FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2007

 

Das »forensische« und das »klinische« Kind - inkompatible Perspektiven?

Zur Auswirkung fraglicher Traumatisierung in der Kindheit
auf aussagerelevante Aspekte
des neuronalen Funktionsniveaus

 

von Michael Naumann-Lenzen

 

Zusammenfassung
Ausgewählte Ergebnisse der Entwicklungsneurologie sowie der Stress-, Trauma-, Gedächtnis- und Bindungsforschung werden referiert und gewürdigt im Hinblick auf ihre Relevanz für die aussagepsychologische Begutachtung der Veridikalität von kindlichen Aussagen zu fraglichen, strafrechtlich relevanten Ereignissen. Traumatischer Stress beeinträchtigt in vielfacher Hinsicht das neuronale Funktionsniveau und somit auch aussagerelevante Gedächtnisfunktionen. Die für psychotherapeutisches Handeln erforderlichen und hinreichenden Qualitätsstandards (Glaubwürdigkeit) einer Patientenaussage über ein therapeutisch relevantes äußeres Ereignis (sog. A-Kriterium) können sinnvollerweise geringeren Anforderungen genügen, als dies zwingend im Zuge einer forensischen Überprüfung erforderlich ist. An dieser Schnittstelle kommt es zwischen diesen beiden Sichtweisen zu einem Konflikt, für den bis dato noch keine zufriedenstellende Lösung in Sicht ist.

Problemstellung
»Die kindliche Aussage stellt die Forensik vor besondere Probleme. Der wesentliche Konflikt besteht darin, dass die Rechtsprechung eine primär verbale Domäne darstellt, während kindliche Kommunikation vornehmlich non-verbal ist - insbesondere, wenn es sich um die Mitteilung eines traumatischen Ereignisses handelt. Die Rechtsprechung bezieht sich auf das gesprochene Wort als das einzig wesentliche Element einer Narrative. Im Falle eines traumatisierten Kindes ist die wörtliche Narrative ein bloßer Schatten dessen, was das Kind mitteilt, während es das Ereignis erinnert. Die Vergegenwärtigung des traumatischen Geschehens beinhaltet für das Kind nicht nur die kognitiv abgerufenen, narrativen Sprengstücke, sondern ebenso die heftige Angst emotionalen Erinnerns sowie die im Erinnern aktualisierte Erregungsmotilität, schließlich die mit der State-Erinnerung legierte physiologische Erregung (oder die dissoziative Reaktion). Vor Gericht jedoch hat die spezifische Syntax, die Semantik und Grammatik dieser nicht kognitiven Äußerungen noch nicht das Gewicht, welches der Syntax, Semantik und Grammatik verbaler Mitteilungen eingeräumt wird. Ein Verständnis der Sprache des Traumas und die Übersetzung ihrer verbalen und non-verbalen Elemente wird viele weitere Jahre der Forschung benötigen.« (Perry, 1999, S. 14, Übers. und Herv. M.N.-L.)

Mit diesem pointierten Statement steckt der angesehene US-amerikanische Traumaforscher Bruce D. Perry das Problemfeld ab, innerhalb dessen zwei Berufsgruppen, die sich ex professione an unterschiedlichen Kriterien sowie Entscheidungs- und Handlungslogiken orientieren müssen, zur schwierigen Kooperation aufgerufen sind. Dies betrifft Fälle, wo es - bei zu überprüfendem Außenkriterium - um die forensische Beurteilung der Veridikalität von Aussagen über fragliche, strafrechtlich relevante Traumata geht. Im Gefolge zweier Grundsatzentscheidungen des 1. Strafsenats des BGH Ende der 90er Jahre (Dezember 98 zur psychophysiologischen Aussagebeurteilung: BGHSt 44/Juli 99 zur merkmalsorientierten Aussagebeurteilung: BGHSt 45, 164) ist um diese Frage eine heftige Kontroverse entbrannt, als deren gegensätzliche Exponenten stellvertretend von Hinckeldey und Fischer (2002) sowie Volbert (2004) genannt seien. Kurz gesagt plädieren von Hinckeldey und Fischer (2002, 176ff.), ganz im Sinne der Perry'schen Intention, für eine traumaadaptierte Modifikation aussagepsychologischer Kriterien, da nur so den besonderen Gegebenheiten traumaspezifischer Aussagetypik entsprochen werden könne. Volbert (2004, S. 140; ähnlich Steller (2002, S. 69 ff.) argumentiert demgegenüber: es gehe eben nicht darum, »ob eine fragmentarische, inkonsistente, in sich widersprüchliche Aussage mit bizarren Details auf einem tatsächlichen (gemeint ist: dem fraglichen, M. N.-L.) Erlebnis basieren kann, sondern ob es für die Aussage keine andere Erklärung gibt als einen tatsächlichen Erlebnisbezug. Aussagepsychologisch kann nämlich der Erlebnisbezug einer Aussage nur durch systematischen Ausschluß von Gegenhypothesen zur Wahrannahme belegt werden.« Deutlich wird hier das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Sichtweisen. Der klinischen Beurteilung entspricht, angesichts der Notwendigkeit der Realisierung von Behandlungsstrategien, ein Bias für die Opferperspektive, der juristischen hingegen die Täterperspektive mit ihrem klassischen und unverzichtbaren Prinzip der Unschuldsvermutung und des schrittweisen Ausschlusses von die Unschuldsvermutung stützenden Anhaltspunkten.

In diesem Beitrag sollen, mit besonderem Fokus auf die komplexe Traumatisierung bei Kindern, ausgewählte Befunde aus der Stress-, Gedächtnis- und Bindungsforschung zusammengetragen und gewürdigt werden im Hinblick auf ihre aussagepsychologische Relevanz. Damit soll Perrys Intention, zu einem besseren Verständnis der Sprache des Traumas zu kommen, aufgegriffen werden. Je präziser es künftig gelingen wird, zu unstrittigen Kriterien und Qualitätsmerkmalen zu kommen, um etwa eine veridikale Aussage von einer Pseudo- bzw. suggestiv induzierten Erinnerung zu unterscheiden, umso mehr wird dies zur Opfer- und Verfahrensgerechtigkeit beitragen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind wir von diesem Ziel reliabler Kriterien noch weit entfernt. Dies räumt auch Perry ein (ähnlich Streeck-Fischer et al., 2001, S. 21). Für klinische Zwecke mag ein eher niederschwelliger Grad von Plausibilität und Evidenz hinreichen, um dem sog. A-Kriterium (Außenkriterium) zu genügen. Die traumaspezifischen Aussagemerkmale jedoch, welche von Hinckeldey und Fischer (2002) versammeln, können, zumindest beim gegenwärtigen Stand der traumaspezifischen Gedächtnisforschung, die juristisch erforderliche Aussagequalität nur prätendieren, nicht aber wirklich einlösen.

Kindliche Entwicklung und erhöhte Vulnerabilität
Es liegen mittlerweile aus den verschiedenen Forschungsbereichen (Entwicklungsneurologie, Entwicklungsneuropathologie, Entwicklungspsychologie, Ethologie, Bindungsforschung) eine Fülle von Untersuchungen vor, die für die unterschiedlichen Funktionsbereiche das Paradigma erfahrungsbasierter, nutzungsabhängiger Genexpression belegen. Die nutzungsabhängige Reifung der »primitiven« Hirnareale ist mit dem Ende der intrauterinen Phase weitgehend abgeschlossen. Auch für diese Entwicklungsphase gilt, dass suboptimale Entwicklungsbedingungen - beispielsweise durch Teilhabe an der Stress-Intoxikation des mütterlichen host-Organismus - für erhebliche Varianz in der klinischen Auffälligkeit des Säuglings post partum verantwortlich sind. Bereits intrauterin kann die Selbstorganisation des Gehirns somit schädigenden Milieubedingungen unterworfen sein, die seine eigendynamische Reifung beeinflussen.

