FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2008

 

Sozialromantik und Realität im Pflegekinderwesen

von Paula Zwernemann

 

1. Eine schöne Geschichte
Bei der Unterbringung von der fünfjährigen Sarah wurde ihr folgende Geschichte von der Sozialarbeiterin geschenkt:

„Wie die Löwenkinder in eine Bärenfamilie kamen

Eine Geschichte für Sarah

Es war einmal ein fröhliches, kleines Löwenmädchen. Das lebte mit seinem Löwenpapa, seiner Löwenmama und seiner kleinen Löwenschwester in einer Höhle. Da die Höhle keine Fenster hatte, war es dort dunkel.

Die Löweneltern liebten ihre Kinder. Sie wussten aber nicht, wie man mit den kleinen Löwenkindern spielen kann und sie wussten auch nicht, was Löwenkinder alles brauchen und was sie lernen müssen.

So kam es, dass das Löwenmädchen nicht richtig sprechen lernte und seine Schwester nicht laufen konnte. Beide waren auch sehr dünn.

Manchmal kamen zwei Giraffen zu Besuch und redeten mit den Löweneltern. Eines Tages sagten sie, dass die Kinder nicht mehr in der Höhle bleiben können.

Sie erzählten von einer Bärenfamilie, die ein großes Haus mit vielen Fenstern hat. Das war so groß, dass es früher sogar einmal ein Kindergarten war.

Sie wussten auch, dass die Bärenfamilie noch genug Platz für zwei weitere Tierkinder hatte, die nicht bei ihren Eltern leben können. Dorthin sollten die Löwenmädchen nun umziehen.

Da wurden die Koffer gepackt und die Giraffen brachten die Löwenkinder zu der Bärenfamilie. Die Löweneltern waren traurig.

Die Bäreneltern hatten schon vier Kinder, vier Bärenjungen. Alle freuten sich, dass jetzt das Löwenmädchen und seine Schwester zu ihnen in die Familie kamen. So wurde aus der Bärenfamilie eine Bären-Löwenfamilie.

Ein Bärenbruder war schon groß und lebte im Haus nebenan. Zusammen mit den Bärenbrüdern ist in der Bären-Löwenfamilie immer viel los.

So lernte das Löwenmädchen richtig sprechen und malen und durfte jetzt jeden Tag in den Kindergarten. Seine Schwester lernte laufen und darf auch bald in den Kindergarten.

Die Löweneltern besuchten nun ab und zu das Löwenmädchen und seine Schwester. Sie waren auch sehr stolz, was die Kinder alles lernten.

Die Löwen machten am Besuchstag meistens einen Ausflug zusammen. Immer abends brachten die Löweneltern die Kinder wieder zur Bären-Löwenfamilie zurück. Da freuten sich die Bäreneltern.

So lebten alle glücklich und zufrieden und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

Soweit die schöne Geschichte.

2. Die Realität
Die Pflegeeltern bekamen kaum Informationen über die Vorgeschichte der Kinder. Es wurde sehr allgemein von Vernachlässigung gesprochen und es wurde gesagt, dass die Mutter die Kinder aufgrund eigener Defizite nicht fördern kann und die Pflegeeltern deshalb mit einigen Problemen bei den Kindern zu rechnen hätten. Es wurde auch gesagt, dass Strafverfahrenwegen wegen sexueller Übergriffe gegen zwei Onkel und den Vater des Kindes anhängig seien, dies aber mit den zwei kleinen Mädchen nichts zu tun hätte und es sich ausschließlich auf die älteren Kinder in der Großfamilie beziehen würde.

Die Kinder waren nach der Aufnahme in der Pflegefamilie extrem unauffällig und angepasst. Sie suchten zu gefallen und sprachen die Pflegeeltern gleich mit Mama und Papa an. Fremden gegenüber waren sie distanzlos.

