine weitere Form der Bindungsstörung drückt sich durch übermäßiges Klammern (Typ III) aus. Diese Kinder, obwohl schon im Vorschulalter, sind nur in absoluter, fast körperlicher Nähe zu ihrer Bezugs- und Bindungsperson wirklich ruhig und zufrieden. Sie sind aber dadurch in ihrem freien Spiel und in ihrer Erkundung der Umgebung entsprechend eingeschränkt, weil sie immer auf die Anwesenheit der Bindungsperson angewiesen sind. Sie wirken insgesamt sehr ängstlich und können sich kaum von ihrer Bindungsperson trennen, so daß sie in der Regel keinen Kindergarten besuchen oder außerhalb des familiären Rahmens bei anderen Kindern spielen können. Sie haben somit selten Freunde und wachsen von Gleichaltrigen sozial isoliert auf. Unvermeidlichen Trennungen setzen sie massiven Widerstand entgegen und reagieren mit größtem Streß und panikartigem Verhalten.

Andere Kinder wiederum sind im Beisein ihrer Bindungsperson übermäßig angepasst und in ihrem Bindungsverhalten gehemmt (Typ IV). Sie reagieren in Abwesenheit der Bezugsperson weniger ängstlich als in deren Gegenwart und können in der Obhut von fremden Personen besser ihre Umwelt erkunden als in Anwesenheit ihrer vertrauten Bindungs- und Bezugsperson. Besonders Kinder etwa nach körperlicher Misshandlung und bei Erziehungsstilen mit körperlicher Gewaltanwendung oder -androhung reagieren auf diese Art und Weise.

Bei einem weiteren Stil der Bindungsstörung verhalten sich Kinder oft aggressiv (Typ V) als Form der Bindungs- und Kontaktaufnahme. Solche Kinder haben zwar eine mehr oder weniger bevorzugte Bindungsperson, aber sowohl mit dieser als auch mit anderen Menschen nehmen sie über aggressive Interaktionsformen sowohl körperlicher als auch verbaler Art Kontakt auf. Dies führt aber in der Regel zur Zurückweisung, da der versteckte Bindungswunsch nicht gesehen wird. Auf diese Weise entsteht schnell ein Teufelskreis, der die zugrunde liegenden emotionalen Bedürfnisse verdeckt.

Manchmal ist die Bindungsstörung dadurch gekennzeichnet, daß es zu einer Rollenumkehr (Typ VI) kommt. Diese Kinder müssen dann für ihre Eltern, die zum Beispiel körperlich erkrankt sind oder an Depressionen mit Suizidabsichten und Ängsten leiden, als sichere Basis dienen. Diese Kinder können ihre Eltern nicht als Hort der Sicherheit benutzen, vielmehr müssen sie selbst diesen die notwendige emotionale Sicherheit geben. Dies hat zur Folge, daß die Ablösungsentwicklung der Kinder gehemmt und verzögert wird und eine große emotionale Verunsicherung besteht: Diese Kinder wenden sich in eigenen Gefahrensituationen und psychischer Not etwa nicht an ihre Bindungspersonen, da sie dort keine Hilfe erwarten, weil diese mit sich und ihren Bedürfnissen ganz beschäftigt sind und den Kindern vielmehr Grund zur Sorge geben.

Im Rahmen von Bindungsstörungen kommt es manchmal auch zur Ausbildung von psychosomatischen Störungen, wie etwa mit Schrei-, Schlaf- und Esssymptomatik im Säuglingsalter, oder auch zu ausgeprägten psychosomatischen Reaktionen im Kleinkindalter, wie etwa zur psychogenen Wachstumsretardierung bei emotionaler Deprivation (Typ VII) (Brisch, 2004; Brisch, in press).

Beispiele für Bindungsstörungen bei Säuglingen
Ein Kind mit einer so genannten undifferenzierten Bindungsstörung weint etwa, nachdem die Mutter im sogenannten „Fremde-Situations-Test“ den Raum verlassen hat. Als die fremde Person zunächst daraufhin den Raum betritt, lässt sich das Kind von einer Fremden trösten, sucht aktiv Körperkontakt und hört unmittelbar auf zu weinen. Als dagegen die Mutter den Raum betritt, verhält es sich ihr gegenüber deutlich bindungsvermeidend, indem es sich nur schlaff hochnehmen lässt und den Körperkontakt mit der Mutter deutlich abweist.

