FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2004

 

Vorsicht! - Pflegeeltern gesucht!
Zur Kampagne »Hamburg sucht Eltern«
Neue Richtungen in der Jugendpolitik?

von Peter Hoffmann (Rechtsanwalt)

 


Nach einer Ankündigung vom 7. Mai 2004 beginnt jetzt (»Hamburger Abendblatt« vom 28. September 2004) eine großangelegte Suchkampagne nach Pflegeeltern, die bereit und in der Lage sind, Kinder aus Heimen in ihre Familie aufzunehmen.
Diese Kampagne der Hamburger Jugendbehörde klingt kinderfreundlich - wer wollte eine solche Maßnahme kritisieren?

Im besten Falle könnte die Kampagne »gut gemeint« sein (und damit vielleicht das Gegenteil von »gut gemacht«!). Tatsächlich verbirgt sich eine knallharte Finanzpolitik (Kinderheime sind pro Kind mehr als fünfmal teurer als Pflegeeltern) hinter dieser Kampagne, bei der vordergründig das Kindeswohl betont wird.

Vor allen Dingen aber werden offensichtlich die massiven aus dieser Kampagne zu erwartenden Probleme verschwiegen, ignoriert, unter den Tisch gekehrt. Es handelt sich um Probleme, die letztendlich auf dem Rücken der Kinder und der Pflegefamilien ausgetragen werden.

Es zeigte sich in der jüngeren Vergangenheit bereits eine andere Tendenz in der Jugendpolitik: Pflegefamilien sind teuer, also die Kinder heraus aus den Pflegefamilien zurück zu den Herkunftsfamilien. So wurde es bereits in einigen besonders finanzschwachen Regionen praktiziert. Bindungen der Kinder werden nicht oder kaum berücksichtigt. Begründung: Kinder gehören in die Herkunftsfamilien. "Blut ist stärker als Wasser".
Die Pflegefamilie als Auslaufmodell?

Jetzt die neue Tendenz: Heime sind zu teuer, also die Kinder heraus aus den Heimen; wohin? In die Pflegefamilien! Begründung: Pflegefamilien sind besser (sprich: billiger) als Heime.

Beide Konzepte sind so nicht mit dem Kindeswohl vereinbar, werden scheitern und nicht weniger, sondern höhere Kosten verursachen.

Im Einzelnen: 
Eine große Titelzeile auf der ersten Seite war die Meldung am 7. Mai 2004 dem »Hamburger Abendblatt« wert: »Hamburg sucht Pflegeeltern für Heimkinder«, mit dem Untertitel: »Kampagne der Sozialbehörde: 2000 Kinder sollen neues zu Hause finden.« Im Text heißt es: »Die Sozialbehörde bereitet eine Kampagne vor, um möglichst viele der 2000 in Heimen und Wohngruppen untergebrachten Kinder an Pflegefamilien zu vermitteln.«
Das klingt doch gut, oder? Wer Könnte das nicht unterstützen?

Die Sozialsenatorin wird zitiert: »Keine noch so gute Betreuung (gemeint ist: bei einer Heimunterbringung) kann eine intakte Familie ersetzen.«
Wer wollte dem widersprechen!

Diese im Jahr 2004 geäußerte Erkenntnis ist allerdings nicht ganz neu. Spätestens seit Charles Dickens (1812 bis 1870) mit seinen Romanen »Oliver Twist«  und »David Copperfield« auf die Lebensbedingungen von Kindern hinwies, die keine Familien haben, hatte die Welt verstanden, dass Kinder nicht auf der Straße oder in Heimen, sondern am besten in Familien aufwachsen sollten.

Wer jedoch geglaubt hatte, dass diese ebenso alte wie leicht einsehbare Erkenntnis inzwischen dazu geführt hat, dass die Zahl der in Heimen untergebrachten Kinder in den letzten Jahrzehnten im Sinken begriffen ist und die Zahl der Pflegeeltern immer weiter steigt, sieht sich getäuscht. Es ist bisher eine ganz andere Tendenz feststellbar:

Dem Jugendbericht der Bundesregierung für das Jahr 2000 ist zu entnehmen, dass - offensichtlich ungeachtet dieser uralten Erkenntnisse - die Zahl der Kinder in Pflegefamilien allenfalls konstant ist, wohingegen die Zahl der in Heimen untergebrachten Kinder wächst. Insgesamt sind wesentlich mehr Kinder in Heimen untergebracht als in Pflegefamilien. Dies gilt auch in Hamburg. Dort leben nämlich 1150 Kinder in Pflegefamilien, hingegen 2000 Kinder in Heimen, so wurde in dem Artikel vom 7. Mai 2004 berichtet.