Zunächst waren umfangreiche Besuche bei den Eltern geplant. Die Kinder übernachteten am Wochenende bei den Eltern. Da insbesondere Sarah mit heftigen Verhaltensauffälligkeiten nach den Besuchen reagierte - sie nässte tags und nachts ein, wurde aggressiv oder zog sich völlig in sich zurück und war nicht ansprechbar - kam das Jugendamt als Vormund zu dem Ergebnis, dass zunächst Tagesbesuche über eine Tante organisiert werden. Die Kinder gingen zunächst zu der Tante, die dann mit diesen in die Wohnung der Eltern ging und die Kinder am Abend wieder zu den Pflegeeltern zurück brachte. Gefahr sah das Jugendamt für die Kinder nicht, weil während der Besuche angeblich keine Situationen entstanden, die die Kinder aktuell gefährdet haben. Die Schwierigkeiten blieben jedoch die gleichen.

Die Schwierigkeiten von Sarah steigerten sich. Sie hatte Essensprobleme, war unsicher und unkonzentriert, und im Kindergarten kam es zu Schwierigkeiten, weil Sarah andere Kinder zu sexuellen Spielen anregte, die weit über das „Doktorspiel“ hinausgingen. Diese Spiele zeigten deutlich, dass das Mädchen Sexualpraktiken kannte, die ein Kind ihres Alters nur durch sexuelle Übergriffe Erwachsener kennen kann.

Sarah war nach den Besuchen verheult, wechselte zwischen der Suche nach Nähe und der Abwehr von Nähe. Sie kratzte sich, bis sie blutete und biss sich in die Finger. Sie warf sich bei den kleinsten Konflikten schreiend auf den Boden. Die gravierende Entwicklungsverzögerung war nach wie vor vorhanden und die Entwicklung der beiden Mädchen ging nur langsam vorwärts. Nach den Umgangskontakten kam es regelmäßig zu Rückfällen.

Die kleine Schwester hatte von Anfang an panische Angst vor dem Wechsel der Windeln. Sie machte sich steif und erstarrte buchstäblich.

Die Pflegeeltern konnten die eingetretene Entwicklung nicht weiter mittragen. Sie baten den Vormund, die Umgangskontakte auszusetzen, weil die beiden Mädchen diese nicht verkrafteten. Der Vormund erklärte, dass er dazu keine Veranlassung sehe, zumal der Kindesvater in den nächsten Wochen seine dreijährige Haftstrafe wegen dem sexuellen Missbrauch an zwei Nichten antreten werde.

Während der Besuche seien die Kinder nicht gefährdet, weil die Umgangsbegleiterin anwesend sei. Die Kinder zeigten Freude, wenn sie die Eltern sähen.

Die Eltern bemühten sich nach Einschätzung des Jugendamtes um Veränderungen in ihrem Erziehungsverhalten. Sie nähmen die angebotenen Gespräche der Familienberater regelmäßig an und seien sehr bemüht Unterstützung anzunehmen.

Die Pflegeeltern weigerten sich, die Umgangskontakte weiterhin mit zu tragen, weil sie eine Kindeswohlgefährdung dadurch gegeben sahen, dass die Kinder immer wieder mit den Situationen konfrontiert wurden, die zu ihrer Traumatisierung geführt hatten.

Die zuständigen Fachkräfte reagierten mit der Drohung, die Kinder in eine andere Pflegefamilie zu bringen. Sie erklärten sich die Schwierigkeiten damit, dass die Pflegeeltern Vorurteile gegen die Herkunftsfamilie haben, im Besonderen deshalb, weil in der Presse das Verhalten des Jugendamtes heftiger Kritik ausgesetzt war, da in der Großfamilie der Kinder mehr als 100 Fälle von schwerem sexuellem Missbrauch, bei den älteren Kindern, nachgewiesen wurde und nicht gesehen wurde, dass sexueller Missbrauch, der über Generationen vorgefallen ist, Wiederholungstaten sind und auch die kleinen Kinder betrifft, die nicht darüber sprechen können.