Die gesteigerte Rezeptivität für extrauterine Milieueinflüsse und deren Umsetzung in eine organismische Antwort wird, nach dem Verlust des relativen Reizschutzes im Mutterleib, durch die Ausreifung der sensorischen Eingänge realisiert. Ein eindrucksvoller Beleg für den Charakter des Gehirns als eines »offenen Systems« d. h. für seine erstaunliche und evolutiv so erfolgreiche Anpassungsfähigkeit ist die genetische Programmierung auf eine zunächst »verschwenderische« Überproduktion von Nervenzellen. Dies eröffnet dem Gehirn die Möglichkeit flexibler Responsivität angesichts wechselnder Anpassungsnotwendigkeiten. Im Zuge nachfolgender Lernkonditionierung werden dann bestimmte Erwartungs- und Reaktionspräferenzen gebahnt und fixiert, andere funktionell vernachlässigt und schließlich getilgt. Man spricht in diesem Zusammenhang insoweit von »neuronalem Darwinismus«, als diese Tilgung den Abbau der nicht durch Nutzung stabilisierten Nervenzellen, Synapsen etc. beinhaltet. Die regulierenden Prinzipien sind also: »use it or lose it« bzw. »cells that fire together, wire together«.

Diese »nutzungsabhängige Entwicklung des Gehirns« (Perry et al. 1995) ist für die Zeit der frühkindlichen Reifung und Entwicklung, vornehmlich der ersten drei Lebensjahre, von herausragender Bedeutung. In diesem Zeitraum hat das Gehirn etwa 90 % seines späteren Volumens erreicht (sog. brain-spurt) und die wesentlichen Systeme und Strukturen herausgebildet, welche das spätere mentale Funktionsniveau implementieren. Diese Periode einzigartig raschen Wandels mit ihren im Reifungsplan verankerten sog. kritischen und sensiblen Phasen ist jedoch gleichzeitig eine Periode einzigartig erhöhten Risikos bzw. gesteigerter Vulnerabilität. Abnorme Erfahrungen in diesem frühen Lebensabschnitt (z. B. traumatische Vernachlässigung, Gewalterfahrungen) nehmen hier direkten Einfluss auf die Herausbildung der physischen Mikroarchitektur des Gehirns, der basalen, subliminalen Funktionsmechanismen, insbesondere jedoch der höheren assoziativen, frontokortikalen Steuerungskompetenzen (Schore, 1994) und führen, wie weiter unten noch ausgeführt wird, zu gravierenden, multiplen Störungsbildern. Dies gilt umso mehr, je früher, andauernder und heftiger (Belastungsgradient) die Inzidenz dieser abnormen Erfahrungen ist. Durch ihre gleichsam »hard-wired-Qualität« sind diese früh erworbenen Bahnungen gegen spätere Umkonditionierung vergleichsweise resistent. Im Hinblick auf die zu erwartenden, nachteiligen Folgewirkungen macht es somit einen erheblichen Unterschied, ob eine extrem stressreiche Erfahrung ein ausgereiftes oder ein reifendes Gehirn trifft.

Dieser Umstand beleuchtet aus entwicklungsneurologischer Sicht die gesetzlich verankerte besondere Schutzbedürftigkeit kindlicher Reifung und Entwicklung und begründet den Auftrag an den Gesetzgeber, im Einzelfall für entwicklungsdienliche Rahmenbedingungen Sorge zu tragen (Recht auf angemessene Entwicklung). Dieses Recht sollte im Zweifelsfall, d.h. wenn etwa nicht mit hinreichender Sicherheit vorausgegangene und mögliche zukünftige Schädigungen des Kindes durch z. B. einen Elternteil ausgeschlossen werden können, gegenüber dem Recht dieses Elternteils auf Zugang zum Kind prioritär behandelt werden. Dies muss deshalb gelten, da die wahrscheinlichen Folgewirkungen einer für die Zukunft nicht auszuschließenden Handlung gegenüber dem Kind für die Entwicklung des Kindes aus den genannten entwicklungsneurobiologischen Gründen wesentlich schwerer und nachhaltiger wiegen als die Folgen aus einem Verzicht auf Zugang zum Kind für einen Elternteil.

Bindungsdesorganisation, Dissoziation
Das Gelingen kindlicher, biopsychischer Entwicklung und Reifung ist eingebettet in und abhängig vom äußeren, ökologischen, d.h. Bindungsmilieu. Dessen wesentliche Determinante besteht in der Qualität von Schutz, Pflege, Zuwendung und optimaler Stimulation durch die primären Bezugspersonen, vornehmlich die Mutter. Die Mutter-Kind-Dyade stellt gleichsam ein »maßgeschneidertes Biopsychosoziotop« wechselseitiger Anpassung dar, in welchem die kindliche neuronale Entwicklung optimal entwicklungsförderliche Bedingungen vorfinden kann. Die mütterlichen Pflegeleistungen wirken wie Katalysatoren bzw. Regulatoren im hormonellen Rückkoppelungssystem des Kindes, mittels dessen die Genexpression gesteuert wird. In welchem Ausmaß der Verlust dieses primären Schutzes bei Tieren wie Menschen zu schwerwiegenden, neuronalen Entwicklungsstörungen führt, ist vielfach dokumentiert. Der Säugling etwa aktiviert den distress cry als angeborene Bewältigungsstrategie, die, sofern sie nicht angemessen beantwortet wird, nach kurzer Zeit in Erschöpfung mündet und damit das weitere Aufschaukeln der initialen Stressreaktion verhindert. Diese Erschöpfung kann jedoch zur physiologischen Basis späteren dissoziativen »Abschaltens« werden und durch Wiederholungen zu dem »implizit gewussten/gefühlten« Schema generalisieren: Unfähigkeit zu Selbstregulation (Selbst-Ebene) ineins mit Unzuverlässigkeit von wichtigen Bezugspersonen in Stress-Situationen (relationale Ebene). Es kommt zu einer Beeinträchtigung des Empfindens von Selbst-Wirksamkeit (Stern, 1985) (»ich kann durch eigene Aktivität innere und äußere Gegebenheiten erfolgreich beeinflussen«) und in der weiteren Entwicklung ebenso des Zutrauens in den Sinn des Erwerbs weiterer Kompetenzen (Exploration, Spiel, Erwerb von Wissen). Selbst unter dem milden Stress (z.B. einer bewältigbaren Herausforderung) verharrt ein derart konditioniertes Gehirn dann oftmals in der initialen Notfallreaktion, da rechtshemisphärisch orbitofrontale Impulshemmungsmechanismen allenfalls schwach ausgebildet wurden (Schore, 1994). Diese Mechanismen wären aber die Voraussetzung dafür, dass über die Aufrechterhaltung des Aufmerksamkeitsfokus zieladaptiertes Verhalten nicht kollabiert.

Kindliche, komplexe Traumatisierung geschieht per definitionem im (erweiterten) familialen Milieu. Das handlungsstrategische Dilemma eines Kindes, dem körperliche und/oder psychische Gewalt seitens einer primären Bindungsperson widerfährt, wird eindringlich im Konzept der Bindungsdesorganisation oder -desorientierung beschrieben (Überblick bei Solomon & George, 1999): Die Person, welche der Hort der Zuflucht vor Bedrohung sein sollte, ist gleichzeitig die Quelle von Bedrohung, Schmerz und Angst für das Kind. Naturalistische Szenen aus der psychotherapeutischen Praxis liefern hierfür mitunter eindrucksvolle Beispiele und sollten die Aufmerksamkeit des Klinikers wecken für mögliche Bedrohungsfaktoren im familialen Milieu des Kindes, die weiter verfolgt werden sollten:

    Carla, 4 ½ J. alt, wurde mir zur diagnostischen Abklärung wg. Pavor nocturnus und Kontaktstörungen im Kindergarten gegenüber Gleichaltrigen und Erziehern (»unzugänglich«) vorgestellt. Während der Exploration mit dem Story Completion Task (Bretherton et al., 2001) oszillierte sie zwischen Verstummen, Unfähigkeit zu einem spontanen Lösungsvorschlag, läppischen oder mehreren widersprüchlichen und einer katastrophischen Lösung. Keine einzige Lösung war auch nur ansatzweise realitätsangepasst. Als ihre Mutter an der Tür läutete, um sie abzuholen, zuckte sie zusammen und ging abrupt über zu facialer Spannungsregulation (Finger vor den Mund und in den Haaren bei gesenktem Kopf) bei deutlich ansteigender körperlicher Unruhe. Als die Mutter den Raum betritt, rutscht Carla, von der Mutter abgewandt, vom Stuhl und bleibt mitten in der Bewegung, in einer verdrehten Körperpositur, »hängen«. Als die Mutter sie anspricht, dreht Carla sich ihr zu, hebt die Hände über den Kopf in einer Geste, die halb Schutz, halb Arme-öffnen-in-Richtung-Mutter kombiniert und geht, seitwärts (nicht frontal), auf sie zu. Dabei strauchelt sie und fällt ihrer Mutter, die sie gerade noch auffängt, in die Arme. Es folgt ein kurzes Wimmern. Die Mutter setzt sich, Carla sitzt zunächst wie »eingefroren«, dann im weiteren etwas steif auf ihrem Schoß, hat sich aber scheinbar wieder beruhigt. Ihr Blick scheint mir »leer«. Als ich sie direkt anspreche, wirkt sie wie abwesend und antwortet erst, als die Mutter sie anstupst. Nach kurzer Zeit entfernt sich Carla von der Mutter, nimmt sich >Tempo Kleine Schnecke!< aus dem Regal und spielt, mit dem Rücken von der Mutter abgewandt. Carla scheint nun wieder das defensiv gebundene Kind zu sein - hätte es nicht diese kaum eine Minute andauernde Episode gegeben, die mich mit weiteren diagnostischen Hinweisen zu einer Desorganisations-Klassifikation (D) bewogen.

Einerseits versammelte diese kurze Episode m. E. eindrucksvoll einige Merkmale von desorganisiertem/desorientiertem Bindungsstil und validierte insofern die Hypothesen, welche die Ergebnisse des »Story Completion Task« nahelegten. Andererseits erkannte ich in der kurzen Sequenz, als Carla auf dem Schoß der Mutter wie abwesend (»spaced out«) wirkte, deutlich, dass Bindungsdesorganisation und passagere Dissoziation im Fall von Carla verschiedene Aspekte einer umfassenden, unbewussten Strategie der Mentation und Verhaltensdesorganisation darstellten. In der weiteren Exploration konnte der Verdacht auf das Vorliegen einer komplexen Traumatisierung erhärtet werden im Sinne des A-Kriteriums und es kam schließlich zu einer Herausnahme von Carla aus ihrer Herkunftsfamilie. Allerdings kam es wegen geringer Erfolgsaussichten zu keiner Anklageerhebung, jedoch zu einer Aussetzung des Umgangsrechts für die Eltern, für das betroffene Kind unter den gegebenen Umständen das Optimum des erreichbaren Schutzes.

Diese Aussetzung des Umgangs- und Besuchsrechts halte ich in vielen vergleichbaren Fällen (ohne rechtskräftige Verurteilung mutmaßlicher Täter) für den Schutz der weiteren Entwicklung des Kindes aus dem folgenden Grund für wesentlich: Da ein traumatisiertes Gehirn bei traumaassoziierten sensorischen Hinweisen seine Fähigkeit einbüßt, zwischen realer und nicht-realer Gefahr zu unterscheiden (z.B. bei begleitetem Umgang), kann es bei weiteren Begegnungen mit dem mutmaßlicher Täter (ohne eine »reale« Gefährdung) dennoch zu einer Retraumatisierung und damit zu einem wesentlichen Rückschritt im laufenden Heilungsprozess kommen. Für den Therapeuten, der das Kind in diesem Prozess unterstützt, kann dies erarbeitete Therapieergebnisse wieder zunichte machen.

Bindungsdesorganisation findet sich mit hoher Prävalenz in Hochrisiko-Populationen: Carlson et al. (1989) fanden dies zutreffend für 80% eines Samples misshandelter Kinder - was einem weiteren, prospektiven Untersuchungsbefund (Lyons-Ruth & Block, 1996) entspricht, wo sich Kindesmisshandlung als stärkster Prädiktor für eine D-Klassifikation erwies. Spangler und Grossmann (1999) fanden in einer vergleichbaren Gruppe von Kindern die vergleichsweise höchsten Stress-Index-Werte (Cortisol/Herzfrequenz). Prävalenzstudien zeichnen folgendes Bild: In einer Metaanalyse [(van Ijzendoorn et al., 1999) 80 Studien mit 6282 Eltern-Kind-Dyaden und 1285 als desorganisiert klassifizierten Kindern] betrug in der nicht-klinischen Stichprobe der Anteil an Kindern mit desorganisiertem Bindungsmuster 15%, mit einer Varianz von 25-34% im Unterschichtanteil. In den klinischen Stichproben fand sich der höchste Anteil an D-Kindern (48-77%) bei misshandelnden Eltern, gefolgt von Kindern drogen- und alkoholabhängiger Mütter (43%) und schließlich mit 35% bei Kindern mit neurologischen Störungsbildern.

Der Zusammenhang von kindlicher Traumatisierung und Dissoziation wird vielfach in der Literatur beschrieben. Sowohl in klinischen als auch nicht-klinischen Stichproben, ebenso wie in einer Metaanalyse über 38 Studien findet sich diesbezüglich (retrospektiv) eine positive Korrelation (Gast, 2003). Um die Hypothese eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen kindlicher Traumatisierung und Dissoziation zu überprüfen, wurden prospektiv-längsschnittliche Studien durchgeführt; auch dort fand sich kindliche, komplexe Traumatisierung als signifikanter Prädiktor für u.a. spätere Dissoziation. Auch kindliche Bindungsdesorganisation erwies sich als prädiktiv für spätere Dissoziation. Ebenso konnte in einer Reihe von Studien der Zusammenhang zwischen Dissoziativer Identitätsstörung DIS (früher Multiple Persönlichkeitsstörung) und vorgängiger Traumatisierung übereinstimmend und hochsignifikant etabliert werden [früh einsetzende, lang andauernde, schwere Traumatisierung: sexuelle Gewalt, körperliche und emotionale Misshandlung, extreme Vernachlässigung (Gast, 2003, S. 85f.]).

Nicht in jedem Fall jedoch indizieren dissoziative Störungsbilder eine eigene traumatische Vorerfahrung. Es liegen gut dokumentierte Fälle vor über die transgenerationelle Weitergabe traumatischer Vorerfahrungen, beispielsweise in der Elterngeneration (Holocaust). Aus der Bindungsforschung ist bekannt, wie es zu einer gleichsam Sekundärtraumatisierung (manifest als Bindungsdesorganisation) bei Kindern von Müttern mit eigener, »ungelöster« und oft nur implizit verfügbarer Traumatisierung kommen kann (Hesse & Main, 2002; Lyons-Ruth et al., 2002). Die Transmissionswege funktionieren in diesen Fällen - analog dem Phänomen subliminaler Angstansteckung - über die Aktivierung sog. Spiegelneuronen, die in großer Anzahl u.a. im limbischen System vorkommen (Bauer, 2005).