In einem zweiten Beispiel aus dem „Fremde-Situation-Test“, das ein Kind mit einer Bindungsstörung mit Hemmung des Bindungssystems zeigt, weint der Säugling nach der Trennung von der Bindungsperson und ist deutlich zusätzlich durch das Fokussierungsgeräusch der Kameras geängstigt. Als die Bindungsperson zurückkehrt, erwartet man, dass sich ihr Kind aktiv an sie wenden würde, um getröstet zu werden und somit in seinem aktivierten Bindungsbedürfnis wieder zur Ruhe zu kommen. Es wird aber deutlich, dass der Säugling seine Bindungsperson nicht als sichere emotionale Basis nutzen kann und vielmehr vor dieser Angst hat und in einen unlösbaren Konflikt gerät: er möchte sich einerseits an die Bindungsperson wenden, andererseits hat er Angst vor ihr und weicht immer weiter zurück. Das Kind ist und bleibt in hoher Alarmbereitschaft und es findet keine Lösung oder Beruhigung des erregten Bindungssystems statt.

Wenn Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter solche Bindungsstörungen entwickeln, verhalten sie sich auch als Jugendliche in Beziehungen oder bindungsrelevanten Situationen - etwa immer wenn sie Angst haben - ausgesprochen auffällig, indem sie verschiedene Verhaltensmuster der zuvor beschriebenen Bindungsstörungen zeigen können. Sie zeigen weniger prosoziales, und mehr aggressives Verhalten in Konfliktsituationen, sie präsentieren sich mit vielen psychosomatischen Störungen, geraten oft wieder in Missbrauchs- und Misshandlungskontexte. Als Eltern verhalten sie sich traumatisierend gegenüber ihren eigenen Kindern. Dramatisch ist, dass sie somit ihre eigene Bindungsstörung durch ihr Verhalten gegenüber ihren Kindern an die nächste Generation weitergeben. Es sieht so aus, als sei dieses Verhalten genetisch fixiert. Neue Bindungserfahrungen, die die Kinder etwa in einer neuen Pflegestelle oder in einer Psychotherapie mit neuen Bindungspersonen machen können, zeigen aber, dass das Verhalten veränderbar ist (Brisch und Hellbrügge, 2003).

Bindungsorientierte pädagogische Arbeit
Trotz oft schwieriger Arbeitsbedingungen gelingt es Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Institutionen und Pflegestellen, dass Kinder mit Bindungsstörungen durch die pädagogische bindungsorientierte Arbeit neue Erfahrungen machen können, die nicht die alten traumatischen Muster wiederholen. Diese schwierige und emotional sehr anstrengende beziehungsorientierte Arbeit verdient allen Respekt und alle Wertschätzung. Wenn ein Kind mit einer Bindungsstörung neu in eine Einrichtung kommt, hat es Angst und sein Bindungsbedürfnis ist oft maximal aktiviert. Angst ist ein ständiger Begleiter dieser Kinder in allen möglichen bindungsrelevanten Situationen. Diese Kinder mit Bindungsstörungen sind von ihrer emotionalen Entwicklung erst 1,5 oder 2 Jahre alt, obwohl sie biologisch etwa schon in der Adoleszenz sein können, so dass das emotionale Entwicklungsalter und das biologische Alter weit auseinanderklaffen. Mit ihrem aktivierten Bindungsbedürfnis richten sich die Kinder an die Pädagogin, den Pädagogen mit der Hoffnung, es möge sich für sie vielleicht erstmals im ganzen Leben eine neue Chance zu einer sicheren Bindungserfahrung eröffnen. Gleichzeitig haben sie aber auch große Angst, dass sich die alten Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch erneut wiederholen könnten. Dennoch gelingt es oftmals, dass bindungsfördernde, feinfühlige Erlebnisse möglich werden. Jede neue Interaktionserfahrung des Kindes mit einem Betreuer wird neuronal als Muster sozusagen „abgespeichert“ und registriert. Sind diese neuen Erfahrungen kontinuierlich und wiederholbar, gekennzeichnet von Feinfühligkeit, dialogischer Sprache, prompter Wahrnehmung und korrekter Interpretation der Beziehungssignale, werden Affekte vom Betreuer in Worte gefasst, geben feinfühlige, respektvolle Berührungen sowie Körperkontakt den gesuchten Schutz und Halt, ändert sich langsam das bindungsgestörte Verhalten und es entsteht auch auf der neurobiologischen Ebene ein neues inneres Arbeitsmodell von Bindung. Auf diese Weise kann eine Entwicklung von der Bindungsstörung zur Bindungsdesorganisation und später zur unsicherer bis sicheren Bindung unterstützt werden, auch wenn dieser Prozess lange Zeit in Anspruch nimmt. Aber jede noch so kleine Veränderung in Richtung Bindungssicherheit wäre ein Riesengewinn für Lernen, für Entwicklung und für Beziehungsfähigkeit des Kindes. Für diese Kinder wäre selbst ein neues unsicher-desorganisertes Muster statt einer früheren Bindungsstörung schon ein großer Gewinn, weil sie dann zumindest zeitweise in Angst machenden Situationen in ersten Ansätzen ein sicheres Bindungsverhalten zeigen könnten. Sobald sich die bindungsgestörten Kinder etwas sicherer fühlen - das ist manchmal erst nach mehreren Monaten zu beobachten - beginnen sie, ihre traumatischen Erfahrungen mit ihren Bindungspersonen zu reinszenieren. Wenn ein Kind mit seiner Bindungsperson in der Pflegestelle alte traumatische Situationen in Szene setzt, darf sich das Team ein Kompliment machen. Denn die Reinszenierung bedeutet, dass das bindungsgestörte Kind inzwischen soviel Vertrauen und Sicherheit verinnerlicht hat, dass es etwa seine Gewalt- und seine Missbrauchserfahrungen in Form von sexualisiertem und aggressivem Verhalten angstfreier zeigen kann. Das Kind vertraut darauf, dass das Team mit der Reinszenierung umgehen kann und keine Wiederholung der ursprünglich traumatischen Erfahrung ermöglicht. Wenn das bindungsgestörte Kind statt einer Wiederholung verschiedene emotionale Neuerfahrungen in der Beziehung erleben kann, weil das Team anders als erwartet handelt, ist dies sehr bedeutungsvoll und wird sicherlich auch im Gehirn „verankert“ werden. Viele konstante Neuerfahrungen dieser Art werden mit der Zeit zu einem generalisierbaren Muster, das schließlich auch neue Verhaltensweisen mit Spielkameraden außerhalb der Institution ermöglich, wie etwa in der Schule (Brisch, 2006; Brisch, 2004).