Welche Gründe kann es für diese wachsende Zahl von Heimunterbringungen geben?

Mein persönlicher Eindruck aus über 25 Jahren familienrechtlicher Fallbearbeitung  und fast 20-jähriger anwaltlicher Befassung mit Pflegekindern verdichtet sich auf zwei Ursachen:

Obwohl der Gesetzgeber grundsätzlich das Pflegekindschaftsverhältnis nur als ein vorübergehendes konzipiert hat, bleiben in der Realität 60 % der Pflegekinder bis in die Volljährigkeit in ihren Pflegefamilien.

Bei den übrigen 40 % finden Rückführungen zur Herkunftsfamilie statt, die schon zuvor nicht in der Lage war, das Kind/die Kinder in geeigneter Weise zu erziehen. Diese Rückführungen scheitern jedoch zu 50%!
Da diese Kinder durch Bindungsabbrüche meist bereits mehrfach vorgeschädigt sind, sind sie bei dem Scheitern der Rückführung meist in anderen (oder früheren) Pflegefamilien nicht mehr integrierbar. Es bleibt ihnen meistens nur noch die Heimunterbringung.

Argumentativ wird die Bedeutung der Herkunftsseltern für das Pflegekind systematisch erhöht oder auch überhöht. Die hohe Bedeutung der Herkunftseltern für das Kind wird zum Bestandteil des Kindeswohls gemacht, so dass die meisten anderen Belange des Kindes (neue, in der Pflegefamilie gewonnenen Bindungen, Probleme bei einer Rückführung) dahinter zurücktreten.  Dabei wird sowohl die Biografie des Kindes, also die Erziehungsunfähigkeit der Herkunftseltern und deren schädigenden Auswirkungen auf das Kindeswohl ignoriert und die Erkenntnisse der Kinderpsychologie und Bindungslehre außer Acht gelassen.

Finanzielle Aspekte spielen vor allen Dingen für finanzschwache Gemeinden bei einer solchen Rückführung eine immer größere Rolle, denn Pflegeeltern sind (kurzfristig) teurer als eine Rückführung zu den Herkunftseltern, denen man dann für gelegentlichen Beistand einen Sozialarbeiter ins Haus schickt.


Fazit:
Eine hohe Zahl von fachlich offensichtlich unbegründeten, eher ideologisch und finanziell motivierten als am Kindeswohl orientierten Rückführungen ist also als eine Ursache für die Tendenz zur großen Zahl von Heimunterbringungen zu nennen.

Folgen:
50% der Rückführungen sind nicht mit dem Kindeswohl vereinbar, wie bereits das Scheitern indiziert. Der Schaden, der bei den bereits vorgeschädigten Kindern durch diesen weiteren Beziehungsabbruch angerichtet wird, ist durch dieses dritte Scheitern katastrophal. (Diese Kinder sind zunächst in ihrer Herkunftsfamilie, dann in der Pflegefamilie, dann nach der Rückführung erneut in der Herkunftsfamilie gescheitert.)

Gleichzeitig verursachen diese gescheiterte Rückführungen enorme vermeidbare Kosten durch die notwendige Unterbringung dieser Kinder in den Heimen.

Aber es gibt auch eine zweite Ursache, die die Heime füllt:

Es zeigt sich, dass Heimeinrichtungen - fachlich durchaus naheliegend - häufig von ehemaligen Jugendamtsmitarbeitern oder anderen Personen mit viel Nähe zu Jugendämtern geführt werden, die enge Verbindungen zu den (früheren) Dienststellen unterhalten und eine starke Lobby bilden, die sich in vielen Zweifelsfragen bei Unterbringung eines Kindes gegenüber der Option der Unterbringung in einer Pflegefamilie durchsetzt - im Zweifel für die Heimunterbringung, da weiß man, was man hat.

