FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2000

 

Soziogenetische Hypothesen
zur Entwicklung der konkurrierenden Erkenntniswege

von Kurt Eberhad (1999)

 

Vorbemerkung: die folgende historische Skizze ist zwecks Übersichtlichkeit linear geordnet und extrem reduktionistisch. (s. Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Kohlhammer/Stuttgart, 1999)
C.M. (Sept. 00)

 

  1. Ökologische Veränderungen vor ca. 10-20 Millionen Jahren (klimabedingte Reduzierung und Übervölkerung der tropischen Wälder) führen zum aufrechten Gang der Vormenschen in Busch- und Graslandschaft.
     
  2. Zunahme der Frühgeburten
     
  3. Überleben der frühgeborenen Kinder nur bei besonders liebevollen und besonders intelligenten Müttern.
     
  4. Durch Frühgeburt bedingte Instinktarmut erzwingt Lern- und Erkenntnisprozesse.
     
  5. Erkenntnisgegenstand ist die nährende und gefährdende Natur.
     
  6. Der durch Instinktarmut bewirkte Abstand von der Natur ('Erbsünde', 'Entfremdung', 'Dissozialität') muß möglichst überwunden werden.
     
  7. Einfühlende Verbindung (unio mystica) der Sammlerinnen und der Wildbeuter mit der Natur.
     
  8. Traumerlebnisse während des Schlafs bewirken Glauben an eigenbewegliche Seele bei Mensch und Tier.
     
  9. Glauben an Weiterexistenz der Seele nach dem Tod.
     
  10. Herstellung traumhafter Zustände zwecks unio mystica mit verstorbenen Menschen und Tieren: Rauschmystik mittels pflanzlicher Drogen, Musik und Tanz.
     
  11. Erste soziogenetische Hypothese: In allen Sammler-, Wildbeuter- und Jägerkulturen Dominanz des mystisch-magischen Erkenntnisweges!
     
  12. In eindeutigen Sammlerkulturen Überlegenheit der Frauen; kollektive Mystik ohne Hierarchie. In eindeutigen Jägerkulturen Überlegenheit der Männer; Mystik unter Leitung eines dazu Berufenen: schamanistische Mystik.
     
  13. Ökologische Veränderungen (klimabedingte Reduzierung und Übervölkerung der Busch-Gras-Landschaft) führen zur Abwanderung in für Sammeln und Jagen untaugliche, aber fruchtbare Flußlandschaften.
     
  14. Entwicklung von Seßhaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht: neolithische Revolution.
     
  15. Ackerbauern suchen nicht die mystisch-magische Verständnisinnigkeit mit der Natur, sondern unterwerfen sie mit Axt und Pflug und orientieren sich am tradierten Wissen ihrer Vorfahren: naiver Dogmatismus.
     
  16. Kriegerische Auseinandersetzungen um fruchtbare Gebiete.
     
  17. In leicht zugänglichen Gebieten wechselnde Herrschaft konkurrierender kriegerischer Männerverbände über die seßhaften bäuerischen Sippen.
     
  18. Gefolgschaftsideologie der Krieger, projiziert auf Götter und Helden: Durchsetzung des Patriarchats in Politik und Mythos.
     
  19. Projektive Hermeneutik durch einflußreiche Dichter und Sänger (z.B. Skalden und Barden). Deren Gegenspieler (ebenfalls projektiv-hermeneutisch): Bußprediger und Propheten. (Mangel an impliziter Glaubwürdigkeit wird kompensiert durch agitatorische Rhetorik, poetische Ästhetik, magische Kompetenz, höfische Standesehre, asketische Opferbereitschaft etc.)
     
  20. Zweite soziogenetische Hypothese: In allen Ackerbau- und Viehzuchtkulturen, die von konkurrierenden kriegerischen Verbänden beherrscht werden, Dominanz der projektiven Hermeneutik!
     