Die Pflegeeltern konnten durch ihren Antrag auf Verbleib gem. § 1632 Abs. 4  BGB den Verbleib der Kinder erreichen und ein Gutachter hat in diesem Verfahren lediglich zweimal jährlich einen begleiteten Umgangskontakt vorgeschlagen, der vom Gericht so angeordnet wurde. Auch dem Antrag der Pflegeeltern auf Bestellung eines Einzelvormundes wurde stattgegeben.

3. Das Einfordern von Harmonie und Ausgleich
Die Geschichte von der Bären-Löwenfamilie ist eine Vorstellung, die faszinieren kann. Warum kann nicht alles harmonisch verlaufen? Warum kann die Förderung der Kinder nicht sichergestellt werden, ohne den Herkunftseltern weh zu tun? Wer maßt sich an, das Verhalten der Herkunftseltern zu bewerten? Hatten sie in ihrem Leben nicht genug Schwierigkeiten? Die Mutter ist geistig nicht in der Lage, die Probleme zu erkennen und die Kinder zu schützen. Der Vater wurde als Kind selbst sexuell missbraucht und hat als Normalität erlebt, dass die Eltern mit ihren Kindern und die Geschwister untereinander sexuelle Beziehungen hatten.

Zudem sind die Eltern zu Gesprächen bereit und haben den Sozialarbeitern und Familientherapeuten signalisiert, dass sie die Probleme sehen, darunter leiden und um Veränderung bemüht sind. Was den Beratern besonders gut tut ist die Feststellung, dass sich die Eltern von ihnen erstmals in ihrem Leben verstanden fühlen.

Die Kinder sind in der Zwischenzeit versorgt. Die Übernachtungen wurden ausgesetzt, weil bei Bekanntwerden dieses Umstandes die Presse negativ reagieren würde. Die begleiteten Umgänge sah der Vormund als unproblematisch an, weil während dieser Besuche der Schutz der Umgangsbegleiterin da war. Von Retraumatisierung wollte der Vormund nichts wissen. Das ist Vergangenheit!

Der Blick auf die Kinder ging verloren und die Eltern standen im Mittelpunkt der sozialpädagogischen und therapeutischen Bemühungen.

Die Verhaltensbeschreibungen der Pflegeeltern von den Kindern passte nicht in das Bild der Fachkräfte und wurde deshalb ignoriert.

4. Die Verleugnung
Das „Hier und Jetzt“ gilt. Die Besuche laufen harmonisch ab, wie die Umgangsbegleitung bestätigt. Die Pflegeeltern berichten von Problemen der Kinder, die nachts auftreten und die niemand außer ihnen hört und sieht. Es gibt zwar auch andere Institutionen, die die Verhaltensprobleme sehen, sei es der Kindergarten, Ärzte oder von den Pflegeeltern aufgesuchte Therapeuten. Dies wurde in diesem wie in vielen anderen Fällen als Übernahme der Meinung der Pflegeeltern abgewertet.

Was ist die Wirklichkeit des Kindes? Nicht nur die Gegenwart, sondern die Vergangenheit und das Erleben des Kindes auch in der vorsprachlichen Zeit prägen seine Gefühle, Erwartungen und Ängste. Diese Gefühle sind ohne sicheren Rückhalt therapeutischen Bemühungen nicht zugänglich, weil das Bewusstsein des Kindes diese nicht zur Verfügung hat oder diese Erfahrungen so beängstigend sind, dass es diese verdrängen muss.

