FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2003

 

Kommentierende Ergänzung von unserem Leser
Mani Meschgbu
zum Buch
Hitlers Urenkel

 


Eine ergänzende Sichtweise zum psychischen Hintergrund pathologischer Gewalttäter im rechtsradikalen Gewand.

Andreas Marneros hat mit "Hitlers Urenkel" ein gutes und interessantes Buch geschrieben. Leider fehlt ein Kapitel in diesem Buch, wodurch die Sichtweise des ganzen Problems nur aus einem bestimmten Blickwinkel erfolgt und daher nicht vollständig ist. Was fehlt, ist der gesellschaftliche Hintergrund. Diese Schrift versteht sich daher nicht als entgegenstehende Kritik, sondern als kritische Ergänzung.

Anfangs berichtet der Chefarzt der Psychatrischen Klinik der Universität Halle-Wittenberg Andreas Marneros von sich selbst als zypriotischer Grieche und ,Wahldeutscher', der in seinen jungen Jahren von der griechischen Diktatur geprägt gewesen ist, und die Wandlung Deutschlands von der Hitlerdiktatur zur modernen Demokratie als gelungenen Paradigmawechsel (S. 13) offensichtlich sehr bewunderte und gegenüber dem Regime seines Herkunftslandes als sein politisches Ideal ansieht.

Ich möchte annehmen, daß seine persönliche Einstellung und sein Blickwinkel auf die Beurteilung der Täter, die Konsequenzen und Präventionen sehr von den eigenen politischen Erfahrungen und seinem eigenen politisch-gesellschaftlichen Weltbild geprägt sind. Ebenso verhält es sich mit den in dem Buch geschilderten Ansichten der jüdischen Lehrerin Mrs. Whiteberger, die sich ja in Folge ihrer eigenen Jugenderfahrungen im NS-Deutschland sehr kritisch über die Deutschen äußert. Marneros meint: "Das Schicksal hat es nicht gut mit ihr gemeint. .... wenn man allein ist, alt und krank und verloren, werden Erinnerungen wieder besonders lebendig. Wehe dem, der nicht aus guten Erinnerungen leben kann." (S. 20) Damit soll ausgedrückt sein, daß die persönliche Lebenseinstellung und Lebensansichten eines Menschen wesentlich von seinen Erfahrungen geprägt ist.

Marneros klagt (Kategorie) die nackte Gewalt des Rechtsradikalismus an und verteidigt (Apologie) das demokratische Bild seiner liebgewonnenen Wahlheimat Deutschlands, welches im Ausland aufgrund der Vorkommnisse in die Kritik gerät. Ich stimme hier mit seinen Ausführungen voll und ganz überein.

Gleich zu Anfang bemerkte Marneros jedoch schon, daß er auch Anklage erhebt gegen das gesellschaftliche Klima, welches diesen Totschlägern zum Gedeihen verhilft. Er bemängelt hierzu später vor allen zu wenig Engagement der Medien und Bevölkerung. Ferner zeigt er beiläufig auf, daß die eigentlichen Drahtzieher, die Finanziers, die Anstifter, die rechtsextremen Ideologen im Hintergrund sind, die mit Geld und Intelligenz oftmals die ,Totschläger' ideologisch lenken. Im juristischen Sinn sind diese Drahtzieher daher leider selbst weder Totschläger noch Gewalttäter und können entsprechend als visuelle Mittäter nicht belangt werden. Doch, das sei nicht Thema dieses Buches.

Das ist nach den Gesetzen unseres Landes formaljuristisch auch richtig, doch sollte der Tatsache mehr Beachtung geschenkt werden, denn diese Drahtzieher spannen die jungen Radikalen vor ihren Karren. Das ist insbesondere deshalb bedeutend, da Marneros ja festgestellt hat, daß diese armen Kerle aus zerrütteten Familien mehrheitlich ja eigentlich gar nicht politisch denken, ja gar nicht über die geistigen Voraussetzungen für politisch motiviertes Handeln verfügen. Sind sie dann nicht polemisch ferngesteuerte Marionetten, daher eigentlich gar nicht die Urenkel Hitlers?

Ich meine ja, und dies wird gleich beim ersten Mörder Adrian sichtbar, der im Gespräch mit Marneros gar kein Motiv für seine Tat angeben konnte. Marneros legte ihm eine Suggestivfrage in den Mund: "Weil er schwarz war?" und Adrian antwortete. "Ja das haut hin" Im Gericht schrie Adrian genau diese suggerierte Antwort aus voller Inbrunst dem Richter um die Ohren. (S. 33/34)

Dies hat mich nachdenklich gestimmt. Marneros hat ja aus all seinen Beobachtungen festgestellt, daß sich diese Jungs an den plattesten Parolen orientieren. Eigene geistige Gedankengänge sind offensichtlich nur schwer in Bewegung zu setzen, was sich auch aus der Mehrheit der schulischen Biographien zeigt. Ich schließe daraus, daß diese Jungs mehrheitlich in verbaler Konfrontation mit ihrer Tat nur schwer fähig sind, über Motive und Gefühle zu reden. Sie wissen gar nicht, wie das geht, da mit ihnen als Kind offensichtlich nicht über die Symbolfragen der Sesamstraße "wieso - weshalb - warum" gesprochen wurde. Sie wurden als Kind vor Tatsachen gestellt und die hießen Schläge, Desinteresse an ihrer Person und "Klappe halten". Das ist die Sprache, die sie verstehen, die konditioniert bzw. im Jargon der Hirnforscher neuronal verschaltet ist. Einfachste Parolen verstehen sie, das kommt an, mehr nicht. Sie durften als Kind nicht fragen und die Sesamstraße gibt auch gleich die Antwort, was dann passiert: "wer nicht fragt, bleibt dumm!"

Bastian und andere konnten auch keine Reue für ihre Tat empfinden und der genannte wollte wohl nach seiner Entlassung wieder in die Szene zurückkehren. Er konnte und/oder wollte seine Einstellung zur Tat nicht ändern. Einfach nur "Nee". Das klingt heftig und macht wütend. Man ist geneigt, Bastian als unbelehrbares ,Monster' für immer zu verwahren.