    Ein 9-jähriger Junge wird vorgestellt wegen Schulangst (Schulabsenz), die seit etwa 3 Monaten andauert. Die Exploration fördert keine erkennbaren äußeren Auslöser zutage. Im anamnestischen Gespräch mit dem KV ergibt sich folgendes: der KV war im selben Alter, in dem der Pat. sich bei Krankheitsausbruch befand, Opfer einer subjektiv als lebensbedrohlich erlebten Bedrohung durch einen Mitpatienten während eines dreiwöchigen Krankenhausaufenthaltes. Er hatte bis dato keinem davon berichtet. Diese Begebenheit fällt dem KV plötzlich mit heftiger Abreaktion und unter Tränen ein, während er schildert, wie er üblicherweise morgens den Pat. zur Schule verabschiedet und ihm hinterherschaut, wie er das Haus verlässt. Herausgearbeitet wird der Zusammenhang der damaligen Begebenheit (mit traumatischer Valenz) zur (1) späteren Berufswahl des KV, die es ihm ermöglichte, »zu Hause zu bleiben« (wo es sicher ist) und (2) zu seiner ihm nun bewussten Angst, »dort draußen« sei auch der Pat. nicht sicher. Der KV nimmt daraufhin eine traumatherapeutische Intervention erfolgreich in Anspruch. Die Schulangst des Indexpatienten klingt rasch ab, ohne dass seine direkte Behandlung erforderlich wird. - Klinisch scheint hier die Hypothese der transgenerationellen Weitergabe durch die mutative Wirkung der Intervention bestätigt (weitere Beispiele vgl. etwa Gast 2003, 94f.).

Der Abgleich von Befunden an der Schnittstelle von Trauma- und Bindungsforschung (Lyons-Ruth et al., 2002; Hesse & Main, 2002; Liotti, 1995; Naumann-Lenzen, 2003) hat gezeigt, dass die bindungsdesorganisierte Antwort des Kindes auf das o. e. handlungslogische Dilemma als Vorläufer späterer dissoziativer Prozesse eingeordnet werden kann und insgesamt als vorrangiger Prädiktor gravierender, späterer Pathologie angesehen wird. Bindungsdesorganisation beeinträchtigt den normalen, orbitofrontalen Konnektionismus zu wesentlichen mentalen Schaltkreisen, auf deren Funktionstüchtigkeit die basalen Fähigkeiten der Affekt-, Impuls- und Stressregulation gründen, sowie der Empathiefähigkeit und der Fähigkeit zur Mentation (Theory of Mind) (Schore, 1994, 2003a, 2003b). Daraus resultieren erhöhte Stress-Reaktanz bzw. eingeschränkte Stress-Modulationsfähigkeit. Dies bewirkt oft eine gesteigerte Abhängigkeit von »regulierenden« Menschen oder Substanzen. Im chronifizierten Verlauf ist Bindungsdesorganisation assoziiert mit PTBS sowie einer Fülle von komorbiden, v. a. Persönlichkeits-Störungsbildern (z.B. Herman et al., 1989; Fiedler, 2003) und psychosomatisch-vegetativen Erkrankungen (Nijenhuis, 2004).

Pathologische Dissoziation gehört, wie erwähnt, zu den wesentlichen symptomatologischen Folgemerkmalen komplexer kindlicher Traumatisierung. Sie tritt umso ausgeprägter in Erscheinung, je früher, langanhaltender und auswegloser das traumatogene Erleben in der Ontogenese einsetzt. Im Angesicht einer unabwendbaren, traumatischen Erfahrung stellt die Fähigkeit zur peritraumatischen Dissoziation zunächst einen ultimativen Schützmechanismus des Gehirns gegen das Erleben von Schmerz dar. Diese Notreaktion begünstigt jedoch, dass sich das Gehirn, insbesondere bei zunehmend erwartungskonformer, traumatischer Bedrohungswiederholung, diese Strategie als »erfolgreich« im Verhindern, des Schlimmsten merkt - gemäß der Devise: »wenn ich schon nicht verhindern kann, dass es wieder passieren wird, so kann ich doch versuchen, meine schmerzhaften Empfindungen dabei abzuschalten«. Dies führt allmählich dazu, dass im Alltag auch mindere, trauma-assoziierte Stressoren die habituierte Zuflucht zu dieser Strategie triggern. Dissoziation verhindert die integrative Assoziation normalerweise zusammengehöriger Informationseinheiten und behindert und/oder zerstört dergestalt das Gelingen von zutreffender Informations-Enkodierung und
-Abruf (Putnam, 1997). In gradueller Abstufung werden die verschiedenen Facetten ganzheitlichen Erlebens und Wiedererlebens (Empfinden, Fühlen, Kognition, Verhalten) auseinander gerissen, kompartmentalisiert, ruiniert/verzerrt/überschrieben oder in Teilaspekten reinszeniert als Verhalten. Im aussagepsychologischen Ergebnis haben wir es demzufolge mit einem dergestalt (teil-)zerstörten »Text« zu tun, der wie ein antikes Palimpsest nach Möglichkeit wiederhergestellt werden muss hinsichtlich Kohärenz, Erlebnisbezug und textimmanenter Schlüssigkeit.

Kognition
Auch die kognitive Kompetenz komplex traumatisierter Kinder ist gegenüber nichtklinischen Vergleichsgruppen deutlich verschlechtert - ein Umstand, der sich in vielfacher Hinsicht auch im qualitativen Niveau des Aussageverhaltens geltend macht. In prospektiven Studien konnte gezeigt werden (Egeland et al., 1983), dass Kinder missbrauchender und vernachlässigender Eltern im Vergleich mit einer Kontrollgruppe bereits recht früh ein eingeschränktes kognitives Funktionsniveau aufweisen (Retardierung in Spracherwerb und -ausdruck; Defizite in IQ-bezogener Performanz wurden in mehreren Untersuchungen repliziert). Insgesamt sind missbrauchte und vernachlässigte Kinder hochsignifikant überrepräsentiert im Spektrum intellektueller Entwicklungsstörungen. Folgerichtig schneiden sie in vielen Untersuchungen zum Schul- und Lernerfolg ebenfalls vergleichsweise schlecht ab, ebenso wie bezüglich zahlreicher weiterer Parameter, die direkt oder indirekt das kognitive Funktionsniveau und den Lernerfolg mitbestimmen oder als Indikator dafür gelten (Frustrationstoleranz, Spannungsbogen, Konzentration, Disziplin, Inanspruchnahme von Lernförderung, Schulabbruch und -abschluss).

Neurobiologischer Reifungsplan und posttraumatische Anpassung
Neurobiologische Entwicklungswege vollziehen sich entlang genetisch fixierter (»hard-wired«) Reifungsprogramme, die zu ihrer Auslösung und Stabilisierung externer Stimuli bedürfen. Gemäß dem Prinzip der Epigenese präjudiziert hierbei das bereits erworbene das nachfolgende Funktionsniveau innerhalb einer funktionellen neurologischen Einheit.

In den ersten Lebensmonaten sind lediglich Hirnstamm und Mittelhirn (Locus coeruleus, Corpus callosum) hinreichend ausgereift, um basale Körperfunktionen sowie Aufmerksamkeitsregulation zu bewerkstelligen (ANS autonomes Nervensystem, Sympathikus-Parasympathikus-feed-back). Frühkindliche Deprivation greift direkt in dieses homöostatische Gleichgewicht ein und kann zu dessen lebenslanger Destabilisierung führen mit dem Ergebnis, dass späterhin auch geringe Stressoren zu Alarm-Reaktanz führen.

Im Kleinkindalter durchlaufen diejenigen neuronalen Netze einen Reifungsschub, die das Erkennen nützlicher Information (Thalamus, somatosensorischer Kortex), das Erkennen (Amygdala) und die defensive Beantwortung (Insula) potentieller Gefahren, die Konstruktion einer sinngebenden Ordnung von Information (Hippocampus) sowie die Koordination zielgerichteter Reaktionen (ventrales Tegmentum, Corpus striatum) unterstützen. In dieser Phase kommt es zu einem allmählichen Übergang von rechts- (Fühlen, Empfinden) zu linkshemisphärischer Dominanz (Sprachkompetenz, abstrakte Kognition und sequentielle Informationsverarbeitung, langfristiges Planen). Das Kleinkind differenziert jetzt seine Fähigkeiten der Diskriminierung und selektiven Beantwortung von Stimuli.

