FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2005

 

Soziologische Dialektik im Ungewissen

von Dr. Arnim Westermann

 

Anmerkungen zu dem Artikel von Dr. Walter Gehres: Jenseits von Ersatz- und Ergänzungsfamilie: Die Pflegefamilie als eine andere Familie. Unveröffentlichtes Manuskript, 25.01.2005 (s.a. http://www.juventa.de/zeitschriften/zfsp/inhaltsverzeichnis.html)

Auf der Basis von 6 Biographien von erwachsenen ehemaligen Pflegekindern entwickelt der Soziologe an der Universität Jena ein Modell der Pflegefamilie als einer „anderen Familie“, „bei dem die beiden bisherigen Modelle - Ersatz und Ergänzung - dialektisch aufgehoben sind und ihre jeweiligen Stärken fallspezifisch genutzt werden können, um optimale Spielräume für den Autonomiebildungsprozeß der Pflegekinder zu gewährleisten“ (3). Dabei geht es dem Autor in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekt darum, eine theoretisch begründete Antwort auf die Frage zu geben, „welche Faktoren Autonomiebildungsprozesse von Pflegekindern stabilisieren und unterstützen“ (8), und eine gelungene Identitätsentwicklung ermöglichen. Damit ist gemeint, daß das Pflegekind die Fähigkeit entwickelt, die „eigene Lebensgeschichte zu verstehen (8)“.

Es erscheint mir doch sehr zweifelhaft zu sein, ob ein solcher soziologischer Ansatz überhaupt angemessen ist, um die Problemlage von Kindern in Pflegefamilien und ihre Entwicklung zu beschreiben. Die Datenbasis, auf die sich der Autor stützt - 6 verschiedene Biographien von ehemaligen Pflegekindern in 4 verschiedenen Pflegefamilien - , ist es zumindest nicht. Mitgeteilt werden 5 sehr unterschiedliche, winzige Bruchstücke der Lebensgeschichten. Die Frage, warum gerade diese als exemplarische Lebensgeschichten gewählt wurden, um die Theorie des Autors zu demonstrieren, wird nicht einmal gestellt.

Aber es ist auch nicht mehr als die Sammlung von ein paar Anekdoten. Da erfährt man von zwei Geschwistern, daß sie mit 9 und 12 Jahren in verschiedenen Pflegefamilien nach dem Tod der Mutter untergebracht wurden, die jüngere Schwester in der Familie des ältesten Bruders, der 12 Jährige in einer Pflegefamilie, zu der die jüngere Schwester als 15 Jährige dazukommt, nachdem das Verwandtenpflegeverhältnis gescheitert ist. Von einem 32 Jährigen erfährt man, daß er in verschiedenen Heimen und Pflegefamilien gelebt hat und mit 32 Jahren Kontakt zur Herkunftsfamilie aufnimmt, zu der er eine reflexive Distanz habe. In einem anderen Fall, mit dem die Chance der Kooperation mit der Herkunftsfamilie demonstriert werden soll, erfährt man, daß das Kind mit 3 Jahren aufgrund ungünstiger Arbeitszeiten der Mutter zu einer gleichaltrigen Adoptivschwester in eine Pflegfamilie kam, und zur Mutter regelmäßige Kontakte hatte. Das vom Autor favorisierte Modell, die Pflegefamilie als „andere Familie,“ in der die Pflegeeltern nicht eine Vater- oder Mutterrolle einnehmen, um dadurch das Konkurrenzverhältnis zur Herkunftsfamilie zu vermeiden, demonstriert er an zwei Kindern, von denen man nicht einmal erfährt, in welchem Alter sie in die Pflegefamilie gekommen sind. Außer in zwei Fällen, wo der Tod der Mutter als Unterbringungsgrund und in einem Fall, wo als Unterbringungsgrund ungünstige Arbeitszeiten der Mutter angegeben werden, erfährt man nichts über die Vorgeschichte. Man erfährt auch nichts darüber, mit welchen Sozialisationsergebnissen die Pflegeverhältnisse beendet wurden, nicht einmal ob die ehemaligen Pflegekinder einen Schulabschluß gemacht, eine Berufsausbildung begonnen oder abgeschlossen haben.

Solche ungewöhnlichen Pflegeverhältnisse, wie die vom Autor herangezogenen, kennt jeder Sozialarbeiter und jeder, der sich beruflich mit Pflegeverhältnissen befaßt. Aber es sind nicht die gewöhnlichen Fälle, mit denen es die Kinder- und Jugendhilfe zu tun hat. Für gewöhnlich hat man es nicht mit Jugendlichen, sondern mit Kindern, Klein- und Vorschulkindern oder auch mit Schulkindern zu tun, deren Sozialisation in der Ursprungsfamilie aufgrund von Vernachlässigung, Kindesmißhandlung durch erziehungsunfähige Eltern oder Elternteile trotz vielfältiger ambulanter Hilfen für die Eltern in hohem Maße gefährdet erscheint. Diese Ausgangslage streift der Autor nur mit einem Satz, wenn er zutreffend feststellt, daß der Kontakt zwischen dem Kind und seinen Herkunftseltern unterbunden werde müsse, wenn ein Kind sexuelle oder körperliche Übergriffe erleiden mußte, behauptet dann aber, daß nach „Bewältigung des verursachenden Problemkontextes... eine Wiederannäherung an die Herkunftseltern...prinzipiell erstrebenswert“ (11) sei, als brauchte ein Kind zur Bewältigung der traumatischen Erfahrungen eine Aussöhnung mit dem Täter.

Was der Autor überhaupt nicht verstanden hat, ist der einfache Tatbestand, daß ein Kind, eine Frau und einen Mann, die das Kind tagtäglich in einem familialen Milieu versorgen, aufgrund seiner eigenen kindlichen Bedürfnisse zu seinen Eltern macht. Nicht die Pflegeeltern machen sich zu Eltern, sondern das Kind entwickelt eine Mutter-Kind- und eine Vater-Kind-Beziehung unabhängig davon, welche Theorien sie im Kopf haben. Natürlich kann sich auch eine Pflegemutter gegenüber den kindlichen Wünschen und Bedürfnissen versagend verhalten, wenn sie das Kind, was vorkommt, auf ein Leben mit der leiblichen Mutter vorbereiten will. Aber dann haben wir es schließlich mit einem Kind zu tun, das keine sicheren Objektbeziehungen entwickelt hat und sich als ein elternloses Kind begreift. Und das ist ein Elend.

Es ist aber auch ein Elend, wenn Wissenschaftler, um ihre ehrgeizigen Ziele zu erreichen, sich mit unangemessenen Mitteln dieses Themas bemächtigen.

 

Anschrift des Verfassers: Dipl. Psych. Dr. Arnim Westermann, Gesellschaft für soziale Arbeit, Wolbecker Windmühle 25, 48167 Münster

s.a. Kinder im Spannungsfeld zwischen Pflege- und Herkunftsfamilie
s.a. Schwierigkeiten und Widersprüche in Pflegefamilien und deren therapeutische Potentiale
s.a. Einbahnstraße Pflegefamilie? Zur (Un)Bedeutung fachlicher Konzepte in der Pflegekinderarbeit

 

 

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