Und nun eine neue Jugendpolitik?
Jetzt werden also - eine ganz neue, gegenteilige Richtung - dringend Pflegefamilien gesucht, die bereit sind, Heimkinder aufzunehmen. Das Jugendamt der Stadt Hamburg hat eine große Suchaktion gestartet, wonach Pflegeeltern für 2000 (!) Heimkinder gesucht werden (»Hamburger Abendblatt« vom 7. Mai 2004 bzw. etwas bescheidener: 50 Kinder, »Hamburger Abendblatt« vom 28. September 2004). Begründet wird diese Suchaktion selbstverständlich mit den Kindeswohl, also der Erkenntnis, dass Kinder besser in Pflegefamilien als in Heimen leben sollten.

Warum erfolgt aber diese Suchaktion gerade zu diesem Zeitpunkt, obwohl diese Erkenntnisse uralt sind?

Es wird - im Bereich des Kleingedruckten in dem Artikel vom 7. Mai 2004 - eingeräumt, dass auch hier der Hintergrund und das Motiv die leeren öffentlichen Kassen sind. Heime sind bekanntlich wesentlich teurer als Pflegeeltern.

Verschwiegen blieb in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Kinder, die längere Zeit in Heimen zugebracht haben, oft wesentlich problematischere, schwieriger integrierbare Eigenschaften mitbringen als Kinder, denen dieses erspart geblieben ist.

Verschwiegen wurde damit auch die Tatsache, dass zahlreiche Pflegefamilien mit der Aufnahme eines solchen Heim-Kindes nicht in der erforderlichen Weise vorbereitet oder auch überfordert sein dürften. Ein nennenswerter Teil der so zustande gekommenen Pflegeverhältnisse wird scheitern mit der Folge, dass die Kinder zurück in die Heime gebracht werden müssen, wenn nicht eine erhebliche Verbesserung der Ausbildung und spezielle Vorbereitung von Pflegeeltern, vielleicht sogar ein gewisses Maß an »Professionalisierung« von Pflegeeltern erfolgt, um ein solches Scheitern zu vermeiden.

Dieser Aspekt gilt umso mehr, als die derzeitige hohe Arbeitslosigkeit dazu führt, dass sich mehr Menschen als Pflegeeltern bewerben, die die Aufnahme eines Kindes in die Familie - irrtümlich - als eine "Erwerbsquelle" ansehen, in völliger Verkennung der Tatsache, dass das gezahlte Pflegegeld meist vollständig für den Unterhalt des Kindes benötigt wird. Diesen Bewerbern fehlt regelmäßig die erforderliche Qualifikation für Kinder mit problematischen Lebensläufen. An diesen Tatsachen wird auch der warnende Hinweis der Jugendbehörde nichts ändern, der lautet »Hier geht es um keinen Job.«


Für eine solche dringend erforderliche Qualifikationsmaßnahme fehlt den Behörden jedoch das nötige Geld! Mittel für Qualifikationsmaßnahmen wurden offensichtlich nicht bereitgestellt.

Ein Scheitern des Pflegeverhältnisses wegen ungenügender Vorbereitung und Qualifikation ist aber ein - meist weiteres - Scheitern in der Biografie des Kindes. Ein solches Scheitern aber vorzuprogrammieren, ist ein Verstoß gegen das Kindeswohl.

Verschwiegen wird den Pflegeeltern gegenüber auch die Tatsache, dass die Aufnahme eines Heimkindes erhebliche Probleme in die Familie hineintragen kann. Die Probleme können so anwachsen, dass sie zum Zerfall der Familie beitragen können.

Verschwiegen wird den Pflegeeltern regelmäßig auch, dass aus Beibehaltung der elterlichen Sorge bei den Herkunftsfamilien erhebliche Konflikte entstehen können, etwa dann, wenn die Kinder sich in die Pflegefamilien eingelebt haben, Bindungen zu den Pflegeeltern und Pflegegeschwistern entstanden sind und die Herkunftseltern nach einigen Jahren die Kinder wieder herausverlangen.

Verschwiegen wird ebenso das häufig durch Umgangskontakte zur Herkunftsfamilie vorhandene Konfliktpotenzial und Beeinträchtigungen und Einschränkungen des Familienlebens der Pflegefamilien.

Die Erfahrung zeigt, dass die Pflegeeltern weder über die Hintergrund-Biografie des Kindes und die daraus zu erwartenden Probleme und Konflikte aufgeklärt werden, meist mit Hinweis auf Gründe des Datenschutzes (ein Hinweis, der hier rechtlich völlig verfehlt ist).