Traumatisches Erleben beeinträchtigt tiefgreifend die funktionelle Integration (Zusammenarbeit) der beiden Hemisphären, insbesondere die Fähigkeit zu sicherer, stressbezogener Stimulusdiskriminierung und -beantwortung. Dies erklärt die »unzutreffende« Art und Weise, wie traumatisierte Kinder auf geringe - und oft nur weitläufig gefahrenassoziierte - Stressoren reagieren: ihr Gehirn lässt sich täuschen in Bezug auf das raum-zeitliche Vorliegen von Gefahr/Bedrohung. Darüber hinaus befindet es sich subliminal in einem Zustand erhöhter Vigilanz und Hyperreaktivität oder es neigt zu dissoziativem Abschalten und hypotonischer Aufmerksamkeits-Dämpfung. Es kommt so zu einer Schädigung linkshemisphärischer Fähigkeiten (analytische Kompetenz) und das Individuum lernt, in der Selbst- und Weltorientierung auf eher primitive (Reiz-Reaktion-basierte) Schemata zurückzugreifen (z.B. Bipolarität von unkontrollierter Wut vs. unkontrollierter Hilflosigkeit). Im Langzeitverlauf kommt es zu einer Entgleisung der basalen Fähigkeiten zur Selbstregulation; dies generalisiert schließlich auf affektiv-kognitive Selbst-, Fremd- und Weltkonzepte.

In der mittleren Kindheit und Adoleszenz findet ein Reifungsschub im limbischen System (aufgrund fortschreitender Myelinisierung) sowie insbesondere in denjenigen neuronalen Strukturen statt, die wichtige Voraussetzungen des »executive functioning« bereitstellen im Bereich der Autonomieentwicklung und der Partnerschaftskompetenz. Dies betrifft: (1) die Fähigkeiten zur reflektierten Selbstwahrnehmung (self-monitoring, self-reflective function, theory of mind) und zum Eingehen reifer Beziehungen (anteriores Cingulum oder mittig umgürtete Zentralfurche); (2) die Fähigkeit zur differenzierten Beurteilung komplexer emotionaler Beziehungen (orbito-frontaler Kortex); schließlich (3) die Fähigkeit zur Planung zukünftige Handelns  auf der Grundlage von Lernen aus Erfahrung sowie die Fähigkeit zum  Perspektivwechsel in der Beurteilung der Motivlage von Mitmenschen (dorsolateraler präfrontaler Kortex). Der rasche neuronale Wandlungsprozess in der Adoleszenz bewirkt   eine relative Destabilisierung und somit eine erhöhte Vulnerabilität für Stressoren. Andererseits fördert kontrollierbarer Stress Resilienz und neuronale Synergie, sowie die  Performanz in wesentlichen Verhaltensbereichen (z.B. Neugier/Exploration, Angstkontrolle, Pflegeverhalten).

Affekt: Regulation, Erkennen, Ausdruck
Ebenso wie die biobehaviorale Affektregulation erlernt wird, über deren externale Modulation durch die primäre Bezugsperson, wird innerhalb dieser Matrix auch das stimmige Erkennen eigener und fremder Affekt-States und deren Darstellung, Signalisierung, erlernt. Darüber wird zunehmend Sicherheit in der sozialen Orientierung erworben. Die erlebten Fremdzuschreibungen sind hierbei zentral. Drei Parameter beeinflussen hierbei das erworbene affektive Funktionsniveau des Kindes: (1) Sicherheit, (2) Feinfühligkeit (sensitive responsiveness) des Gegenüber und (3) angeborene und/oder erworbene Beeinträchtigung der Fähigkeit, effektive Erfahrung zu modulieren. Kinder, die früh und anhaltend Gefahr ausgesetzt waren, weisen erhebliche Einschränkungen auf in ihren Fähigkeiten zur Affektregulation, zum Affektlabeling und Affektausdruck, da ihnen kein kontingenter Erfahrungskontext zur Verfügung stand. In unserem Zusammenhang (Qualität der Aussage des Kindes) sind die Beeinträchtigung des zutreffenden effektiven Labelings und die verminderte Fähigkeit zur Affektregulation insofern von besonderer Bedeutung, da diese Mängel interferieren können mit der Fähigkeit zur Konstruktion einer in sich stimmigen, kohärenten Narrative. Warum kommt der posttraumatisch entgleisenden Affektregulation eine derart zentrale Bedeutung zu? Dies liegt in der synergetischen Verschaltung des limbischen Systems, als der affektprozessierenden funktionellen Einheit, mit dem restlichen Gehirn begründet. Aktuelle Theorien über die neurobiologischen Grundlagen von Affekt/Emotion deuten darauf hin, dass das limbische System (Orbito-frontalkortex, anteriores Cingulum, Hippocampus, Amygdala) keine klar definierbaren Grenzen hat, sondern ins gesamte Gehirn projiziert. Man geht mittlerweile davon aus, dass eine limbische Funktionsbeeinträchtigung (als zentrales posttraumatisches Charakteristikum) die Fähigkeit zur neuronalen Integration der an verschiedenen neuronalen >Orten< anfallenden unterschiedlichen Informationsmodi schädigt - also z.B. die Integration der unterschiedlichen sensorischen mit propriozeptiven und kognitiven Erlebensaspekten. Diese integrative Leistung lässt sich auch beschreiben im Rahmen der bihemisphärischen Integration, die durch Traumatisierung beeinträchtigt wird. Im posttraumatischen Status findet sich häufig eine hohe rechtshemisphärische Aktivierung (autonoetisches Bewusstsein, Abruf autobiographischer Erinnerungen). Eine kohärente Narrative bedarf jedoch der parallelen linkshemisphärischen Aktivation, um per linear-logischer Kognition etwa zutreffende Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu etablieren. Wir erkennen somit, dass ein suboptimales limbisches Funktionsniveau das Einspeichern und den Abruf der »korrekten« Gesamtgestalt einer Erlebenseinheit schädigen kann - und dies kann die Wiedergabe des Erlebten im Sinne der geforderten Qualitätsmerkmale einer Aussage erheblich beeinträchtigen.

Kontrollierte und unkontrollierte Stressantwort des Organismus
Die primäre Stressantwort des Organismus besteht in einer Erhöhung des Blutdrucks und der Herz- und Atemfrequenz, des Muskeltonus und des Blutzuckerspiegels, sowie einer Mobilisierung der Fettreserven. In einer ersten Reaktion kommt es zur Aktivierung subkortikaler (v. a. Amygdala und Hippocampus), nachfolgend erst kortikaler Zentren. Im Gefolge dieser Reaktion kommt es zu einer vermehrten Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter und Neuromodulatoren, zur Aktivierung des sympathischen Nervensystems und der HPA-Achse (sog. Stress-Achse). Damit einher geht eine globale Veränderung von nutritiven, hormonellen und metabolischen Einflüssen auf das Gehirn. Die damit erzielte Erhöhung von Aufmerksamkeits- und Aktivationspotentialen stellt eine für den Notfall anpassungsdienliche Reaktion des Organismus dar.

Kontraproduktiv (»neurotoxisch«) wird diese neuroendokrine Reaktion erst dann, wenn sie auf Dauer gestellt wird infolge des Scheiterns der Antwort auf eine Bedrohung. Diese Daueraktivation der Stresskaskade beinhaltet die Dauerstimulierung bzw. niederschwellige Aktivierbarkeit der HPA-Achse, führt zu einer langfristigen Erhöhung des bluteigenen Glukokortikoidspiegels und zu einer direkten Aktivierung von Glukokortikoidrezeptoren im ZNS, mit weitreichenden Konsequenzen für die betreffenden Nerven- und Gliazellen, was seinerseits zu einem Entgleisen gegenregulatorischer, homöostaseorientierter Mechanismen führt. Dies wiederum beeinflusst die Genexpression neuronaler Zellen, die Produktion und Abgabe von Wachstumsfaktoren, die Projektion dendritischer und axonaler Fortsätze, die Ausbildung dendritischer Spines und synaptischer Kontakte und befördert so den Aus- und Umbau neuronaler und synaptischer Verschaltungen.