Prävention von Bindungsstörungen
Es wäre ein großer Gewinn, wenn möglichst viele Kinder eine sichere Bindungsentwicklung machen könnten und Bindungsstörungen auf dem Hintergrund von frühen traumatischen Erfahrungen vermieden werden könnten. Um dies zu erreichen, können wir Empathie und feinfühlige Verhaltensweisen der Bindungspersonen schulen, um auf diese Weise diese Teufelskreise von Gewalterfahrungen über Generation hinweg auch möglichst früh zu durchbrechen. Hierzu wurden von uns zwei Präventionsprogramme entwickelt (Brisch, im Druck).

Das Programm „Safe® - sichere Ausbildung für Eltern“ soll die sichere Bindungsentwicklung zwischen Eltern und Kind von Beginn an fördern. Hierzu werden Eltern ab der 20. Schwangerschaftswoche bis zum Ende vom 1. Lebensjahr insgesamt in zehn ganztägigen Seminaren unterrichtet. Hierbei lernen sie sehr viel über die Bindungsentwicklung ihres Säuglings und werden an Videobeispielen geschult, die Signale ihres Kindes besser zu lesen. Zusätzlich führen wir mit jeder Mutter und mit jedem Vater ein Bindungsinterview durch und analysieren, ob die werdenden Eltern unverarbeitete traumatische Erlebnisse haben, die ein potentielles Risiko darstellen, mit dem eigenen Kind wieder inszeniert zu werden. Während der Schwangerschaft können traumatisierte Eltern eine individuelle psychische Stabilisierung erhalten, und nach der Geburt bieten wir ihnen eine individuelle traumazentrierte Psychotherapie neben der Gruppenbegleitung an. Dieses Programm ist offen für alle Eltern aus allen sozialen Schichten, da die oben beschriebene Weitergabe von traumatischen Erfahrungen über Generationen in allen Familien vorkommen kann.

Ein weiteres Präventionsprogramm ist B.A.S.E* - Babywatching gegen Aggression und Angst für Sensitivität und Empathie.