Die Vorstellung, welches Leid Kindern von ihren Eltern zugefügt werden kann, fällt Erwachsenen schwer oder es ist ihnen nicht möglich aus Gründen des Selbstschutzes. Folglich wird die Realität verleugnet und das Leid des Kindes bagatellisiert. So entsteht eine innere Haltung, die ein objektives Abwägen nicht mehr möglich macht. Es wird eine Position eingenommen und verteidigt. So sagte zum Beispiel eine Rechtsanwältin in einem anderen Verfahren: „vom sexuellen Missbrauch will der Richter nichts hören, deshalb ist es unklug, dieses Problem anzusprechen.“

Die Welt des Kindes und die Welt des Erwachsenen liegen oft weit auseinander. Wenn ich den weinenden und einsichtigen Erwachsenen vor mir habe, gilt diesem oft sehr bald das Mitgefühl, dabei kann der Blick auf das Kind verloren gehen. Das Offenlegen des Leids eines Kindes wird nicht selten als „unfachliche Emotion“ abgewertet. Nur so ist zu verstehen, dass Schilderungen von Pflegeeltern über das, was das Kind an Ängsten und Problemen mit sich herum trägt, abgewertet werden. Das Leid des Kindes wird nicht selten verleugnet und die Verhaltensprobleme des Kindes auf die mangelnde Akzeptanz der Pflegefamilie der Herkunftsfamilie gegenüber geschoben.

5. Die Unterscheidung zwischen Tat und Täter
Einen Menschen, der selbst ein schweres Schicksal zu tragen hat, zu verurteilen, widerstrebt dem moralischen Empfinden. Wie sollten die Fachkräfte den Vater, der selbst nichts anderes erlebt hat, als sexuellen Übergriffen ausgesetzt zu sein und einer Mutter, die wehrlos mit ihrer geistigen Beeinträchtigung leben muss, verurteilen? Schließt jedoch das Mitgefühl für das Kind das Mitgefühl für die Eltern aus?

Die soziale Einzelfallhilfe, die als wissenschaftliche Methode der Sozialarbeit aus den USA und England in der Nachkriegszeit Eingang in der Bundesrepublik fand, hat zwischen Tat und Täter unterschieden. Der Täter wurde als Mensch voll akzeptiert, seine Not wahrgenommen und ihm Hilfe gewährt.

Die Tat jedoch war ein anderes Kapitel. Diese konnte nicht akzeptiert werden. Der sexuelle Missbrauch ist ein Verbrechen an einem Kind. Diesem Kind geschah großes Unrecht, das nicht verleugnet werden darf und das dem Täter auch in das Bewusstsein gerufen werden muss, damit er für sich und auch für das Opfer - und das Kind ist das Opfer - Hilfe bekommen kann.

Wenn die Unterscheidung zwischen Tat und Täter wieder in das Bewusstsein der Fachkräfte käme, könnte diesen die Empathie für das Kind leichter fallen, ohne dabei dem Täter Unrecht zu tun.

6. Klare Entscheidungen und Empathie der Fachkraft
Der Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit ist generell richtig, wenn es jedoch um die Entscheidung geht, wo das Kind seinen Lebensmittelpunkt hat, ist es notwendig, dass eine genaue psycho-soziale Diagnose erstellt wird und eine Prognose gewagt wird. Das kindliche Zeitempfinden lässt es nicht zu, dass die in § 37 SGB VIII geforderte Entscheidung, ob das Kind alsbald in die Herkunftsfamilie zurück geführt wird  o d e r  eine andere auf Dauer angelegte Lebensperspektive zu erarbeiten ist, nicht vorgenommen wird.

Das Pflegekinderwesen braucht Fachkräfte, die für diese Aufgabe speziell aus- und fortgebildet wurden und über genügend Erfahrungen verfügen, um die Situation des Kindes umfassend beurteilen zu können. Das Sammeln von Erfahrungen ist nur dort möglich, wo das Pflegekinderwesen einen großen Teil des Berufsalltags ausmacht und diese Arbeit nicht nebenbei zu geschehen hat. Es braucht den Menschen, der den Blick auf das Kind richtet und der bereit ist, genau hinzuschauen, was die Signale, die das Kind sendet, bedeuten.