Was ich in dem Buch leider nicht finde, sind ausführliche Fragen und Antworten an die Jungs dazu, wie die Jungs in die Szene kamen. Es wird nur kurz und knapp dargestellt, daß es die Suche nach Gruppenanschluß ist. Anerkennung und Zugehörigkeit ist bei den Jungs, wie bei jedem Menschen, ein ganz großes Thema, denn beides haben sie meist weder in der Familie noch in der Schule erfahren. Es ist wichtig, zu schauen, wie die Jungs in die Szene hineinkommen, welche Motive sie leiten, dort zu bleiben.

Natürlich ist uns das Motiv im groben klar, doch ist es wichtig, die Jungs dies aus ihrer persönlichen Sicht, ihrer persönlichen Schilderung ausführlich schildern zu lassen. Sie müssen sich über ihre Mechanismen und Motive selbst klar werden, wozu ihnen der eigene innere Zugang fehlt.

Hier liegt möglicherweise ein Präventivansatz, um zu verhindern, daß aus den Jungs Gewalttäter werden, was möglicherweise aber auch ein aussichtsloses Unterfangen sein kann. Das sich dahinter verbergende Problem ist nämlich kein rechtsradikales, sondern es führt uns direkt zu den psychosozialen Problemen unserer Gesellschaft.

Hier werden nämlich die Defizite unseres demokratischen Gesellschaftssystems erkennbar, die andere Seite unserer Leistungsgesellschaft, das Dilemma derer, die leistungsmäßig nicht mitkommen, die nicht zu den Gewinnern zählen, nicht von unserem System profitieren können, sondern im Gegenteil die Verlierer im Leistungswettbewerb sind. Wenn wir uns dieses Thema genau anschauen, dann zeigt sich ein unschönes Gesicht unseres demokratischen Systems, das keiner sehen will, doch diese Kehrseite ist da und wir dürfen sie nicht länger ignorieren, wenn wir Rechtsradikalismus verhindern wollen. Schauen wir uns dieses soziologische Problem einmal genau an, wohlwissend das Andreas Marneros als erfahrener Psychiater es mit Sicherheit genau kennen dürfte.

Die Jungs haben in ihrer Kindheit fast keine Anerkennung bekommen, sie sind geschlagen, verstoßen, umher geschubst, mißachtet und mißbraucht worden, mißbraucht von ihren prügelnden Vätern und Stiefvätern, die ihre eigene Wut an den kleinen Jungs abgelassen haben. Die Motive der Väter kennen wir nicht, doch dürften diese ähnlich liegen, wie bei den Kids, wenn sie Ausländer totschlagen. Es geht ja nicht um eigentlich politische Motive, sondern es ist nach Marneros pure Gewalt, pure Kriminalität.

Kinder lernen von ihren Eltern und alles was die Jungs in ihrer Kindheit gelernt haben ist, das sie als Kind, als Mensch offensichtlich nicht viel wert sind. Sie sind die Kleinen und Schwachen und haben sich den Starken zu fügen, sonst gibt es dresche. Das ist deren Konditionierung, ihre neuronale Verschaltung, ihre Normalität. Dabei wissen sie oft gar nicht, was sie falsch gemacht haben könnten. Der alkoholisierte Vater brüllt und prügelt oft nach Belieben. Das ist die Feststellung der Jungs, ihre Erfahrung. Demnach sind sie verunsichert, haben Angst, Angst vor der Autorität des Vaters, der prügelnden Strafe, die vielfach offensichtlich keiner, für ein Kind logischer Kausalität unterliegt. Entsprechend leben diese Kids in ständiger Angst und diese chronische Angst ist nur zu ertragen, wenn die eigenen Gefühle unterdrückt werden, d.h. sie töten innerlich ihre eigene kindliche Gefühlswelt. Folglich können diese Kids auch keine Empathie empfinden. Sie haben Empathie selbst kaum für sich erfahren und es hat ihnen als Kind auch niemand beigebracht, wie Mitgefühl funktioniert. Daher ist Mitgefühl für sie ein Wort aus dem ,chinesischen', sie verstehen es nicht, was sich ja auch in den Interviews klar gezeigt hat. Sie wissen damit nichts anzufangen und ohne Kenntnis der Empathie kann auch keine Reue für die Tat entstehen. Reue ist für diese Jungs ebenso ein Begriff, mit dem sie wenig anfangen können, und wenn sie diesen Begriff zumindest geistig erfassen können, das ist es ihnen unmöglich daran zu glauben, daß es so etwas überhaupt geben kann, was der Realitätssinn dessen ist.

Als Kinder haben sie ihre Normalität dahingehend kennengelernt, daß die Gewalt des Stärkeren das Sagen hat. Der Starke ist der Sieger, er ist im Recht. Das haben sie gegenüber dem Vater erfahren und auch in der Schule, sogar von den Behörden, denn diese sind stark und können über das Kind bestimmen, ob es ins Heim kommt oder in die Psychiatrie. Man kann dieses Muster nicht verallgemeinern, es gibt auch Kinder, die sich trotz einer schwierigen Kindheit sozialisieren können, doch das entschuldigt nicht, daß es statistisch eine erhebliche Anzahl von sozialen Problemfällen in Folge schwieriger Kindheitsverhältnisse gibt.

Unser gesamtes Gesellschaftssystem, unsere leistungsorientierte, freiheitliche Demokratie basiert auf dem Prinzip Gewinner und Verlierer. Das wird uns von Anfang an beigebracht. Unsere Schulzensuren (man verinnerliche sich das Wort Zensur einmal in seiner ganzen Bedeutung) mit seinen Noten von 1-6 drücken das aus.

"Wehe, Du kommst mit einer Fünf nach Hause", das hat jeder von uns schon von seinen Eltern gehört. Wir möchten daher gut sein, zu den Gewinnern, zum oberen Drittel gehören, eine 1 oder 2 schreiben, denn eine 3 ist nur Mittelmaß, eine 4 nur knapp ausreichend, am unteren Ende des noch vertretbaren, doch eigentlich schon nicht mehr wirklich vertretbar, von einer 5 oder 6 brauchen wir gar nicht erst reden. So funktionieren mehrheitlich unsere fest etablierten Denkstrukturen.

