FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Erfahrungsbericht / Jahrgang 2004

 

Ein Pflegekind zieht seine Mutter zur Verantwortung

 

Vorbemerkung: Von einer Pflegemutter erhielten wir nachfolgenden Bericht, den wir gerne veröffentlichen, weil er trotz seiner Kürze eindrucksvoll dokumentiert, welche massiven Traumatisierungen viele unserer Pflegekinder erlitten haben, wie lange es oft braucht, bis die Jugendämter ihre Wächterpflichten wahrnehmen, welche schwierigen therapeutischen Aufgaben auf die Pflegeeltern zukommen und wie geduldige Liebe in einer auf Dauer angelegten, engagiert betreuten, nicht durch Besuchskontakte gestörten Familienpflege erstaunliche Heilerfolge bewirken kann.

K. E.  (Dez. 2004)


Matthias (Name geändert) lebte bis zu seinem 9. Geburtstag bei seiner Mutter. Bis zu seinem dritten Lebensjahr wohnte dort auch noch sein zehn Jahre älterer Halbbruder, ging dann aber zum leiblichen Vater. Matthias stammt aus einer Verbindung der Mutter zum direkten Nachbarn, der aber zu seiner Frau zurückging. Das allein stelle ich mir für alle Beteiligten schon sehr schwierig vor.

Nachdem der Bruder fort war, fing die Mutter an zu trinken und verlor mehrere Arbeitsstellen. Durch wechselnde Beziehungen war der Zwerg total aus dem Lot (die Mutter auch). Die Nachbarn verständigten oft das Jugendamt, weil sie das Kind weinen hörten. Dem wurde aber nicht nachgegangen. Bei Kontrollbesuchen wurden angeblich keine Auffälligkeiten am Kind festgestellt. Die Mutter bekam die Auflage, das Kind regelmäßig in den Kindergarten zu schicken, damit die Mahlzeiten gesichert waren. Die finanzielle Lage war durch die Trinkerei sehr schlecht. Dazu kam dann noch Tablettensucht und Verfolgungsängste wegen der Nachbarn - ständig die Gardinen geschlossen, Rollos runter.

Zeichen der Misshandlung an Matthias wurden zuerst im Kindergarten erkannt, dann auch in der Schule. Er erklärte sie immer mit Stürzen oder sich gestoßen zu haben. Seine Mutter hatte ihm eingebläut, wenn er die Wahrheit sagt, müsse er von ihr fort, und das würde sie umbringen. Der kleine Zwerg hat alles für sie getan: gekocht, geputzt, Müll und Flaschen entsorgt, nur um bei ihr bleiben zu können.

Als endlich die Herausnahme durch die Polizei zusammen mit einer Sozialhelferin erfolgte, hatten die Nachbarn ihn schon drei Tage weinen hören, und er war nicht in der Schule. Die Tür wurde aufgebrochen, die Mutter versuchte, mit ihm über die Terrasse zu entkommen. Glücklicherweise gelang ihr das nicht. Matthias wurde in ein Krankenhaus geliefert, total blau und grün geschlagen, am gesamten Körper Hämatome, zum Teil faustgroß. Ich habe noch nie so schreckliche Fotos gesehen.

Nach seinem Krankenhausaufenthalt wurde er in einer Kurzzeitpflegefamilie untergebracht. Die Mutter sollte therapiert werden und er dann zurückkehren. Da sie jedoch untergetaucht war, wurden nach zwei Monaten Dauerpflegeeltern für ihn gesucht; das waren wir - Liebe auf den ersten Blick!

Er lebte sich bei uns sehr schnell ein und erzählte ganz ganz viel aus der Zeit mit seiner Mutter. Wir hatten in dieser Zeit einen sehr engagierten Sozialarbeiter, der uns häufig besuchte. Eines Tages fragte Matthias ihn, ob seine Mutter für ihr Verhalten bestraft werden könne. Daraufhin leiteten der Sozialarbeiter und der zuständige Vormund alles in die Wege. Es lag ohnehin noch eine Anzeige gegen die Mutter wegen der Misshandlungen vor.

Er fand sich unheimlich wichtig, bei der Polizei in Hamburg eine Aussage machen zu dürfen, die auf Video aufgezeichnet wurde. Bei dieser Aussage war er allein mit einer Beamtin. Eine weitere Beamtin und ich verfolgten alles auf einem Monitor im Nebenzimmer. Wir beide waren sehr erschrocken, was er alles erlebt hatte, welche Wörter er kannte und womit er fertig werden musste nicht nur an körperlicher Misshandlung, auch sein Sexualwissen durch die Beziehungen seiner Mutter waren für einen knapp 10-jährigen nicht zu fassen.

Der erste Prozess gegen die Mutter scheiterte, da sie wieder nicht zu finden war. Aber es wurden Gutachten für sie und Matthias angeordnet und erstellt. Wir waren damals dreimal in der Klinik Hamburg-Eppendorf. Es sollte der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen geprüft und über eventuelle Folgeschäden berichtet werden. Der Gutachter gab mir Therapieanschriften, da Matthias nachts noch immer einnäßte.

Um diese Therapie für ihn zu bekommen, musste ich im Jugendamt lange kämpfen, hab sie aber schließlich für ein Jahr einmal wöchentlich bewilligt bekommen. Schon nach einem Monat zeigten sich deutliche Erfolge, was seine Konzentrationsfähigkeit betraf. Auch das Einnässen hörte fast ganz auf.

Nach zwei Monaten Therapie sollte endlich der Prozess gegen die Mutter stattfinden. Matthias sah sie auf dem Flur im Gericht. Sie erkannte ihn nicht, vermutete aber, dass er es ist, wie mir ihr derzeitiger Lebensgefährte sagte.

Nach zweistündiger Verhandlung kam die Richterin raus zu uns und bat uns in ihr Zimmer. Sie sagte Matthias, dass seine Aussage nicht mehr benötigt wurde, weil seine Mutter die Misshandlungen zugegeben hat. Sie bedankte sich, dass er so mutig war, darüber zu berichten.

Nach mehr als sechs Monaten immer wieder fragen und nachhaken, erfuhren wir von unserer jetzigen Sozialarbeiterin, dass die Mutter zu 18 Monaten auf Bewährung verurteilt wurde. Matthias hat nachgelesen, was das bedeutet, und war sehr enttäuscht, weil es in seinen Augen keine ausreichende Strafe ist.

Heute nach mehr als sechs Jahren ist er ein toller, fast 16-jähriger Bursche geworden, der richtig zu uns gehört. Er hat einen Antrag auf Namensänderung gestellt, und seit kurzem habe ich auch die Pflegschaft für ihn. Er besucht die 10. Klasse einer Gesamtschule, ist einer der besten der Klasse und will im nächsten Sommer aufs Gymnasium wechseln. Wir sind stolz auf ihn - erst recht auf seine Sprüche wie: "Ich weiß, wo ich her bin, und da möchte ich nie wieder hin, ich weiß, wo ich bin, und da möchte ich bleiben."

Seine Mutter möchte er nie wieder sehen, aber seinen Vater würde er gern kennenlernen. Der wohnt noch immer dort, reagiert aber nicht auf Briefe. Ich glaube, der wäre auf ihn wohl auch so stolz wie wir.

 

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