Zur Frage der traumainduzierten Hippocampus-Atrophie liegen uneinheitliche Befunde vor; in einer Studie (De Bellis et al.r 2001) über missbrauchsinduzierte PTBS bei Kindern konnte keine im Vergleich zu einer Kontrollgruppe abweichende Hippocampus-Entwicklung festgestellt werden. Auch die oft erwähnte verminderte Aktivierung des Broca-Sprachareals unter Trauma-Stimulierung fand sich nicht generell bestätigt. In einer weiteren Studie (De Bellis et al., 1999) an missbrauchten bzw. misshandelten Kindern wurde eine Beeinträchtigung der Entwicklung bestimmter Regionen des Corpus callosum gefunden. Am deutlichsten zeigt sich in den Befunden allerdings immer wieder das bei PTBS-Patienten erhöhte Aktivierungsniveau im limbischen System (insbes. Amygdala). Wiederholt wurde auch eine verminderte Aktivierung des Gyrus cinguli (Aufmerksamkeitsfokussierung, Fehler-Monitoring) gefunden. All diese Befunde werden in Verbindung gebracht mit den für das posttraumatische Störungsbild charakteristischen Amnesien und Hypermnesien.

Gedächtnis, Gedächtnisstörung
Die für unseren Zusammenhang beiden wichtigsten Gedächtnissysteme, die bislang in der Literatur beschrieben wurden, sind das implizite und das explizite Gedächtnis (exG). Im impliziten Gedächtnis (iG) werden vor allem emotions-, wahrnehmungs-, verhaltensbezogene sowie somato-sensorische Informationen abgelegt. Die dafür erforderlichen Systeme (bestimmte limbische Bereiche, Basalganglien, motorischer und sensorischer Kortex) sind bei Geburt vergleichsweise gut entwickelt und einsatzfähig und erfordern zu ihrer Aktivierung keine fokale Aufmerksamkeit. Deshalb eignet impliziten Erinnerungen auch nicht die Signatur willkürlichen Aufrufs, wie dies bei expliziten Erinnerungen der Fall ist. Explizite Erinnerungen können erst nach dem ersten Lebensjahr, wenn es zu einer hinreichenden Ausreifung bestimmter Areale (wie z.B. des Hippocampus und des medialen Temporallappens) gekommen ist, produziert und kurze Zeit »online gehalten« werden. Im iG konsolidieren sich Erinnerungen zu Erwartungsmustern, Aktivationspotentialen und Rumpf-Handlungsprogrammen - was die grundlegende biologische Funktion des Gehirns beleuchtet, Überleben zu sichern (»the brain is an anticipation machine in the face of survival«).

Das exG beinhaltet sowohl sog. semantische (Faktenwissen), als auch episodisch-autobiographische Erinnerungen. Neuroimaging-Studien deuten darauf hin, dass das episodische Gedächtnis (epG) von zahlreichen Gehirnarealen funktional gestützt wird, die erst in der Vorschulzeit soweit ausreifen, dass mit der Ausbildung kohärenter autobiographischer Erinnerungen gerechnet werden kann (die späterhin großteils der normalen kindlichen Amnesie anheimfallen). Zu den beteiligten Arealen gehört vor allem der rechte Orbitofrontalkortex und die mit ihm verbundenen Teile des präfrontalen Kortex. Daran gekoppelt ist der Erwerb autonoetischen Bewusstseins, das dem Kind die Möglichkeit eröffnet, sich als identisches Subjekt selbstreflexiv zu erleben und als solches sich in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu imaginieren.

Die Konsolidierung von Gedächtnisinhalten im exG durchläuft verschiedene Stadien: beginnend mit einer initialen und kurzen Verweildauer im sensorischen Gedächtnis, gefolgt von einer etwa 30-sekundigen Kodierung im Kurzzeitgedächtnis KZG und dem konsolidierenden Übergang in das Langzeitgedächtnis LZG, von wo die Information noch nach Jahren aus dem assoziativen Kortex abgerufen werden kann - wobei erneuter Abruf den Informationsgehalt verändern kann, was uns weiter unten noch beschäftigen wird. Vom Traum (REM-Schlaf) nimmt man an, dass er ebenso zur Konsolidierung, aber auch zur Reorganisation (Überarbeitung) der Erinnerung im LZG beiträgt.

Tulving (1995) schlug ein sog. SPI-Modell der Gedächtnissysteme vor, demzufolge Information (1) seriell (S) eingespeichert (so muss episodische Information zunächst semantisch enkodiert sein, damit sie episodisch abgelegt werden kann), (2) parallel (P) abgelegt wird in verschiedenen Speichermodalitäten und schließlich (3) unabhängig (I, independent) von der Form ihrer Enkodierung über assoziierte Bahnungseffekte in einem anderen Gedächtnismodus aufgerufen werden kann. Traumatisierte Patienten sind oft bezüglich dieses flexiblen Wechsels zwischen den Gedächtnismodalitäten »blockiert«, um sich vor dem psychischen/physischen Schmerz bestimmter Erinnerungen oder Erinnerungsaspekte zu schützen. Eine kohärente und einen Erlebnisbezug über bestimmte Indizien validierende Narrative kann dadurch erheblich korrumpiert oder gar disqualifiziert werden. In vielen Untersuchungen ergab der Vergleich der Erinnerungen an traumatische Ereignisse bei Personen mit und ohne PTBS einen höheren Grad der Desorganisation dieser Erinnerungen bei der PTBS-Kohorte.

Von erheblicher Bedeutung ist weiterhin die Frage, ob Erlebnisse aus der präverbalen bzw. pränarrativen Lebensphase späterhin in einer sprachlichen Form reproduzierbar sind. Hierzu liegen mehrere Studien vor. Generell geht man derzeit davon aus, dass dieser Transfer nicht möglich ist; dort, wo eine verbale Mitteilung vorlag, war nicht auszuschließen, dass diese auf Mitteilungen von dritter Seite basierte, also eine Pseudoerinnerung darstellte. Ein erster Transfer ist etwa (Ereigniszeitpunkt) ab dem zweiten Lebensjahr möglich. Für die Erinnerung an traumatische Ereignisse, die in die verbale Lebensphase fallen, scheinen die sonst auch gültigen Gesetzmäßigkeiten für die Erinnerungen an saliente Ereignisse zu gelten: das Kerngeschehen bleibt erhalten, Peripheres unterliegt einem Wandel.

Unter dem Begriff der funktionellen (retrograden) Amnesien (Markowitsch, 2001) werden verschiedene, nicht-organisch bedingte, dissoziative Amnesien zusammengefasst. Diese können u.a. Trauma-induziert sein.

    Eine 17-jährige Patientin, vorstellig wegen u.a. anorektischer Beschwerden, Selbstverletzendem Verhalten SW und weiteren Verhaltensmerkmalen aus dem Borderline-Spektrum, zeigt in der anamnestischen Befragung eine ausgedehnte Amnesie für die Zeit zwischen ihrem 7.-13. Lebensjahr. Nach der Aufforderung, alte Fotos und Gegenstände aus dieser Zeit zu sichten, ohne nach etwas Bestimmtem zu suchen (also nicht-intentional bezogen auf irgendeine Hypothese, sondern nur durch das übliche anamnestische Procedere begründet) präsentiert sie in der Folgestunde das Foto eines Onkels, ohne damit, außer vagen sensorischen Anmutungen (Globusgefühl, Atembeklemmung, leichter Ekel), eine umschriebene Erinnerung verbinden zu können. Das fokussierte Verweilen bei dieser Empfindung fördert schließlich einen Schwall episodischer Erinnerungen zutage, welche die Vermutung nahe legen, dass in diesem Zeitraum massive sexuelle Gewalt an der Patientin durch den Onkel, aber auch durch den Großvater verübt wurde. Zusätzliche Plausibilität erhielt diese Hypothese durch den Umstand, dass der Onkel im 13. Lebensjahr der Patientin nach Süddeutschland verzog und der Großvater im selben Zeitraum schwer erkrankte und innerhalb kurzer Frist verstarb. Der »Eingang« in die Wiedergewinnung der Erinnerung wurde gebahnt über sensorisch-implizite, mnestische Residuen, basierend auf Ekel, Erstickungsängsten, Würgegefühl, die mit fraglichem oralem Missbrauch assoziiert sein konnten.