Die Erfahrung zeigt weiter, dass die Pflegeeltern nicht über ihre regelmäßig ohnehin nur verhältnismäßig schwachen Rechte und geringfügigen Entscheidungsbefugnisse im Zusammenhang mit den Pflegekindern aufgeklärt und ihnen keine Rechte übertragen werden, die dem Umfang der übernommenen Pflichten entsprechen.

So, wie das Konzept bisher angelegt ist, dürfte ein sehr hoher Prozentsatz dieser neu zu begründenden Pflegeverhältnisse scheitern.

Fazit:

1. Pflegeeltern sollten Kinder aus Heimen nur dann übernehmen,
 
- wenn sie bereits über Erfahrungen und Qualifikationen bezüglich Pflegekinder verfügen und auf die besonderen Probleme von Heimkindern durch besondere Qualifikationsmaßnahmen vorbereitet worden sind. Eltern, die über keine Erfahrungen mit Pflegekindern verfügen, sollten keine Heimkinder aufnehmen.

- wenn sie über die Biografie des Kindes und die Ursache und Hintergründe der Fremdunterbringung, also die Situation der Herkunftsfamilie vollständig aufgeklärt werden, ohne dass hier datenschutzrechtliche Aspekte vorgeschoben werden.

- wenn sie über die rechtliche Situation umfassend informiert worden sind und auch mit Rechten ausgestattet werden, die dem Umfang der übernommenen Pflichten entsprechen.

- wenn der in diesem Zusammenhang den Jugendämtern gesetzlich vorgeschriebene Hilfeplan eine dauerhafte Perspektive für den Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie beinhaltet.

2. Die offensichtlich zu 50 % nicht am Kindeswohl orientierte Rückführungspolitik erreicht durch das vorprogrammierte Scheitern und die oft anschließend notwendig werdende Heimunterbringung das Gegenteil dessen, was erreicht werden soll. 20 Heimkinder verursachen mehr Kosten als 80 Pflegekinder!

Mag sich der Wechsel von Heimkindern in Pflegefamilien grundsätzlich (unter den obigen Bedingungen) mit dem Kindeswohl rechtfertigen lassen, auch wenn dieser Wechsel letztendlich durch die Sparpolitik motiviert ist.

Wenn aber unter dem Aspekt der Sparpolitik ein Wechsel von Pflegekindern, die in die Pflegefamilien seit Jahren gut eingebunden sind und hier eine neue, sichere Familie gefunden haben, als Rückführung in die Herkunftsfamilie gerechtfertigt werden soll, so ist dies völlig verfehlt. Die etwas höheren Kosten in der Pflegefamilie  sind - da die Kinder die Zukunft der Gesellschaft sind - Investitionen in die Zukunft. Auch ideologische Aspekte sollten gegenüber dem Kindeswohl und den entstandenen Bindungen der Kinder innerhalb der Pflegefamilien keine Rolle spielen. Wenn jede zweite Rückführung scheitert und den damit gescheiterten Kindern ein Heimaufenthalt droht, sollte bei den Jugendämtern einerseits unter dem Aspekt des Kindeswohls und andererseits unter dem Aspekt der extrem viel höheren Kosten, die die Kinder in den Heimen verursachen, gegenüber Rückführungsbestrebungen erhebliche Zurückhaltung gezeigt werden.
 

Kommentar: Wir können die Beobachtungen und Schlußfolgerungen des in Pflegekinderauseinandersetzungen hocherfahrenen Rechtsanwalts Peter Hoffmann aus Berliner Sicht voll bestätigen. Die aus Sparzwängen motivierte, aber immer wieder in Geldverschwendung und multipler Traumatisierung mündende Schicksalsspirale  »Rückführung aus der Pflege- in die Herkunftsfamilie >> dortiges Scheitern >>  Heimeinweisung >> Wechsel in neue Pflegefamilie >> Rückführung >> Obdachlosigkeit oder Gefängnis oder Psychiatrie oder Drogentod« erhält hier mitten in der Zeit knapper Kassen durch die von der Heimlobby lancierte Abschaffung der Heilpädagogischen Pflegestellen und der langfristigen Planungssicherheit (s. AV-Diskussion) eine atemberaubende Rotationsgeschwindigkeit. In etlichen anderen Bundesländern sind ähnliche Tendenzen erkennbar.

Kurt Eberhard  (Okt. 2004)

 

s.a. http://www.rechtsanwalthoffmann.com

 

 

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