In diesem Präventionsprogramm kommt eine Mutter mit einem Säugling einmal in der Woche für ca. 30 Minuten in den Kindergarten. Zu Beginn ist der Säugling erst wenige Wochen alt und die Mutter kommt mit ihm bis zum Ende des ersten Lebensjahres, wenn der Säugling läuft und seine ersten Worte spricht. Unter Anleitung von geschulten Erzieherinnen werden ca. 25 Kinder für eine halbe Stunde zur Mutter-Kind-Beobachtung angeleitet, während die Kinder im Stuhlkreis sitzen. Diese angeleitete Beobachtung schult die Empathiefähigkeit der Kinder und es können positive Verhaltensänderungen gesehen werden. Für viele Einzelkinder besteht zum ersten Mal die Chance, über die Dauer von einem Jahr ein Baby zu beobachten und sich empathisch in die Nöte, Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche und Ängste eines Babys und seiner Mutter einzufühlen. Diejenigen Kinder, die in diesen Babybeobachtungsgruppen waren, verhalten sich im Vergleich mit Kindern einer Kontrollgruppe nach einem Jahr weniger aggressiv, sind weniger ängstlich, verhalten sich kooperativer, sind flexibler, und holen sich eher Rat und Hilfe bei der Erzieherin. Dies zeigt, dass vermutlich die erlernten Empathiefähigkeiten von den Kindern auch auf die alltäglichen Interaktionen untereinander übertragen werden können und es zu einer Generalisierung der erlernten Verhaltensweisen kommt.

Zusammenfassung
Es wäre eine wünschenswerte Utopie, dass wir in Zukunft die Kompetenzen vieler Eltern schulen können, so dass sie emotional für die Sorgen und Nöte ihrer Kinder verfügbarer sind, weil sie die eigenen Traumata aus ihrer Kindheit möglichst verarbeitet haben. Dadurch könnten sie empathie- und beziehungsfähiger werden und möglichst ihre eigene, erworbene sichere Bindungsrepräsentation als Ressource für die Entwicklungsförderung einer sicheren Bindung ihrer Kinder nutzen.

Literatur:

Ainsworth, M. D. S. (1977): Feinfühligkeit versus Unempfindlichkeit gegenüber Signalen des Babys. In: Grossmann, K. E. (Hrsg.) Entwicklung der Lernfähigkeit in der sozialen Umwelt: Geist und Psyche. München (Kindler), S. 98-107.

Ainsworth, M. D. S. (2003): Feinfühligkeit versus Unfeinfühligkeit gegenüber den Mitteilungen des Babys (1974). In: Grossmann, K. E. und K. Grossmann (Hrsg.) Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowiby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Stuttgart (Klett-Cotta), S. 414-421.

Ainsworth, M. D. S. und S. M. V. Bell (2003): Die Interaktion zwischen Mutter und Säugling und die Entwicklung von Kompetenz (1974). In: Grossmann, K. E. und K. Grossmann (Hrsg.) Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowiby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Stuttgart (Klett-Cotta), S. 217-241.

Ainsworth, M. D. S. und C. G. Eichberg (1991): Effects on infant-mother attachment of mother's unresolved loss ofan attachment figure or other traumatic experience. In: Parkes, C. M., J.Stevenson-Hinde und P. Marris (Hrsg.) Attachment across life cycle. London, New York (Tavistock/Routledge), S. 160-183.

Ainsworth, M. D. S. und B. Wittig (2003): Bindungs- und Explorationsverhalten einjähriger Kinder in einer Fremden Situation (1969). In: Grossmann, K. E. und K. Grossmann (Hrsg.) Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowiby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Stuttgart (Klett-Cotta), S. 112-145.

Bowlby, J. (1975): Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. München (Kindler).

Brisch, K. H. (1999): Bindungsstörungen - Von der Bindungstheorie zur Therapie. 6. Auflage 2005. Aufl. Stuttgart (Klett-Cotta).

Brisch, K. H. (2000): Schutz- und Risikofaktoren für die Bindungsfähigkeit von Frühgeborenen - Grundlagen und präventive Psychotherapie. In: Koch-Kneidel, L. und J. Wiesse (Hrsg.) Frühkindliche Interaktion und Psychoanalyse. Göttingen (Vandenhoeck), S. 91-106.

Brisch, K. H. (2003): Child and adolescent psychiatric cinical practice: Interest of attachment theory in therapeutic processes. 12th Int. Congress of the European Society for Child and Adolescent Psychiatry. Developmental psychopathology-transmission and change., Paris, 29. September 2003.

Brisch, K. H. (2004): Der Einfluss von traumatischen Erfahrungen auf die Neurobiologie und die Entstehung von Bindungsstörungen. Psychotraumatologie und Medizinische Psychologie, 2,29-44.

Brisch, K. H. (2004): Störungsspezifische Diagnostik und Psychotherapie von Bindungsstörungen. In: Lehmkuhl, U. und G. Lehmkuhl (Hrsg.) Frühe psychische Störungen und ihre Behandlung. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), S. 135-152.