Unser System erzieht uns dazu, nicht zu verlieren, doch wenn wir gewinnen wollen, muß es zwangsläufig auch Verlierer geben. Jeder von uns hat schon mehrmals verloren und kennt das niederschmetternde Gefühl, letzter zu sein; beispielsweise im Sport, im Wettlaufen. Es kann nur einer gewinnen, die anderen sind demnach Mittelmaß und unterschiedlichen Abstufungen, doch auch sie haben nicht verloren und können daher ihre Gefühlswelt noch retten. Doch einer muß verlieren. Einer ist der letzte, und dieses bedrückende Gefühl kennt jeder von uns und keiner möchte es erleben, letzter zu sein, der Verlierer, der Schlechteste.

Zum Glück passiert es den meisten von uns nur gelegentlich, dadurch können wir es kompensieren. Doch schauen wir uns die Biographien dieser Jungs an. Sie sind nahezu immer ganz hinten, ganz unten. Sie hatten nie wirklich eine Chance. Sie sind schon als Kind die Verlierer unseres Leistungssystems. Je öfter man verliert, desto größer wird die Sehnsucht, einmal zu gewinnen, einmal oben zu sein, wenigstens einmal, wenn auch nur kurz und - was das fatale ist, egal wie und egal wodurch. So werden diese Jungs zu Totschlägern, sie wollen einmal über einen anderen Menschen triumphieren. Wie der prügelnde Vater über das Kind triumphiert und die Klassenbesten in der Schule triumphieren, so möchten diese Jungs auch einmal Erfolg haben, oben sein.

Den Jungs sind die Erfolgserlebnisse der bürgerlichen Welt nahezu vollständig verbaut. Sie haben keinen ordentlichen Schulabschluß, bewegen sich geistig am untersten Level, sind psychisch total zerrüttet, weitestgehend sozialisationsunfähig und haben daher keine Chance auf einen guten Beruf, ein ordentliches Einkommen, kein bürgerliches Leben, wie es von Medien und Gesellschaft als Idealbild überall gepriesen wird. "Mein Haus, mein Boot, mein Pferd". Diese Reklame einer Bank ist so typisch für unsere Gesellschaft und mit all dem können die Jungs sich nicht identifizieren, Sie haben kaum eine Chance der Teilhabe. Sie bekommen dann meist Sozialhilfe und sind somit wieder am untersten Level.

Wer nun einwenden möchte, daß die Jungs doch selbst schuld sind, daß sie doch pädagogische Hilfe und therapeutische - und soziale Unterstützung bekommen haben, der möchte sich einmal mit den Studien und Statistiken der Soziologie über die Probleme der primären und säkularisierten, psychosozialen Konditionierung und Integration von Kindern aus extremen Problemfamilien beschäftigen. Andreas Marneros kennt sicherlich das Problem und die Schwierigkeit, hier erfolgreich therapieren zu können. Oft erweist sich das als unmöglich. Die primäre Konditionierung als Kind wirkt extrem nachhaltig und kann nur bedingt verändert werden. Diese primäre Sozialisation dieser Kids ist nicht nur teilweise, sondern völlig fehlgelaufen, doch sind die Kids daran selbst schuld?

Ich meine nein, denn es sind die Eltern, das persönliche Umfeld und das öffentliche Erziehungswesen (Kindergärten und Schulen), die in unserer Gesellschaft für die primäre Sozialisation ausschlaggebend sind. Diese Faktoren bestimmen die Erfahrungen des Kindes, die sich neuronal im Gehirn verankern. (vgl. u.a. Gebauer /Hüther: Kinder brauchen Wurzeln, Düsseldorf 2001 - und hinsichtlich des politischen Aspektes: Hillary Clinton: Eine Welt für Kinder - Original: It takes a village to educate a child, New York 1996)

Wir erleben die aktuelle Diskussion über die pädagogischen Probleme unseres Schulwesens (Pisa-Studie) bereits für "noch relativ normale" Kinder. Lehrer sind auch mit normalen Kindern immer öfters überfordert, da ihr Einfluß auf die Kinder gegenüber den äußeren Faktoren von Medien, Eltern und Umfeld immer mehr zurückgeht. Für solch harte Brocken, wie unsere Jungs fehlt ihnen erst recht die spezifische fachliche Qualifikation und die Ausdauer, sich auch noch damit zu beschäftigen. Sie sind mit der Situation meist überfordert, auch wenn sie sich noch so zu engagieren versuchen. Denn was sie vielleicht Vormittags in der Schule oder im Kindergarten bzw. Sonderschule positives in kleinsten Schritten erreichen, wird Nachmittags im sozialen Umfeld der Hochhaussiedlungen und Sozialwohnungen, vom prügelnden Vater, der desinteressierten Mutter...usw. wieder zunichte gemacht. Wenn die säkularisierenden Bemühungen sofort wieder durch die alltäglichen primären Erfahrungen erstickt werden, dann kämpft jeder noch so engagierte Einzelpädagoge mit seiner eigenen Ohnmacht.

Auch die Spezialisten der Sonderschule oder des Heimes für verhaltensgestörte Kinder können da oft wenig ausrichten. In der Sonderschule sind die Kids weitestgehend unter ihresgleichen und anschließend gehen sie wieder nach Hause. Im Heim sind sie auch unter ihres gleichen und haben vielfach keine deutlich besseren Spiegel, keine positiven, normalen Verhaltensvorbilder. Versuche von gemischten Schulen stoßen auf die Kritik der Unterforderung der normalen Schüler, die dann in ihrer Entwicklung gemäß ihres Leistungsniveaus benachteiligt sind. Wir können das Blatt drehen und wenden, wie wir wollen, offensichtlich führt vielfach jeder eingeschlagene Weg in die Sackgasse.

Ich frage daher noch einmal. Haben diese Kids eine Chance mit relativen Erfolgswahrscheinlichkeiten? Ich bleibe bei meinem relativen NEIN! Sind sie selbst schuld? Ich meine auch NEIN!