Markowitsch (2001) postuliert aufgrund eigener und fremder Untersuchungen ein stressreaktives, mnestisches Blockadesyndrom, welches die Aktivität weitgestreuter, gedächtnissensitiver Hirnregionen blockiere. Diese Blockade resultiere aus einem veränderten Hirnmetabolismus im Bereich der Glukokortikoidausschüttung mit der Folge einer neuronalen Gewebsdegeneration in Arealen mit entsprechend hoher Rezeptordichte (insbes. Anteriorer Temporallappen, hippocampale Formation, Amygdala), sowie veränderter Aktivität der HPA-Achse. Die Untersuchungsergebnisse bzgl. eines mehrfach postulierten Zusammenhangs von Hippocampus-Degeneration und fragmentierter bzw. blockierter Erinnerung sind bis dato allerdings so divergent, dass sie keine eindeutige Schlussfolgerung zulassen. Übereinstimmung besteht jedoch hinsichtlich der prinzipiellen Faktizität dieses Wirkmechanismus: dass nämlich massive Stresszustände zu z.T. ausgedehnten retrograd-amnestischen Blockaden führen können. Forensisch muss dies jedoch in jedem Einzelfall per Erlebnisbezug nachgewiesen werden. Ob es zu einer post-traumatischen Amnesie kommt, hängt dabei von verschiedenen Variablen ab. Genannt werden hier: ontogenetischer Zeitpunkt des Erlebens, Inzidenzschwere und -häufigkeit sowie besondere ereignisimmanente Merkmale (z.B. Drogen, rituelle Gewalt etc.), schließlich Zugang zu internalen und Milieu-Ressourcen.

Für die Revision einer Amnesie gilt die Faustregel: nur das kann bewusst-deklarativ d.h. explizit wiedererinnert und als episodisch-narrative Erinnerung verbalisiert werden, was einst bewusst enkodiert wurde (z.B. Metcalfe & Jacobs, 1998). Stehen lediglich sensorische Erinnerungsfragmente zur Verfügung, lässt sich eine im forensischen Sinne valide Aussage oft kaum rekonstruieren, zumal wenn man die »konstruktivistische«, neuronale Gestaltergänzungstendenz mit bedenkt. Flashbacks als »cues« für die Veridikalität wiedergewonnener Erinnerungen sind auch insofern nicht unproblematisch, als sie nicht einfach einen z. B. visuellen Print-Out darstellen, der in einem abgeschotteten Subsystem unverändert »konserviert« wurde. Auch der zu erschließende Inhalt von Flashbacks kann, gemäß dem neuronalen Konstruktivismus, bei erneutem Aufruf modifiziert werden (Brenneis, 1998; Frankel, 1994).

Im Falle der Dissoziativen Identitätsstörung DIS steigert sich eine mnestische Blockade um einen Quantensprung, da hier gleichsam die raum-zeitliche Identitätskontinuität des Subjekts der Aussage in Frage steht. Bei fehlendem oder ungesichertem Außenkriterium sieht sich hier die Aussagebeurteilung mit einer Mehrzahl von »desintegrierten Teilaussage-Teilsubjekten« mit sog. »kompartmentalisierten« Erinnerungssegmenten konfrontiert, wobei der aussagerelevante Zugang zu einem Ego-State bzw. zu einer Teilidentität zustandsabhängig ist (state-dependent recall) und nicht willkürlich - z.B. in einem anberaumten Begutachtungs-Setting - hergestellt werden kann. Das Kompartmentalisierungs-Kriterium beinhaltet die wechselseitige Unzugänglichkeit der Erinnerungen und States. D.h. Teilpersönlichkeit A kann eine zustandsabhängige Aussage liefern über zugeordnete Episode A, nicht jedoch über Episode B der Teilpersönlichkeit B und vice versa. DIS-Patienten verfügen gleichsam über mehrere autobiographisch-episodische Selbst-Anteile, die zustandsabhängig phänotypisch in den Persönlichkeitsvordergrund treten. In einigen Neuroimaging-Studien (Überblick bei Nijenhuis et al., 2002) gelang mittlerweile unter traumabezogener Stimulierung die Darstellung state-assoziierter, zerebraler Korrelate und damit der Nachweis unterschiedlicher autobiographischer, dissoziierter Persönlichkeitsanteile (Reinders et al., 2003; vgl. auch Nijenhuis et al., 2004).

Bei vorliegendem Verdacht auf eine dissoziative Störung ist es für die Beurteilung einer Aussage im Zuge einer Begutachtung vordringlich, zunächst zu einer klinisch-diagnostischen Einschätzung zu gelangen hinsichtlich des Vorliegens einer validen gegenüber einer simulierten Dissoziation. Hierfür gibt es mittlerweile reliable diagnostische Instrumente, die (gegebenenfalls adjuvant) eingesetzt werden sollten, um diese initiale Frage zu klären. Interessant ist, dass bislang in keiner der vorliegenden Studien zu dieser Frage der Nachweis für das Vorliegen einer DIS-Simulation (im Sinne der im DSM-IV für die Diagnosestellung geforderten Bandbreite und Komplexität der Symptome) geführt werden konnte. Die Diagnostik sollte von Klinikern durchgeführt werden, die über hinreichend Erfahrung in der Diagnostik und Behandlung von sowohl dissoziativen als auch nicht-dissoziativen, schweren Störungsbildern verfügen. Eine solche gewissenhafte Diagnostik ist ratsam, um das Aussageverhalten und die Aussagequalität präziser beurteilen zu können. Sofern eine dissoziationsbezogene Diagnose gesichert werden konnte, stellt sich in diesem Kontext (Dissoziation, dissoziative Amnesie, DIS) natürlich und besonders bei fraglichem A-Kriterium die Frage der Aussageglaubwürdigkeit. Man weiß beispielsweise, dass DIS-Patienten über eine erhöhte Suggestibilität verfügen, was die Frage von iatrogenen Pseudo-Erin-nerungen (Suggestion, Konfabulation) aufwirft.

Aber auch ohne dissoziative oder amnestische Störungsanteile von Krankheitswert gilt - wiederum bei fraglichem Erlebnisbezug - für die Frage der Erinnerungsreliabilität:

(1) die Bedingungen im inneren und äußeren Milieu zum Zeitpunkt des Erlebens sind mitbestimmend für Inhalt und Modus der Enkodierung und können diesen verzerren hinsichtlich dessen, was »wirklich geschah«. Das Gehirn ist eben und besonders unter Stress, im Rahmen seiner konstruktivistischen Zielgerichtetheit (Schacter, 1999) nicht darauf geeicht, »wahre Abbilder« zu generieren, sondern das Überleben sicherzustellen, den Organismus wechselnden Gegebenheiten anzupassen und Schmerz abzuwenden (zu dissoziieren), sofern alle verfügbaren, realitätsangepassten Strategien scheitern.

(2) Experimentelle Studien (Le Doux, 1998) haben gezeigt, dass die Inhalte des LZG im Moment - und nur im Moment - der Ekphorie (recall/retrieval) labilisiert und gleichsam vulnerabel werden für den Einbau neuer Informationen - sie können modifiziert werden - was Bjork (1998) zu der Bemerkung veranlasst: »Retrieval is a memory modifier«. In vielen Studien ist diese Korrumpierbarkeit der Erinnerungsinhalte durch unterschiedliche Einflussnahmen nachgewiesen worden. Wenn für den Kliniker bzgl. des Wahrheitsgehalts einer Patientenaussage (oder dessen Eltern bzw. Dritter) die von Brenneis (1994) geprägte Formel, »skeptisch zu glauben und empathisch zu zweifeln« praktikabel scheint, so kann dies für die forensische Fragestellung, wie bereits erwähnt, nicht hinreichen. Selbst für die klinische Entscheidungsfindung bzgl. des Wahrheitsgehaltes hat Kluft (vgl. Kluft, 1998 für eine Übersicht) in zahlreichen Veröffentlichungen auf die oft erheblichen Schwierigkeiten hingewiesen.

