FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2003

 

Berliner Pflegekinderwesen in der Gunst?

Ein Kommentar zu der Entwurffassung der Ausführungsvorschriften
über Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege


von Christoph Malter

 

In allen Ländern wird das Geld knapp. Die Wirtschaft spricht von Rezession und Inflationsgefahr. Kommunen sind am Rande der Zahlungsunfähigkeit, das Land Berlin gesteht öffentlich seine Pleite. Den Berliner Pflegeeltern aber soll es künftig besser gehen. Sie sollen neuerdings Supervisions-, Beratungs- und Fortbildungsangebote in nie da gewesenem Umfang erhalten. Das kärgliche Erziehungsgeld würde mit 450 Euro monatlich mehr als verdoppelt.

Über Jahrzehnte hinweg gehörten die Berliner Pflegeeltern zu den am meisten vernachlässigten in ganz Deutschland. Ausgenommen davon war die relativ kleine Gruppe der heilpädagogischen Pflegefamilien. Das Modell der heilpädagogischen Pflegefamilie wurde als vorbildlich gelobt und inspirierte das Pflegekinderwesen in allen anderen Bundesländern. Diese Entwicklung war das große Verdienst Peter Widemanns, des ehemaligen Koordinators für das Pflegekinderwesen in der Berliner Senatsverwaltung, der sich aus eigener Betroffenheit als Heimkind langjährig und bundesweit für das Pflegekinderwesen engagierte. Die Berliner Vollzeitpflege war dagegen über viele Jahre das Schlusslicht in der bundesweiten Rangskala. Jetzt stürmt sie zur Spitze.

Das populäre Argument für solche Wohltaten lautet: ‚Kostendämpfung durch mehr Vollzeitpflege’. Sogar die Qualität will der Nachfolger Peter Widemanns, Thilo E. Geisler, gesteigert wissen (s. Qualitätsverbesserung und Kostendämpfung durch mehr Vollzeitpflege). Der neue Koordinator für das Pflegekinderwesen hüllte sich bisher darüber in Schweigen, auf welche Weise das gelingen soll (s. Diskussionsbeitrag von Nabert). Nun wissen wir es: mit einer radikalen Destruktion der ‚Großpflegestellen’ und der ‚heilpädagogischen Sonderpflege’! Bisher wurden diese ‚Vielfachpflegeeltern’ und ‚Semiprofessionellen’ geachtet, gefördert und unterstützt. Nicht nur wegen der kostengünstigen Alternative zur Heimerziehung, sondern besonders wegen ihres umfangreichen Erfahrungswissens. ‚Finanzielle Abhängigkeiten’ vom Leistungsträger galten als ebenso selbstverständlich wie sonst in der professionellen Pädagogik. Nun sollen nach Geislers Änderungsentwurf die heilpädagogischen Profieltern zur Opferbereitschaft der gutbürgerlichen ‚Pflegemuttis’ zurückkehren. Solche Idealistinnen wird er kaum bekommen, und wenn er sie bekommt, werden sie sich nicht für die harte Erziehungsarbeit an den seelisch geschädigten und verhaltensgestörten Kindern eignen, wie sie heutzutage vermittelt werden. Die in gut betreuten heilpädagogischen Pflegestellen signifikant reduzierten Abbrüche werden wieder kräftig zunehmen. Ist das etwa gewollt?

Unzumutbar und gegen geltende Rechtsgrundsätze verstoßend sind die vorgesehenen Kürzungen um ca. 25% bis sukzessive ca. 50% beim Erziehungsgeld für ‚heilpädagogische Pflege’. Sie werden – längst nicht in allen Fällen – ersetzt durch ‚Vollzeitpflege mit erweitertem Förderbedarf’, der einer alljährlichen Überprüfung unterworfen werden soll. Zeigt sich dabei eine psychosoziale Genesung, wird der zusätzliche Förderbetrag gestrichen. Unter solchen Umständen müssten viele tüchtige Pflegeeltern aufgeben, und in anderweitige Berufstätigkeiten zurückkehren. Als Alternative bliebe ihnen nur die Umwandlung zur ‚Erziehungsstelle’ in Heimträgerschaft zu den dreifachen Kosten, und unter Verlust des gesetzlichen Verbleibensschutzes.

Worin liegen nun die angekündigten qualitativen Verbesserungen? Den Pflegeeltern soll professionelle Beratung, Supervision und Fortbildung angeboten werden. Kraß monopolistisch wirkt dabei, dass nur die staatliche Pflegeelternschule zur Vorbereitung geeignet sein soll, nicht aber z.B. die überregional vom PFAD Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien sowie von dessen Landesverbänden angebotenen Kurse, oder die Seminare der AGSP. Die AGSP bietet qualifizierte Beratung, Supervision und Fortbildung bereits seit mehr als 20 Jahren (s. Entwicklungschancen für vernachlässigte und mißhandelte Kinder in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien).

Durchgängig fällt die einseitige Favorisierung des die Herkunftsfamilien begleitenden ‘familienergänzenden Modells’ gegenüber dem die Herkunftsfamilien substituierenden ‘Ersatzfamilienmodells’ ins Auge, obwohl mehr als 70% der Pflegekinder aus vernachlässigenden, misshandelnden und mißbrauchenden Familien stammen und deshalb auf schützende und heilende Dauerbindungen angewiesen sind (s. Traumatisierte Kinder in Pflegefamilien und Adoptivfamilien). Langjährige Erfahrungen und neue Forschungsergebnisse dazu werden ignoriert (s. Sachgebiet Traumaforschung). Statt vorgängiger diagnostischer Abklärung, ob eine vorübergehende oder dauerhafte Inpflegegabe erforderlich ist, wird immer wieder die Rückkehroption betont – das ist genau das Gegenteil von dem, was von allen Kinderschutzexperten gefordert wird.

Sollten die politisch Verantwortlichen sich tatsächlich zu diesem kontraproduktiven Änderungsentwurf hinreißen lassen, würden sie auf Dauer weder Kosten sparen, noch Qualität gewinnen. Aber vielleicht wurde der vorliegende Entwurf geschrieben, um Diskussionsbeiträge wie diesen zu provozieren?!

(Januar 2003)

 

 

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