Sie sind sozial schon als Kind geächtet. Mit ihnen wollen normale Kinder nicht spielen, denn sie sind zu aggressiv, denn etwas anderes haben sie von ihren Vätern und den anderen Kids aus ihrem sozialen Umfeld, die oft ähnliches erlebt haben, oft nicht kennengelernt. Und wenn es anfängliche Kontakte gibt, dann werden diese nicht selten von den Eltern ,normaler Kinder' unterbunden, die um den Umgang ihrer Kinder besorgt sind. Ich will diese Verhalten jedoch nicht aburteilen, denn als Vater zweier Mädchen bin auch ich nicht frei von solch besorgten Gedanken.

Dann kommt für unsere Gewalttäter die Pubertät, die Zeit in dem ein Kind auf die Suche geht, die Suche nach seiner Position im Leben, im Leben als zukünftiger Erwachsener. Nun wird es schwierig, die zusätzliche pubertäre Labilität, die jeden trifft, ruft bei diesen Kids extreme Auswirkungen hervor. Jugendliche suchen Anschluß, sie identifizieren sich über Interessengruppen und auch hier finden diese Kids keinen Platz in der Normalität. Niemand will sie, da niemand "ihre Art" der als Kind konditionierten Kommunikation incl. Gewalt versteht, damit umgehen kann und auch nicht damit umgehen will. Jetzt entwickelt sich die Psyche dahingehend, daß sie sich selbst nicht mehr wollen. Sie sind verloren in unserer Gesellschaft. Es verstärken sich die Eigenschaften der negativen Aufmerksamkeit, d.h. diese Kids provozieren um beachtet zu werden, denn auch als Kind wurden sie ja vorwiegend negativ beachtet, in dem sie geschlagen oder ignoriert wurden.

Es ist fatal, doch diese Art der negativen Aufmerksamkeit wird nun zum Mittel der Selbstachtung dieser Kids. Sie definieren ihren Selbstwert darüber, daß sie geächtet werden, daß sie nichts wert sind. Wenn keine andere Identifizierung mehr übrig bleibt, nehmen die Jungs eben diese soziale Rollenidentität an. "Schaut her, ich bin der Böse, ich war immer der Böse und will der Böse sein, da du mich ja sowieso als böse empfindest." So suchen sie Gleichgesinnte und finden sie in den rechtsradikalen Gruppen, Streetgangs und als Fußballholligans. Hier finden sie Kameraden, die sie wenigstens verstehen, denn diese sind nicht anders, sie teilen ihr Schicksal, wie die Biographien zeigen. Und das negative Image der Gruppe stimmt auch, darüber können sie sich tagtäglich in den Medien vergewissern. Demnach fühlen sie in der rechtsradikalen Gruppe offensichtlich richtig, sie werden endlich einmal beachtet von der Öffentlichkeit. Man schaut auf sie, imagegerecht in abwertender negativer Sichtweise. Sie fühlen sich endlich zu Hause, die Jugendodyssee findet ihren Hafen. Sie suchen und finden das Äquivalent zu ihrer Kindheit.

Die Gruppendynamik verschafft zusätzliche Sicherheit gegenüber möglichen Selbstzweifeln zu Gewalttaten, es wird ja auch oft innerhalb der Gruppe geschlagen und es existieren oft straffe Hierarchien. Die anderen denken genauso, legitimieren damit die Gewalt, räumen Zweifel aus. Andererseits reduziert diese Gruppendynamik die Hemmschwelle der Gewalt drastisch. Ein Einzelner kann sich der gemeinsamen Tat der Gruppengemeinschaft gar nicht so einfach entziehen und erst recht nicht einwirken, auch wenn er persönlich Zweifel an der Richtigkeit der Tat hat.

Ein Problem ist hier, daß Zweifel und Kritik des Einzelnen die Zugehörigkeit zur Gruppe gefährden. Wir verlangen von dem Rechtsradikalen ja die selbstkritische Abkehr von diesen Gruppen, doch der Platz den wir diesen potentiellen Abtrünnigen in unserem System einräumen ist wiederum der unterste Platz. Hocharbeiten müssen sie sich schon selbst und bekommen hierfür ein wenig Hilfe. Doch die Hilfe hat schon auf der Sonderschule und im Heim nichts genützt, diese Form von Hilfen kennen die Kids vielfach eher negativ.

Daher schauen sie sich die Optionen aus ihrer primitiven Sichtweise an. In der Gesellschaft ganz unten sein oder in der rechtsextremen Gruppe im Mittelfeld unter Kumpels integriert? Vergleichen wir diese Optionen mit dem Sport:

Wer würde die 1. Mannschaft wählen, wenn er zwar zum Kader gehört, jedoch meist nicht einmal auf der Reservebank sitzt, alternativ jedoch in der 3. Mannschaft als Stammspieler mitspielen kann. Die Mehrheit von uns will mitspielen und das wollen diese Jungs auch. Doch bei uns können sie nie im Mittelfeld mitspielen, weil sie nicht gut genug sind für unser System. Sie haben das normale Gesellschaftsleben von den Optionen ihrer Herkunft nie wirklich lernen können, denn man ließ sie geistig und emotional verkümmern. Daher ist die Gruppe von Gleichgesinnten der einzige Strohhalm den sie kennen, in der Gruppe sind sie anerkannt und unterliegen daher der Gruppendynamik und dem Gruppenzwang, genauso wie sich der normale Bürger sich mehr oder weniger bewußt und/oder unbewußt den gesellschaftlichen Konventionen unterwirft.

Doch es kommt für die Jungs in der Gruppe "noch besser!" Die Gruppe ist stark und endlich kann auch der Einzelne stark sein, indem man ein noch schwächeres Einzelopfer sucht, der Ausländer, der Behinderte. Indem sie diese noch Schwächeren totschlagen, sind sie endlich auch einmal stark, haben ihr Erfolgserlebnis, ihren Kick des Siegers, den unsere Gesellschaft so preist. Für einen Moment stehen sie auf der Siegerplattform, sie teilen aus und stecken nicht ein, wie sie es als Kind erfahren haben. Sie sind dann in der Vaterrolle und wenn diese Jungs zu Familienvätern würden, dann dürfen wir von der sehr hohen Wahrscheinlichkeit ausgehen, daß sie genauso auf die eigenen Kinder einprügeln würden, wie es ihnen selbst widerfahren ist.