Zur Frage der »wiederentdeckten (Pseudo?-)Erinnerungen« (recovered memory) hat in den letzten Jahren eine z.T. leidenschaftlich geführte Debatte (»false memory«) stattgefunden. Unstrittig ist, dass (1) wie gesagt, Erinnerungen amnestisch werden und wiedererinnert werden können und, dass (2) Erinnerungen an emotional saliente Ereignisse fremd- und autoinduziert und mit einem Empfinden hoher subjektiver Evidenz erinnert werden können. Vielfache, begünstigende Faktoren für Suggestibilität wurden beschrieben: Auf Empfängerseite spielt die suggestive Begabung und die Motivationslage eine wesentliche Rolle (z.B. Sinnstiftung, Entlastung, spezifischer Erklärungsbedarf etc.); interpersonelle Faktoren sind wesentlich (Art der Beziehung zum »Sender«: Autorität, Vertrauen - ein bei Kindern wesentlich mitzubedenkender Faktor); hinreichende subjektive Ereignisplausibilität muss gegeben sein; die Übernahmewahrscheinlichkeit steigt mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Zielereignis; affirmatives Labeling durch Dritte, die auftauchende Erinnerungen ereignisspezifisch definieren; wiederholtes Denken an das mutmaßliche Ereignis verstärkt und differenziert (zusätzliche Details) die mnestische Präsenz. Im Ergebnis können Pseudoerinnerungen eine zu ereignisbasierten Erinnerungen vergleichbare Qualität aufweisen (Volbert, 2004); die differentialdiagnostische Abgrenzung sollte angestrebt werden über die Rekonstruktion der Aussageentstehung und -entwicklung. Für suggerierte Erinnerungen ist diesbezüglich oft ein typisches Entwicklungsprofil erkennbar (Volbert, 2002; zusammenfassend in Volbert, 2004). Dadurch kann entschieden werden, ob bestimmte, ggf. qualitativ hochwertige Kriterien wie z.B. Detailreichtum oder Ausführlichkeit der Aussage auf den Verstärkereffekt mehrmaligen Erinnerns und damit einhergehende situative Einflussnahmen zurückzuführen sind. Diese Kriterienanwendung gilt auch als Caveat für das therapeutische Vorgehen, für das oben die Brenneis-Formel »skeptisch zu glauben und empathisch zu zweifeln« herangezogen wurde. Die Gefahr iatrogen-therapeutischer Erinnerungsinduktion auf der Basis einer Bereitschaft zu therapeutischer Leichtgläubigkeit in Identifikation mit dem mutmaßlichen Opfer ist zweifelsohne gegeben (zusammenfassend Volbert, 2004, S. 117ff.).

Hilft die Brenneis-Formel jedoch weiter, wenn ein zukünftiges Strafverfahren nicht ausgeschlossen werden kann bzw. bereits ein Verfahren anhängig ist und in diesem Falle die Aussage als >kontaminiert< eingestuft werden könnte? Ist eine Therapie unter solchen Umständen überhaupt lege artis durchführbar? In jedem Fall müssen konkurrierende Optionen gegeneinander abgewogen werden, z.B. erhöhte Aussicht auf aussagepsychologisches »Bestehen« vs. Dringlichkeit des Heilungsbegehrens. Sofern die Entscheidung für die Aufnahme einer Therapie fällt, habe ich erhebliche Zweifel, ob nicht in diesem Fall - auch bei Anwendung der Brenneis-Formel und bei »bewusster« Enthaltsamkeit von Interventionen mit explizit-suggestiver Potenz - zumindest implizit-sub-liminal ein erhebliches suggestives Potential zur Anwendung kommt.

Dies geschieht besonders dann, wenn das Traumageschehen fokussiert prozessiert wird und der Therapeut vom prinzipiellen Wahrheitsgehalt des Kerngeschehens überzeugt ist auch ohne eine entsprechende, explizite Mitteilung darüber an den Patienten. Implizit-subliminale d.h. eben gerade nicht durch bewusste therapietechnische Entscheidungen steuerbare Spiegelungsprozesse zwischen Therapeut und Patient implementieren diesen Prozess über die Aktivität der o.e. Spiegelneuronen (Bauer, 2005). Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg außer dem, die Therapie auszusetzen oder sich zu beschränken auf Ressourcen- und Stabilisierungsförderung unter Ausschluss der Traumaansprache.

Schlussfolgerung
Für die Forensik wird der einzuschlagende Weg darin bestehen, die differentialdiagnostische Merkmalsanalyse von Aussagen weiter zu verbessern. Hierbei scheint ein vielversprechender Ansatz die Darstellung der implizit präsentierten, »sensorischen Signatur« von Aussagen zu sein, um z.B. wahre, d.h. Eigenerlebnis-basierte von unwahren, z.B. suggerierten oder Pseudo-Erinnerungen zu unterscheiden (Slotnick & Schacter, 2004). Hierbei wird davon ausgegangen, dass - im Gegensatz zu einer »falschen« Erinnerung - der Abruf einer authentischen Erinnerung im Sinne eines state-dependent recall mit der Präsentation nicht willkürlich produzierbarer, impliziter sensorischer Merkmale einhergeht, die zum Zeitpunkt des Erlebnisses mit encodiert wurden. Diese Argumentation liegt ganz auf der Linie einer weiteren Präzisierung des aussageanalytischen Vorgehens. Unklar bleibt hierbei jedoch, wie bei einer derartigen Kriterienanalyse unterschieden werden kann zwischen der »originalen« und einer durch späteren Neuaufruf miteingebauten sensorischen Signatur:

    Oftmals ist man klinisch mit einer Mixtur von Motivationslagen und nur schwer überprüfbaren Einflussnahmen konfrontiert, die den Lackmustest differentialdiagnostischer Wahrheitsprüfung sprengen. Im Falle einer Jugendlichen mit deutlich hysteriformen und ödipalen Struktur- und Verhaltensanteilen betraf dies den vehement von Mutter und Tochter vorgetragenen Vorwurf des sexuellen Missbrauchs durch den getrennt lebenden Vater in der frühen Kindheit. Hierzu gab es allenfalls vage erinnerte State-Anmutungen vor dem Hintergrund einer leidenschaftlichen, ödipalen und abortiv beendeten Beziehung zwischen KV und Patientin. Auf Seiten der KM bestand eine DIS vor dem Hintergrund eigener Vorerfahrungen von sexuellem Missbrauch. Die Patientin veranlasste eine hypnose-induzierte »Rückführung«, nach der sie neue Erinnerungen über den mutmaßlichen sexuellen Missbrauch präsentierte. In dieser Gemengelage zustande gekommene Aussagen und Überzeugungen sind hinsichtlich ihrer Veridikalität qua »sensorischer Signatur« hochgradig kontaminiert durch nicht mehr überprüfbare Einflussvariablen.

Wie eingangs bereits erwähnt und durch die dargelegte Datenlage gestützt, wirft eine traumaadaptierte Glaubhaftigkeitsbeurteilung (von Hinckeldey & Fischer, 2002) mehr Probleme auf, als sie löst. Dennoch, so wurde oben argumentiert, ist auch bei Anerkennung unverzichtbarer Verfahrensprinzipien (Volbert, 2004; Steller, 2002) insbes. bei traumatisierten Kindern deren besondere, entwicklungsneurologisch begründete Schutzbedürftigkeit in Rechnung zu stellen und ggf. prioritär zu behandeln.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta Verlages
(
www.klett-cotta.de)

erschienen in der Zeitschrift Trauma & Gewalt, Heft 1 und 2/2007
(
www.traumaundgewalt.de)

 

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