Brisch, K. H. (2006): Adoption aus der Perspektive der Bindungstheorie und Therapie. In: Brisch, K. H. und T. Hellbrügge (Hrsg.) Kinder ohne Bindung. Deprivation, Adoption und Psychotherapie. Stuttgart (Klett-Cotta), S. 222-258.

Brisch, K. H. (im Druck): Diagnostik und Intervention bei frühen Bindungsstörungen. In: Opp, G. und M. Fingerle (Hrsg.) Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz. 2. Auflage. Aufl. München (Reinhardt).

Brisch, K. H. (im Druck): Prävention durch pro- und postnatale Psychotherapie. In: Brisch, K. H. und T. Hellbrügge (Hrsg.) Die Entwicklung der Eltern-Kind-Bindung. Schwangerschaft, Geburt und Psychotherapie. Stuttgart (Klett-Cotta).

Brisch, K. H. (in press): Sleep and attachment disorders in children. In: Pandi-Perumal, S. R., M. Kramer und R. R. Ruoti (Hrsg.) Sleep and psychosomatic medicine. Abingdon (Taylor & Francis).

Brisch, K. H., K. E. Grossmann, K. Grossmann und L. Köhler (Hrsg.) (2002): Bindung und seelische Entwicklungswege. Grundlagen, Prävention, klinische Praxis. Stuttgart (Klett-Cotta).

Brisch, K. H. und T. Hellbrügge (Hrsg.) (2003): Bindung und Trauma. Risiken und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern. Stuttgart (Klett-Cotta).

Egeland, B. M., Bosquet und A. Levy (2001): Continuities and discontinuities in the intergenerational transmission of child maltreatment: Implications for breaking the cycle of abuse. In: Browne, K., H. Hanks, P. Straton und C. Hamilton (Hrsg.) The Prediction and Prevention of Child Abuse: A Handbook. New York (John Wiley & Sons).

Fonagy, P. und M. Target (2005): Bridging the transmission gap: An end to an important mystery of attachment research? Attachment & Human Development, 7, 333-343

Hüther, G. (2003): Die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen im Kindesalter auf die Hirnentwicklung. In: Brisch, K. H. und T. Hellbrügge (Hrsg.) Bindung und Trauma. Risiken und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern. Stuttgart (Klett-Cotta), S. 94-104.

Lyons-Ruth, K. und D. Jacobvitz (1999): Attachment disorganization: Unresolved loss, relational violence, and lapses in behavioralandattentionalstrategies. In: Cassidy.J. und P. R. Shaver (Hrsg.) Handbook of attachment Theory, research and clinical applications. New York, London (Guilford), S. 520-554.

Main, M. und E. Hesse (1992): Frightening, frightened, dissociated, or disorganized behavior on the part of the parent: A coding System for parent-infant interactions. Unveröffentlichtes Manuskript (5. Überarbeitung). University of California, Berkeley.

Schmücker, C., K. H. Brisch, B. Köhntop, S. Betzier, M. Österle, F. Pohlandt, D. Pokorny, M. Laucht, H. Kachele und A. Buchheim (2005): The influence of prematurity, maternal anxiety, and infants neurobiological risk on mother-infant interactions. Infant Mental Health Journal, 26,423-441.

Schuengel, C. M., H. van Uzendoorn, M. J. Bakermans-Kranenburg und M. Blom (1996): Unresolved loss, parental behaviorand attachment. Vortrag April 18-21,1996:

Solomon, J. und C. George (Hrsg.) (1999): Attachment disorganization. New York, London (Guilford).

van Uzendoorn, M. H., C. Schuengel und M. J. Bakermans-Kranenburg (1999): Disorganized attachment in early childhood: Meta-analysis of precursors, concomitants and sequelae. Development and Psychopathology, 11, 225-249.

in Blickpunkt Jugendhilfe, 3/2006 mit freundlicher Genehmigung des Autors

 

 

[AGSP] [Aufgaben / Mitarbeiter] [Aktivitäten] [Veröffentlichungen] [Suchhilfen] [FORUM] [Magazin] [JG 2011 +] [JG 2010] [JG 2009] [JG 2008] [JG 2007] [JG 2006] [JG 2005] [JG 2004] [JG 2003] [JG 2002] [JG 2001] [JG 2000] [Sachgebiete] [Intern] [Buchbestellung] [Kontakte] [Impressum]

[Haftungsausschluss]

[Buchempfehlungen] [zu den Jahrgängen]

Google
  Web www.agsp.de   

 

 

 

 

 

simyo - Einfach mobil telefonieren!

 


 

Google
Web www.agsp.de

 

Anzeigen

 

 

 

 


www.ink-paradies.de  -  Einfach preiswert drucken