  21. In den großen Flußlandschaften legen ökologische Gegebenheiten weiträumig organisierte Wasserwirtschaft nahe.
     
  22. Erfolgreiche Wasserregulierung ermöglicht und erzwingt (wegen Ausbau und Pflege der Bewässerungssysteme sowie deren militärischem Schutz vor Feinden) zentralisierte politische Organisation der verschiedenen Stämme.
     
  23. Inthronisierung überregionaler Fürsten und Priester bzw. überregionaler Priester-Könige: patriarchale Theokratien.
     
  24. Entwicklung stämmeübergreifender Glaubens- und Gesetzessysteme.
     
  25. Erfindung der Schrift zwecks Kodifizierung u. Verbreitung des Glaubens und der Gesetze.
     
  26. Zentrale Verwaltung der rechtlichen und weltanschaulichen Dogmen durch Könige und Priester: weltliche und kirchliche Bürokratie im feudalistischen Staat.
     
  27. Antworten auf gesellschaftliche Erkenntnisinteressen durch hermeneutische Deutungen und logische Deduktionen aus den kodifizierten Dogmen.
     
  28. Dritte soziogenetische Hypothese: In allen seßhaften, feudalistisch zentralisierten Ackerbau- und Viehzuchtkulturen Dominanz des deduktiv-dogmatischen Erkenntnisweges!
     
  29. Wirtschaftliche und militärische Expansion.
     
  30. Blühender Fernhandel unter militärischem Schutz.
     
  31. Zunahme von Macht und Einfluß der Kaufleute in allen städtischen Zentren.
     
  32. Schwächung der kirchlichen, Stärkung der weltlichen Macht: Tendenz zum Absolutismus.
     
  33. Geld- und Zinswirtschaft: Frühkapitalismus.
     
  34. Entwicklung des abstrakten Denkens und der Mathematik.
     
  35. Deduktiv-logische Rationalität bricht - auch in der Theologie - die Vorherrschaft der klerikal autorisierten Dogmatik: Tendenz zum Rationalismus als späteste Ausformung des weitgehend säkularisierten deduktiv-dogmatischen Erkenntnisweges.
     
  36. Vierte soziogenetische Hypothese: In allen merkantilistisch-militaristischen Staaten Dominanz des deduktiv-rationalistischen Erkenntnisweges!
     
  37. Herstellung revolutionierender Produktionsmittel (mechanischer Webstuhl, Spinnmaschine, Dampfmaschine) durch physikalisch geschulte Handwerker (Techniker, Ingenieure), verbunden mit neuen arbeitsteiligen Produktionsverfahren in rationalisierten Fabriken: industrielle Revolution.
     
  38. Entwicklung vom Handwerker zum Techniker und Ingenieur in Wechselwirkung mit der Entwicklung von der naiven Naturbeobachtung zur messenden, verrechnenden, mathematisierend-verallgemeinernden Physik: vom naiven Empirismus zum induktiv-empiristi-schen Erkenntnisweg.
     
  39. Der induktiv-empiristische Erkenntnisweg ermöglicht unter Nutzung des mathematischen Erbes des deduktiv-rationalistischen Erkenntnisweges die systematische Erfassung der durch Fernrohr, Mikroskop, internationalen Erfahrungsaustausch anwachsenden Informationsflut: deskriptive und induktive Statistik.
     
  40. Induktiv-empiristische Techniker und Ingenieure gelangen als Fabrikanten zu Reichtum und politischem Einfluß.
     
  41. Fünfte soziogenetische Hypothese: In allen technisierten Industriestaaten Dominanz des induktiv-empiristischen Erkenntnisweges!
     
  42. Explosiver Zuwachs gesellschaftlichen Reichtums, konzentriert in den Händen der Kapitaleigner; soziales Elend bei den Arbeitern.
     
  43. Wachsende ökonomische Bedeutung des Kapitalhandels gegenüber dem Warenhandel.
     
  44. Zunehmende Herrschaft des Bankkapitals über die industrielle Produktion.
     
  45. Bedeutungszuwachs der induktiv-empiristisch nicht zu bewältigenden ökonomischen Wissenschaften.
     
  46. Wegen erheblicher Beobachtungs- und Meßprobleme im Mikro- und Makrokosmos eilt die von militärischen und wirtschaftlichen Interessen vorangetriebene theoretische Physik der Empirie weit voraus.
     