Über die Notwendigkeit frühe und klare Entscheidungen über die Lebensperspektive des Kindes zu fällen, sagen Goldstein, Anna Freud und Solnit Folgendes:
„Gute professionelle Arbeit erfordert in gleicher Weise Menschlichkeit und Fachlichkeit. Mit anderen Worten: Der gute Professionelle muss im Kindesunterbringungsverfahren sowohl einfühlsam als auch realistisch sein. Diese Eigenschaften widersprechen sich nicht, sondern ergänzen einander: Ein Professioneller, dessen flinke Sympathie die Durchführung unangenehmer, aber notwendiger Entscheidungen behindert, ist weder realistisch noch einfühlsam. Ein Experte, der harte Entscheidungen trifft und sie mit Güte und Verständnis dem betroffenen Erwachsenen und Kind gegenüber durchsetzt, ist beides. Das einfühlsame Element beruht auf der Fähigkeit professionell Handelnder, Emotionen zuzulassen, ohne sich selbst oder jene, denen sie dienen, auszubeuten - und sie versprechen nicht mehr, als sie  einhalten können.“ (Das Wohl des Kindes, 1988).

Dem Professionellen obliegt es, die Risiko- und Schutzfaktoren für das Kind realistisch einzuschätzen und auch den Kindeswillen in die Waagschale zu werfen. Der oft geäußerte Maßstab, dass die Herkunftseltern kooperieren, genügt nicht, um Veränderungen im Erziehungsverhalten herbei zu führen.

Wenn eine Trennung des Kindes aus der Herkunftsfamilie erfolgen muss, ist bei diesem Schritt, auch bei der sogenannten freiwilligen Unterbringung, die Entscheidung vorausgegangen, dass das Wohl des Kindes in der Herkunftsfamilie nicht gesichert ist. Wenn wir auf unsere Geschichte zurück kommen mit den Löwenkindern, so hätte die fensterlose Höhle nicht zu einer Fremdunterbringung der Löwenkinder führen dürfen, sondern der Löwenfamilie hätte der angemessene Wohnraum zugestanden. Das wäre in diesem Falle die Aufgabe der „Giraffen“ gewesen. Aber die Realität spricht von ganz anderen Problemen, die mit äußeren Hilfen in einem dem kindlichen Zeitempfinden angemessenen Zeitrahmen nicht zu verändern sind.

Aus der Bundesdrucksache zum § 37 SGB VIII (BT II 5948, S.71) folgendes Zitat:

„Kommt das Jugendamt nach sorgfältiger Prüfung der Situation in der Herkunftsfamilie zu der Überzeugung, dass Bemühungen zur Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie mit dem Ziel der Rückführung des Kindes innerhalb eines angemessenen Zeitraumes offensichtlich erfolglos sind oder sein werden,

d a n n    ä n d e r t   s i c h d e r  A u f t r a g.

Fortan hat es seine Bemühungen darauf auszurichten, die Eltern davon zu überzeugen, dass sie ihrer Erziehungsverantwortung in der konkreten Situation am besten dadurch gerecht werden können, dass sie einem dauerhaften Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie, ggf. auch einer Adoption durch die Pflegeeltern zustimmen“.

7. Recht des Kindes auf Kontinuität und Sicherheit
Das Jugendhilferecht und die Rechtssprechung des Verfassungsgerichtes hat das Grundrecht des Kindes auf Achtung seiner Bindungen anerkannt. Das Bürgerliche Gesetzbuch hat in Ansätzen in den §§ 1632 Abs. 4, 1630 Abs. 3 und 1688 diesem Bedürfnis Rechnung getragen, ohne dies jedoch konsequent anerkannt zu haben.

In der Praxis des Pflegekinderwesens sind wir oft nicht mit wissenschaftlich fundiertem Grundwissen konfrontiert, sondern mit Meinungen und laienhaften Allgemeinaussagen wie z.B. „Der Wunsch und Wille des Personensorgeberechtigten ist unser Auftrag, darüber hinaus sind uns die Hände gebunden“, oder „Wir sehen keine Kindeswohlgefährdung, die Eltern sind gesprächsbereit“, oder „Umgangskontakte müssen sein, damit das Kind jederzeit wieder zurück geführt werden kann“.