Das Opfer wird wahllos in der Öffentlichkeit ausgemacht und traktiert. Und nun wirken auch noch die verhängnisvollen Rollen der Weggucker aus der Straßenbahn, der Medien und der rechten Ideologen. Letztere sagen, "gut gemacht, Junge!" Die Weggucker leisten passive Zustimmung und die Medien reagieren empört. "Wow! Was für ein Erfolg, jetzt bin ich stark, was für eine Tat, alle Welt spricht über mich!" Das ist das unsichtbare Empfinden der Jungs, obwohl ihnen das oft gar nicht so bewußt ist. Und dieser Erfolg, diese Beachtung will gepflegt sein, sie wollen mehr solche Kicks, denn sie geben den Jungs das, was jeder braucht, was jeder sucht, nämlich Erfolg, Anerkennung und Selbstbestätigung.

Diese Jungs nehmen die negative Art von Anerkennung und Erfolgserlebnis an, die vermeintlich einzige, ihnen unsere Gesellschaft noch übrig läßt, da alle anderen Disziplinen von anderen Gewinnern belegt sind. Sie kennen das nicht anders und empfinden die Untat entsprechend anders, als wir es tun, eben oft nicht so barbarisch, in ihrer Wucht nicht so extrem, zumindest nicht in diesem Moment. Ihr wirkliches Bewußtsein/Unrechtsbewußtsein für die Untat, für ihr eigenes barbarisches Verhalten ist nicht in der Form ausgebildet, wie wir das für einen normalen Menschen mit ausgeprägter Hemmschwelle für körperliche Gewalt voraussetzen.

Sie hätten theoretisch wie praktisch zwar anders handeln können, da stimme ich Marneros zu, doch die Gewichtigkeit der Entscheidungsoptionen sind bei den Jungs anders geartet, ihnen gehen affektiv die "Hassgefühle" durch und es fällt ihnen schwer, ihren Rausch zu stoppen. Ich möchte diese Art der Wutkompensation bzw. des Abreagierens einmal mit einem ekstatischen Sexualerlebnis vergleichen. Es verlangt einige Selbstbeherrschung für einen Mann, im Moment höchster Erregung drei Sekunden vor dem Orgasmus zu stoppen, und sich dabei plötzlich zu erinnern, den Orgasmus gar nicht vollziehen zu dürfen, und das, wenn man schon ein Jahr keinen Sex mehr hatte und auch nicht weiß, wann sich die nächste Gelegenheit ergibt. Die angestaute Wut, die sich in dem Moment der Gewalttat entlädt hat bei diesen Jungs ein Potential, wie es sich nur wenige normale Menschen vorstellen können. Erkennbar wird dies an der enthusiastisch gebrüllten Motiväußerung von Adrian im Gericht. (S. 34) Der angestaute Hass auf alles, was ihnen als Kind im Leben angetan wurde ist enorm und dieser grenzenlose Hass auf den Vater und auf die Gesellschaft sucht nach einer Projektionsfläche um sich entladen zu können.

Marneros liegt daher richtig, daß die Jungs Deutschland hassen, denn Deutschland steht für ihr Umfeld, für das Leben was sie kennen, doch dieses Deutschland können sie nicht als Projektion verwenden, denn ihnen wurden deutschnationale Ideale plakativ eingeimpft. Wenn Deutschland richtig deutsch wäre, mit einer klaren Struktur, entsprechend der NS-Propaganda, dann wäre alles in Ordnung. Sie träumen von einer heilen Welt, ohne Drogen, Kriminalität, mit einer normalen einfachen Arbeit, klaren für sie verständlichen Strukturen, was erlaubt bzw. nicht erlaubt ist. Das Ideal finden wir in den NS-Progagandafilmen der KDF. All das hat ihnen als Kind gefehlt und nun handeln sie konträr zu ihrem Ideal, sie trinken Alkohol, prügeln, vergewaltigen, sind kriminell, ohne es wirklich zu merken. Es ist paradox, sie haben ihre eigene Wirklichkeit gespalten und verdreht. (über-ich, ich, abgespaltenes Unterbewußtsein) Wenn der Gutachter sie damit konfrontiert, sind sie verdutzt. (Sie müssen Deutschland sehr hassen?; Sie sind kein Ausländer, sondern ein Professor; McDonalds; Pizza) Denn sie verstehen nicht wirklich den Widerspruch ihres eigenen Verhaltens, das was sie paradoxes tun, sie verstehen ihre Psyche, ihre Konditionierung nicht.

Damit sind sie nicht allein. Die Minderheit unserer Gesellschaft versteht die eigene Konditionierung. Auf anderer Ebene reagiert die Mehrheit der Bevölkerung mittels Projektionen nach gleichem Muster und auch Mrs. Whiteberger tut dies. Auf gesellschaftlicher Ebene hat dieses Problem aktuell der Bonner Soziologe Meinhard Miegel in seinem Buch "Die deformierte Gesellschaft - wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen" aufgezeigt. Es ist das gleiche Problem. Es befällt fast jeden von uns. Nur die Fachkräfte (und auch hier bei sich selbst nur eine Minderheit) und diejenigen die Psychotherapie kennen, verstehen ansatzweise, wie unser psychosoziales Verhalten funktioniert und energetisch und dynamisch wirkt.