  47. Gebraucht wird eine Philosophie, die die theoretische Ratio von den empiristischen Konstruktionsregeln des induktiv-empiristischen Erkenntnisweges befreit und sie gleichwohl an die Kontrolle nachfolgender Empirie bindet.
     
  48. Sechste soziogenetische Hypothese: In allen hochkapitalistischen, d.h. vom Kapitalhandel beherrschten Industriestaaten Dominanz des deduktiv-theoriekritischen Erkenntnisweges ('Kritischer Rationalismus')!
     
  49. Weitere Konzentration gesellschaftlichen Reichtums und gesellschaftlicher Macht in privaten Händen.
     
  50. Gegenpolitik der unterprivilegierten Produzenten.
     
  51. Arbeiterbewegung, Gewerkschaften, Tarifautonomie, Sozialgesetzgebung, Arbeitermitbestimmung, Vermögensbeteiligung, Genossenschaften, Regierungsbeteiligung etc.
     
  52. Tendenz zum sozialistisch kontrollierten Kapitalismus.
     
  53. Die offen ausgetragenen gesellschaftlichen Widersprüche werden zum Hauptthema der Sozialwissenschaften.
     
  54. Theorien über gesellschaftliche Widersprüche entziehen sich weitgehend der auf dem deduktiv-theoriekritischen Erkenntnisweg geforderten empirischen Prüfbarkeit.
     
  55. Demgegenüber gewinnt der dialektisch-materialistische Erkenntnisweg an Gewicht, weil er wegen seiner Axiomatik für die Analyse materiell bedingter, historisch entwickelter, innergesellschaftlicher Widersprüche als angemessener gelten kann.
     
  56. Wegen der politischen Priorität der gesellschaftlichen Widersprüche avancieren die Sozialwissenschaften zur Leitwissenschaft des sozialistisch kontrollierten Kapitalismus.
     
  57. Siebente soziogenetische Hypothese (Prognose): In allen sozialistisch kontrollierten kapitalistischen Staaten, d.h. Gesellschaften mit starker Gegenmacht des 'inneren Proletariats', Dominanz des dialektisch-materialistischen Erkenntnisweges!
     
  58. Fortschritt zu immer mehr menschheitsgefährdenden hochsensiblen Technologien (Chemoindustrie, Atomenergie, ABC-Waffen, Gentechnologie etc.). Kampf um die Verteilung der Risiken überschattet den Kampf um die Verteilung des Profits: Risikogesellschaft.
     
  59. Trend zum technokratischen Überwachungsstaat und zur anarchistischen Gegenkultur mit technologisch nicht lösbaren Aufgaben im Reproduktionsbereich (vgl. anarchistische und antitechnokratische Ideologien in der gegenwärtigen alternativen Sozialarbeit/Sozialpädagogik).
     
  60. Wegen ihres direkten Praxisbezuges, ihrer kommunikationsoptimierenden Wirkung, ihrer abduktionslogischen Legitimation und ihrer anarchischen Grundtendenz allmähliche Durchsetzung der Aktionsforschung im Reproduktionsbereich.
     
  61. Existentielle Abhängigkeit des technokratischen Sicherheitsstaates von der Funktionsfähigkeit des Reproduktionsbereichs und dessen quantitative Ausdehnung wegen fortschreitender Arbeitszeitverkürzung führen zum ideologischen Primat des Reproduktionsbereichs gegenüber dem zunehmend automatisierten Produktionsbereich.
  62. Achte soziogenetische Hypothese (Prognose): Im technokratischen Überwachungsstaat entwickelt sich der anarchistische Erkenntnisweg der Aktionsforschung vom subversiven zum dominanten, evtl. systemsprengenden Paradigma!

 

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