Vielfach werden Pflegeeltern und Herkunftseltern unterschiedliche Informationen gegeben. Den Pflegeeltern wird gesagt, dass die Herkunftseltern es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht schaffen werden, ihre Situation so zu regeln, dass das Kind zurück kann, den Herkunftseltern werden nicht selten Auflagen gemacht, die unklar sind und der zeitliche Rahmen wird nicht genannt. Wen wundert es, wenn ein Baby oder Kleinkind in einer Pflegefamilie untergebracht werden musste und es dort naturgemäß für die kindliche Entwicklung existenziell notwendige Bindungen eingegangen ist, auch bei einer Erfüllung der Auflagen wie z.B. Wohnung, Arbeit usw. eine Rückkehr nicht möglich ist.

Auch zum Schutze der leiblichen Eltern ist zu fordern, dass vor der Unterbringung der kindliche Zeitbegriff und die Folgen daraus klar in den Vordergrund gestellt werden. Hier ist Ehrlichkeit den Herkunftseltern gegenüber einzufordern. Es mag sein, dass dadurch evtl. sogar eine familiengerichtliche Entscheidung notwendig wird, auf Dauer ist diese Klarheit für alle Beteiligten, im Besonderen für die Herkunftsfamilie, die ehrlichere und mildere Lösung.

Da die Pflegeeltern gem. § 1632 Abs. 4 das Recht und nach meiner Auffassung auch die Pflicht haben, einen Antrag auf Verbleib zu stellen, wenn das Kind nicht ohne Schaden zu nehmen aus der Pflegefamilie herausgenommen werden kann, trifft die Pflegeeltern oft die ganze bittere Enttäuschung der Herkunftseltern, weil diesen am Anfang des Pflegeverhältnisses die umfassende Beratung versagt blieb.

8. Recht und Pflicht gehören möglichst nah zueinander
Pflegeeltern kommen immer wieder in die Lage Entscheidungen treffen zu müssen, die im Zweifelsfall über die Alltagssorge hinaus gehen. Der Gesetzgeber hat deshalb im  §1630 Abs. 3 die Möglichkeit eröffnet, Teile der elterlichen Sorge auf die Pflegeeltern zu übertragen, wenn das Kind längere Zeit in Familienpflege ist. Eine wichtige Verbesserung ist, dass neben den leiblichen Eltern nun auch die Pflegeeltern das Antragsrecht haben und damit das Verfahren in Gang bringen können.

Dass diese gesetzliche Vorgabe in vielen Jugendämtern auf Ablehnung stößt, erlebe ich immer wieder in meiner Tätigkeit als Beistand für Pflegefamilien. Es sind immer wieder Sätze zu hören wie: Die Mutter macht keine Schwierigkeiten und wenn man ihr etwas vorlegt, so unterschreibt sie auch, oder: Wir wollen keinen Konflikt provozieren, oder: Die Eltern wollen ja, dass das Kind in der Pflegefamilie bleibt, da wäre es ungerecht, wenn sie auch noch das Sorgerecht abtreten würden. Im Extremfall verwechselt die Fachkraft die Möglichkeit der freiwilligen Übertragung von Teilen des Sorgerechts mit einem Sorgerechtsentzug.

Allen diesen Grundhaltungen der Fachkräfte ist gemeinsam, dass sie für sich als Handlungsmuster weniger das Kind in seiner Lebenssituation im Blick haben sondern vielmehr eine Grundhaltung haben, die die Interessen der leiblichen Eltern im Vordergrund sehen. Daher kann die Scheu begründet sein, in „ruhigen Zeiten“ eventuell einen Konflikt auszulösen. Deshalb wird dieses Thema, das Kind und Pflegeeltern in vielen Situationen belastet, nicht angesprochen.