Daher kann unsere Gesellschaft auch gar nicht anders, als die Jungs zu verurteilen, denn diese Verurteilung ist Teil unserer Konditionierung und Differenzierung in gut und schlecht. Man kann nur gut sein, wenn es jemanden gibt, der schlecht ist. Und so projizieren wir das Schlechte auf andere, denn wir selbst sind ja gut, wenn auch nicht der Beste, so dennoch gut. Diese Einstellung funktioniert jedoch nur so lange, wie es jemanden gibt, der wirklich schlecht ist. Auch Schlechtsein ist ein Image, ein "Corporate Identity", welches ein so wesentliches Merkmal unserer Gesellschaft und seiner Menschen ist. Ich bin ein Guter, ein Professor, ein Arzt, ein toller Fußballspieler, ein Boß, ein Angestellter, wobei letzterer Begriff schon nicht mehr als besonders attraktiv gilt, so daß diese Leute sich ein zusätzliches Image aus anderen Aktivitäten wie z. Bsp. Sport oder Hobby und Kultur aufbauen.

Diese Jungs empfinden, daß sie schlecht und böse sind, daß haben sie als Kind nicht anders gelernt. So nehmen sie dieses Image unbewußt an, wenn keine andere Möglichkeit der Beachtung und Position möglich scheint. Daher glaube ich nicht, daß das Image als eine von drei Waffen gegen das Verhalten der Jungs eingesetzt werden kann, wie es Marneros befürwortet. Ohne intensive Therapie, die in den Gerichtsurteilen offenbar nicht angeordnet worden ist, können die Jungs den Begriff Image nicht verstehen und ihr eigenes folglich auch nicht wandeln.

Ein negatives Image schließt die Verurteilung des eigenen Verhaltens durch andere ein. Somit leben die Jungs in der permanenten Angst, ständig verurteilt und kritisiert zu werden, was Andreas Marneros ja in Form der großen Angst vor der Justiz bemerkt hat. Doch diese Angst ist in den Jungs fest einprogrammiert, sozusagen Bestandteil ihrer Konditionierung. Sie kennen die dauerhafte Angst vor den Schlägen des Vaters, dem "Richter" in der Familie, dessen widersprüchliches Verhalten sie nicht wirklich verstehen - und in seinem vielfach willkürlichen Verhalten nicht nachvollziehen können. Da sie die Urteile des "väterlichen Richters" nie verstanden haben, verstehen sie auch die der Öffentlichkeit und der Judikative nicht wirklich. Für sie sind Richter in ihren Entscheidungen wahrscheinlich auch unberechenbar, wie der Vater, der mal mehr, mal weniger prügelt und vielleicht auch einmal gar nicht.

Aus diesem Grund stimme ich Marneros zu, daß milde Bewährungsstrafen hier nicht helfen, sondern sogar das Gegenteil, also neue Taten fördern können. Diese Jungs wissen Barmherzigkeit nicht zu schätzen, es ist für sie etwas willkürliches, eher Glück, wie ein Lottogewinn. Sie können Milde nicht als Kredit, als guten Willen und positives Vertrauen in die eigene Person werten, da in Ihrer Kindheit Lob und Tadel meist nicht in Einklang mit ihren persönlichen Handlungen standen.

Um der väterlichen Prügel instinktiv zu entgehen, oder diese zu mildern, haben sie als Kind wahrscheinlich unterwürfiges Verhalten gegenüber dem Vater gezeigt, in der Hoffnung, daß das Urteil, die Prügel etwas milder ausfällt. Diese Verhalten zeigen sie auch gegenüber dem Gutachter. Sie betteln nach Milde und tun alles, um vielleicht Milde zu erlangen. Sie leugnen und vertuschen, das mußten sie auch als Kind, wenn sie etwas angestellt hatten, ob sie den Apfelsaft umgeschüttet haben oder was auch immer passiert bzw. nicht passiert ist. Genau dieses Verhalten legten sie auch im Gespräch mit Marneros an den Tag. Als der Gutachter ihnen nach der Verurteilung Hilfe anbot, hat sie das fast immer verdutzt. Das konnten sie nicht glauben, das kannten sie nicht, daß sich jemand wirklich für sie interessiert, von Mensch zu Mensch, denn das heißt ja, das diese Jungs auch Menschen sind, was sie nie wirklich erfahren durften und sich entsprechend auch nicht so wahrnehmen. Sie sind folglich irritiert und verwirrt und das nicht nur in Bezug auf die Hilfe von Herrn Marneros sondern generell.

Auch die letzte Waffe Marneros, die Scham, ist nur sehr eingeschränkt wirksam, denn wer seine eigenen Gefühle intensiv abgeschnürt hat, folglich keine bzw. nur sehr eingeschränkte Empathie empfinden kann, der kann auch keine Reue empfinden und folglich auch kein Schamgefühl. Wer hat sich geschämt, als sie selbst als Kind gestoßen wurden, wer hat da Reue empfunden, wer hat sie getröstet, ihnen Mitgefühl entgegengebracht? Niemand! Stattdessen gab es Schläge und Mißachtung. Die Eltern wurden gegenüber den Kids in der Regel nicht zur Verantwortung gezogen, und wenn, dann war es mit dem Verlust der Bezugsperson verbunden.(Gefängnis, Scheidung, Kinderheim)

Folglich haben die Jungs ein verwirrtes Richtigkeitsempfinden. Ursprünglich war auch ihnen in der Kindheit das Ideal klar, was eigentlich richtig sein soll, doch haben sie in ihrer Kindheit so erhebliche Ambivalenzen erfahren müssen, bei gleichzeitiger Vernachlässigung ihres Geistes, daß Ideal und Realität in für sie unverständlicher Form gespalten sind. So haben sie ihre Erfahrungen in Form einer widersprüchlichen Um-bzw. Außenwelt verschaltet und sehnen sich folglich nach klaren und einfachen Strukturen, was man tun und lassen darf. So einfach wie möglich, mehr kann dieser primitive, unterentwickelte Geist nicht aufnehmen. Daher springen sie auf rechtsradikale Parolen an, die sie verstehen. Demokratische Politik mit differierenden und variablen Ansichten können sie nicht verstehen, was sie empfänglich für die plakativen Parolen rechtsradikaler Ideologie macht. Auch hier werden sie somit wieder mißbraucht, diesmal von den rechten Führern und Ideologen. Hier können Vergleiche mit der SA angestellt werden. Diese Chaotentruppe wurde von Hitler zur Einschüchterung von Gegnern benutzt und nach Erlangung der Regierungsmacht unter Vorwänden aufgelöst, da mit den vielen primitiven Haudegen kein Staat zu machen war. Doch auch den einfachsten Leuten wurden in der NS-Zeit simple Aufgaben zugeordnet, die ihnen Wichtigkeit und Anerkennung verlieh und diese Anerkennung bekamen sie symbolisch als heroische Taten in der Wochenschau gespiegelt. Ähnlich lief das in der DDR, weshalb einige ältere Jungs die DDR-Welt als o.k. empfanden. In unserem System hingegen sind sie der Bodensatz, und das wird ihnen in der kritischen Berichterstattung unserer Medien ständig gespiegelt, während die DDR-Propaganda und die Nazis ja schöngeistig polemisiert haben.

