FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2005

 

VAK zum Vorrang von Elternrecht gegenüber Kindeswohl

 

Vorbemerkung: Richter Lutz Bode, Vorstandsmitglied im Verein Anwalt des Kindes, hat in einem Schreiben vom 11.5. an Birgit Nabert, Vorsitzende des Landesverbandes der Pflege- und Adoptivfamilien in Schleswig-Holstein e.V., folgende Fragen beantwortet.

1. Ist es richtig, dass Gerichte in zweifelhaften Situationen gehalten sind, den Elternrechten Vorrang vor den Kindesinteressen zu geben?

2. Ist es möglich, dass ein Kind zwischen divergierenden Anforderungen an jugendamtliches Handeln und der gesetzlichen Normen des Elternrechts, mit seinem Kindeswohl und seinem Kindesinteresse in den Hintergrund tritt?

3. Ist es richtig, dass sich Familiengerichte an europäischer Rechtssprechung orientieren und dadurch die Kindesinteressen noch weiter in den Hintergrund geraten?

C.M. (Mai, 2005)

 

Sehr geehrte Frau Nabert,

ich will versuchen, Ihre Anfrage kurz zu beantworten:

Elternrechte haben an sich keinen Vorrang vor Kinderrechten. Beider Rechtspositionen werden gleichermaßen durch Art. 1 Abs.1, 2 Abs.1 und 6 Abs.1 und Abs.2 GG geschützt. Das Bundesverfassungsgericht hat für die Fälle, in denen diese Rechte kollidieren, festgelegt, dass die Familiegerichte eine "praktische Konkordanz", einen schonenden Ausgleich zwischen den widerstreitenden Rechten herstellen sollen. Das Problem dabei ist, dass die Position der Kinder häufig nicht oder nicht ausreichend wahrgenommen wird. Manchmal nicht vom Jugendamt oder den Gerichten, die auch verzweifeltste Signale der Kinder nicht hören oder sehen. Manchmal aber - man verzeihe - auch nicht von den Pflegeeltern, die aus bestens nachvollziehbaren Gründen mitunter auch noch so deutlich geäußerte Rückkehrwünsche der Kinder nicht wahrnehmen können oder wahrhaben wollen.

Grundsätzlich ist aber immer davon auszugehen, dass die Familiengerichte einer unter halbwegs zumutbaren oder auch nur erträglichen Bedingungen zu vollziehenden Rückkehr von Kindern in die elterliche Familie den Vorrang vor noch so optimalen Lebensverhältnissen bei Pflegeeltern geben müssen. Denn deren Rechtsposition ist verfassungsrechtlich nicht geschützt. Diese verfassungsrechtlich determinierte Präferenz zugunsten des Schutzes der Beziehungen - leibliche Eltern/Kind - kann in der Tat von außen betrachtet den Eindruck erwecken, die Kinderrechte träten hinter diejenigen der Eltern zurück. Dass ist aber so nicht gewollt und gemeint.

Der einfachrechtliche Schutz, den die Pflegeeltern demgegenüber etwa durch § 1634 BGB bzw. § 1685 BGB genießen, hat nicht grundrechtlichen Charakter und verfassungsrechtlichen Rang. Von der Ausnahme der Adoptionspflege abgesehen (hier wird sich die Rechtsposition der Pflegeeltern schon sehr weit den Grundrechtspositionen von leiblichen/rechtlichen Eltern und Kindern annähern) ist das Rechtsverhältnis zwischen Pflegeeltern und Kind etwas gewollt Provisorisches, auf Zeit und jederzeitige Beendigung Angelegtes. Dass dies psychologischer und gelebter Realität häufig nicht entspricht, ist eine Tatsache, der wir auf der Grundlage der derzeitigen Rechtslage nur versuchen können, durch die Anordnung von Besuchskontakten zu den Pflegeeltern, in Extremfällen auch durch Verbleibensanordnungen, Rechnung zu tragen.

Dass das Kind mitunter nicht wahrgenommen wird, hatte ich ja schon gesagt. Dafür haben wir ja an sich den Verfahrenspfleger. Wenn indes - wie mir gerade aus Schleswig-Holstein oft berichtet wird - von dieser Einrichtung gegen den Gesetzeswortlaut kein Gebrauch gemacht wird, oder - was ich auch schon öfter gehört habe - Rechtsanwälte(innen), die über keinerlei Zusatzqualifikation verfügen und deswegen über Psychologie und Sozialpädagogik genauso viel (oder vielmehr, genau so entsetzlich wenig) wissen, wie regelmäßig der/die Richter(in), als Verfahrenspfleger bestellt werden, darf man sich nicht wundern, dass die Kinder "auf der Strecke" bleiben und trotz aller verfahrensrechtlichen Absicherungen entweder nicht gehört oder nicht verstanden werden.