Die Frage nach dem Sorgerecht bleibt dem Kind in vielen Situationen nicht verborgen. Es muss die Erfahrung machen, dass die Menschen, die es als seine Eltern erlebt, nicht wie bei den anderen Kindern Entscheidungen treffen können. Das führt bei vielen Pflegekindern zu einer tiefen Verunsicherung. Auch die Verantwortlichkeit der Pflegeeltern wird durch die Übertragung des Sorgerechtes gestärkt, was besonders in Krisensituationen wichtig ist.

Stimmt die Behauptung, dass leibliche Eltern die freiwillige Übertragung von Teilen des Sorgerechtes ablehnen? Die Rolle des Beraters ist nach meiner Erfahrung ausschlaggebend. Wenn er die Pflegeeltern als „Dienstleister“ sieht und keinesfalls möchte, dass die Menschen, die tag-täglich die volle Verantwortung für das Kind tragen, auch Rechte haben, besteht kaum eine Chance, die Eltern davon zu überzeugen, dass die Pflegeeltern auch Rechte brauchen. Der Ansatz der Überlegungen muss sein: Was brauchen die Pflegeeltern, damit sie ihrer Verantwortung gerecht werden können. Dies ist in der Regel:

1. Die Entscheidungsmöglichkeiten in allen Gesundheitsfragen

2. Die Entscheidung in schulischen, vorschulischen und beruflichen Angelegenheiten

3. Das Antragsrecht bei Behörden

Nicht selten möchten leibliche Eltern auch das gesamte Personensorgerecht auf die Pflegeeltern übertragen, was rechtlich möglich ist, wenn die Eltern die Vermögenssorge behalten.

In meiner Beratungstätigkeit konnte ich die Erfahrung machen, dass dieses Thema Teil der Klärung der Lebensperspektive für das Kind ist und wir gemeinsam einen Weg mit den Eltern gegangen sind, der Klarheit gebracht hat. Es ist am Anfang eines Pflegeverhältnisses für die Fachkraft ein höherer Zeitaufwand nötig, der aber in der Folgezeit für alle Beteiligten zu einer Reduzierung von Konflikten führt.

Wenn ein Antrag der leiblichen Eltern oder deren Zustimmung zum Antrag der Pflegeeltern dem Gericht vorgelegt wird, hat dieses lediglich die Kindeswohlgerechtigkeit und die Zweckmäßigkeit im Einzelfall zu prüfen. Pflegeeltern sind bei langjähriger Verantwortung für das Kind am besten in der Lage, Entscheidungen kindgerecht zu treffen (siehe auch  Kommentar zum BGB Staudinger, S. 384 bis 390)

9. Fazit
Ich wünsche mir menschliche Fachkräfte, die mit Wissen und Erfahrung auf das Kind und seine Bedürfnisse schauen und danach handeln und Pflegeeltern mit Achtung und Wertschätzung begegnen.

Pflegeeltern möchte ich Mut machen, die Elternschaft für ihr Pflegekind zu leben, für das Kind einzustehen, sich zu Wort zu melden, wenn etwas der Veränderung im Interesse ihres Pflegekindes bedarf. Dies gelingt besser, wenn vor Ort Pflegeelternvereinigungen aktiv sind und eine gute Kooperation zwischen Jugendamt und Pflegeelternverband besteht. In der Gruppe ist es leichter, ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Pflegeeltern und Fachkräften des Jugendamtes zu finden. Ein wichtiger Punkt ist, dass diese Verbände sich nicht als Gegner des Jugendamtes verstehen und den Mitarbeitern des Jugendamtes ebenfalls mit Achtung und Wertschätzung begegnen. In dieser Atmosphäre können auch schwierige Fragen diskutiert und gelöst werden.

veröffentlicht in PATEN, Heft 3/2008, s. www.pan-ev.de

 

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