Was für den einen gut ist, ist für den anderen ungünstig. Wir brauchen in unserem Leistungssystem die negative Berichterstattung über den Bodensatz, damit sich die Mehrheit der Bevölkerung der Zugehörigkeit zum Mittelstand und zu unserem System vergewissern kann. Das ist u.a. auch bei dem US-Soziologen Richard Sennet deutlich geworden, der sich in seinem vielbeachteten Buch "der flexible Mensch" über die selbstverkündete Mittelstandszugehörigkeit einfacher amerikanischer Bäckereiangestellter italienischer Abstammung gewundert hat.

Ich möchte nun zu meinem Resümee kommen und noch einmal auf die drei Waffen eingehen.

Marneros selbst schreibt auf S. 192, daß die Jungs ein Image suchen, "daß mit Stärke, Macht und Anerkennung zu tun hat", und daß wir ihnen rigoros mit allen Mitteln klar machen müssen, daß sie als Rechtsradikale verachtet und geächtet sind. "Willst Du etwa dazugehören? Ein Verbrecher sein? ...es sind Zeichen der Verlierer, das müssen sie verstehen".

Ich glaube verständlich gemacht zu haben, daß wir mit dem Rezept von Marneros nicht wirklich weiterkommen. Welches Image können wir den Jungs anbieten, das nicht den Bodensatz darstellt und wie können sie ein anderes, in unsere Gesellschaft integrierendes Image erlangen, mit ihrer völlig kaputten Psyche, mit ihrem tatsächlichen Hass auf Deutschland, auf unsere Gesellschaft, den sie ja gar nicht bemerken? Ihnen den Schaden für Deutschland aufzuzeigen, ist von Marneros ein kluger therapeutischer Ansatz, trotzdem; sein Rezept reicht nicht aus, wenn er sagt: "Es muß ihnen klar gemacht werden: Rechtsextremistische Gewalttäter sind Kriminelle wie jeder andere Kriminelle auch. .....Jede rechtsextremistische Gewalttat ist eine abscheuliche Gewalttat. Wie jedes andere Verbrechen." (S. 193)

Wie jedes andere Verbrechen! Diese Jungs brauchen positive Vorbilder, die sie in Führungspersönlichkeiten bzw. Vaterfiguren suchen. Doch wie verträgt sich dies mit der Tatsache, daß Verbrechen von Führungspersönlichkeiten in unserem System mit zweierlei Maß gemessen werden?!

Ein Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl schwört einen Eid auf die Verfassung und tritt diese mit Füßen. Er hält zum Gruppenzwang gegenüber seinen Spendenkumpels, vertuscht und beschönt und kommt dafür nicht ins Gefängnis. Ist dies nicht nur eine andere Ebene wie die Erfahrung der Jungs gegenüber ihrem Vater, der prügelt, nach außen meist vertuscht, beschönt und nicht geahndet wird, weil er mächtig ist, mächtig gegenüber dem kleinen Jungen? Der prügelnde Vater wird in der Regel auch nicht bestraft, für das, was er den Kids antut.

Ebenso Helmut Kohl, der auch mächtig ist. Ein Bundeskanzler ist der "Vater der Nation" und Helmut Kohl tritt die Nation mit Füßen, er hält sich nicht an seine Pflichten zum Wohle des Volkes, er hat uns mißbraucht für sein persönliches Machtsystem, welches er mit den Spenden finanziert hat. Die Betrogenen sind die Kinder, die Nation, wir wurden von ihm mißbraucht. Und die Nation ist fassungslos, ohnmächtig, genauso wie die kleinen Jungs. Es ist das gleiche Problem, nur auf einer anderen Ebene. Helmut Kohl zerstört damit die Moral und fördert die Korruption des Volkes. Das Unrechtsbewußtsein für Korruption verwischt sich, doch das wird von der Nation verdrängt, nicht wirklich wahrgenommen, bagatellisiert. Haben die Jungs anderes erlebt? Tun die Jungs etwas anders? Nein.

Ihr schlechtes Vorbild ist ihr Vater, der prügelt und das übernehmen sie, ihr Unrechtsbewußtsein ist ebenso verwischt, sogar noch viel stärker verwischt, denn sie müssen das Gefühl körperlichen Schmerzes unterdrücken und verlieren das Bewußtsein, was dies für das leidtragende Opfer wirklich bedeutet.

So ist das auch bei der Korruption. Wir ignorieren, was diese für die Unterlegenen bedeutet und verdrängen unsere eigene kriminelle Energie dabei. Auf dieser Ebene sind wir nicht minder kalt, als die Jungs. Es ist halt nur eine andere Ebene und diese Ebene nehmen wir in unserer Wirklichkeit als minder schlimm wahr, weil doch niemand körperlich zu schaden kommt. Korruption wird geistig abstrahiert. Das ist einfacher, als körperliche Gewalt zu abstrahieren, da die körperliche und emotionale Hemmschwelle für einen normalen Menschen deutlich ausgeprägter ist, als die geistig abstrakte Ebene. Die emotional-körperliche Hemmschwelle nehmen die Jungs nicht in der Form wahr, wie ein normaler Mensch, da sie sich ja nie emotional entwickeln konnten. Ständig mußten sie die körperliche Gewalt gefühlsmäßig kompensieren.