Richtig ist - das hat das Bundesverfassungsgericht gerade dem OLG Naumburg in zwei in jeder Hinsicht exzeptionellen Entscheidungen in´s Stammbuch geschrieben - dass die deutschen Familiengerichte europäische Rechtssetzungsakte und eben auch die Entscheidungen des EuGH bei der Anwendung und Auslegung deutschen Rechts mit heranziehen und berücksichtigen müssen. Auch dort haben wir allerdings keinen "Vorrang" der Eltern- vor den Kinderinteressen, sondern beide sind an sich auf gleicher Höhe geschützt. Ungeschützt sind jedoch, wie eben auch weitgehend nach nationalem deutschen Recht, die Pflegeeltern.

Es liegt also sowohl verfassungs- als auch einfach- und verfahrensrechtlich noch so einiges im Argen. Ein Grundproblem allerdings wird sich schwer lösen lassen: Sobald Kinder bei den Pflegeeltern - mental/psychologisch und tatsächlich - "angekommen" sind, entstehen sehr schnell mitunter sehr tiefe Bindungen, die bei dem Pflegeelternverhältnis, weil es eben vom Gesetzgeber als etwas "auf Zeit" Bestehendes angesehen wird, eigentlich gar nicht entstehen dürften. Andererseits aber entstehen müssen, wenn die Pflegeeltern ihre Aufgabe ernst nehmen wollen. Damit wird von Pflegeeltern die Quadratur des Kreises verlangt. Das Problem wird noch dadurch verkompliziert, dass die Kinder eben sehr, sehr häufig (nach meiner beruflichen Erfahrung eigentlich nahezu immer) auch zu ihren leiblichen Eltern Bindungen und Beziehungen haben, egal, aus welchen Verhältnissen sie kommen. Und selbst bei Kindern, die ihre leiblichen Eltern niemals bewußt kennengelernt haben, liegt immer mindestens der starke Wunsch vor, diese kennen zu lernen und von ihnen akzeptiert und geliebt (!) zu werden.

Für dieses Problem gibt es keine einfachen Konzepte: Weder ist es dem Gesetzgeber möglich, den Pflegeeltern denselben grundrechtlichen Schutz einzuräumen, wie den leiblichen Eltern (dann müßten wir Art.6 GG komplett umstricken, und dafür gibt es auf absehbare Zeit keine Mehrheiten und ich wäre mir auch nicht sicher, ob es wirklich wünschenswert wäre). Noch wäre es aus denselben verfassungsrechtlichen Gründen möglich, das Pflegeelternverhältnis als eine regelmäßig dauerhafte Einrichtung zu installieren und sozusagen die Rückkehr in die elterliche Familie als Ausnahme zu definieren. Letzteres würde im übrigen gerade auch im jugendhilferechtlichen Bereich wahre Erdbeben auslösen: Müßten alle Eltern, bei denen die Kinder in Obhut genommen und bei Pflegeeltern untergebracht werden, mit überwiegender Sicherheit davon ausgehen, die Kinder nie wieder zu sehen, wäre dies ein Konfliktpotential, dem unsere Jugendhilfe kaum gewachsen wäre. Die alternative Gegenposition - Abschaffung von Pflegeelternverhältnissen - wäre genau so wenig praktikabel.

Ich meine, dass man hier - wie sonst auch im Kindschaftsrecht - einzig und allein danach streben sollte, Kindern Bindungen und Beziehungen nach Möglichkeit zu erhalten. Die zu den leiblichen/rechtlichen Eltern genauso, wie zu den Pflegeeltern. Denn das Problem haben meist nicht die Kinder. Die kommen mit einer auch durchaus größeren Anzahl von Beziehungen und Bindungen nach meiner Erfahrung ganz gut klar, können also durchaus gleichzeitig zu den Eltern und den Pflegeeltern Bindung und Beziehung haben und pflegen. Das Problem sind meist die Eltern bzw. Pflegeeltern, die das "Recht auf das Kind" jeweils exklusiv für sich reklamieren und nicht akzeptieren können oder wollen, dass das Kind auch zu den jeweils anderen Beziehungen hat und haben möchte. Hier liegt das eigentliche Potential für das Familiengericht, kreative und kindeswohlorientierte Lösungen gemeinsam mit allen Beteiligten zu erarbeiten. Das ist natürlich nur eine ganz, ganz kleine, bescheidene Lösung. Aber eine Größere oder Bessere weiß ich nicht.

Ich hoffe, ich habe Ihre Anfrage einigermaßen vollständig beantworten können - falls nicht, mailen Sie mich gern wieder an.

Ganz herzliche Grüße, Ihr

Lutz Bode
Vorstand VAK

s.a. Kommentar zu: VAK zum Vorrang von Elternrecht gegenüber Kindeswohl (A.N.)
s.a.
Kommentar zu: VAK zum Vorrang von Elternrecht gegenüber Kindeswohl (Ulrike Edelhoff-Bohnhardt)

 

 

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