Wir messen die Jungs und ihre Taten nach unserem emotionalen Rechtsempfinden. Wir haben jedoch einen anderes Bezugssystem, ein anderes Wirklichkeitsempfinden als die Jungs. Ich verweise hier auf den Soziologieklassiker von Berger/Luckmann "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit", in dem sie aufzeigen, daß jede konstruierte Gesellschaft relativ ist und entsprechend auch deren Sozialisation. Sie sagen: "Erfolglose Sozialisation kann auch das Ergebnis widersprüchlicher Weltvermittlung durch signifikante Andere in der Primärsozialisation sein. .....'Richtig' sozialisierte Menschen neigen mindestens dazu, einen Druck auf ,falsch' sozialisierte auszuüben. (S. 180) Wenn eine Identitätstheorie immer in die umgreifende Theorie der Wirklichkeit eingebettet ist, so kann sie nur nach deren innerer Logik verstanden werden. ....Eine gute Illustration dafür ist der in der Psychiatrie so häufig gebrauchte Ausdruck ,wirklichkeitsorientiert'. Wenn ein Psychiater seine Diagnose über einen Mann stellen will, dessen psychischer Zustand zweifelhaft erscheint, so stellt er ihm gewisse Fragen, um den Grad seiner ,Wirklichkeitsorientiertheit' zu bestimmen. .....Der Soziologe allerdings muß zusätzlich Fragen: Um welche Wirklichkeit handelt es sich? ..:Der psychologische Status richtet sich nach der gesellschaftlichen Wirklichkeitsbestimmung im Ganzen und ist selbst gesellschaftlich bestimmt."(S. 186/187)

Ich konnte Marneros seinem Buch nicht entnehmen, daß er das soziologische ,Wirklichkeitsempfinden' der Jungs ausreichend berücksichtigt hat, insbesondere, wenn er die Mehrheit der Täter als persönlichkeitsgestört charakterisiert. Diese Charakterisierung ist nach Berger/Luckmann ja eben auch wirklichkeitsabhängig und nach den Ausführungen über den persönlichen Standpunkt des Gutachters, befindet sich dieser in einer nicht deckungsgleichen Wirklichkeit mit den Jungs.

Das wird ja auch ersichtlich aus der Aussage des Gutachters, "....wie jedes Verbrechen." Was Marneros mit "wie jedes Verbrechen" meint, bezieht sich m.E. sicherlich auf das gewalttätige Verbrechen körperlicher Art gleich welchem Motiv. Das Verbrechen des Ex-Bundeskanzlers hat er sicherlich nicht im Sinn gehabt. Doch auch dies ist ein Verbrechen "wie jedes Verbrechen". Wenn wir "von jedem Verbrechen" reden, dann müssen wir auch jedes Verbrechen nicht nur anklagen, sondern auch diesen die gerechte Strafe zukommen lassen. Und das geschieht bei uns mit unterschiedlichem Maßstab, nach dem Motto "Die Kleinen fängt man, die Großen lässt man laufen".

Und was ist mit dem Mißbrauch, der den Jungs als Kinder angetan wurde? Wer sühnt, wer richtet über diese Verbrechen? Schaut auf die Biographien! Wie sollen die Jungs ein für unsere Wirklichkeit angemessenes Unrechtsempfinden für körperliche Gewalt entwickeln, wenn dieses zwar theoretisch geächtet wird, in der erlebten Praxis des Vaters jedoch nie geahndet und sanktioniert wird? Mich haben die Erlebnisse der kleinen Kinder tief erschüttert und auch Andreas Marneros empfand vielfach großes Mitleid.

Was ist die Konsequenz, die wir ziehen müssen?

Wir empören uns über die fehlende Empathie der Jungs, sie sind für unsere Gesellschaft gemeingefährliche "Monster". Gemessen an ihren barbarischen Taten kann ich dies nicht leugnen. Doch sind sie wirklich nur "Monster". Wer hat sie zu dem gemacht?

Wer hinter die Kulissen schaut, muß auf die Kinder schauen. Kinder, die keine Chance haben, die ein Leben führen, welches für uns den blanken Horror bedeutet. Wo ist unsere Empathie für diese armen Kinder, mißbrauchte, verlorene Kinder in Deutschland. Sie wurden vom Opfer zum Täter in einem ausweglosen Kreislauf. Sind sie schuld? Sind sie schuldfähig, voll schuldfähig und haben sie ihre gerechte Strafe bekommen? Gewiss, sie hätten anders handeln können, doch Helmut Kohl hätte auch anders handeln können und wir können bei den vielen täglichen Vergehen, die wir selbst tätigen, auch anders handeln.

Wenn diese Jungs, diese gewalttätigen "Monster", voll schuldfähig sind, was sind wir dann für Monster, was ist dann mit Helmut Kohl, was für ein Monster ist er? Im Gegensatz zu den primitiven Jungs sind wir intelligent (möchte ich zumindest annehmen, denn die Mehrheit tut zumindest so) und verfügen über ein deutlich ausgeprägteres Bewußtsein (glaubt die Mehrheit zumindest von sich), als diese Jungs. Wir sind auch kriminell und wir wollen den Jungs klarmachen, daß ihre rechtsextremen Taten kriminell sind, "....wie jedes andere Verbrechen."

Herr Marneros hat Recht, daß die Jungs Deutschland in Wirklichkeit hassen, sie hassen unser Deutschland, welches wir in den Sonnenschein stellen wollen. Sie hassen uns, und sie lassen ihre Wut wahllos an vermeintlich noch Schwächeren aus. Dabei treffen sie die falschen, Menschen die auch nicht zu den Starken gehören. Ihre Wahllosigkeit - gilt diese nicht eigentlich uns, den Gewinnern, die wir ihren Hilfeschrei, den Hilfeschrei der mißbrauchten Kinder nicht erhören, nicht sehen wollen, sondern in ihnen nur die schuldigen Gewalttäter erkennen?

Wir sollen gegen rechtsextreme Gewalttäter so konsequent vorgehen, daß sie auch Nachts von der Polizei träumen, sagt Marneros. (S. 196) Wer geht so konsequent gegen Helmut Kohl vor, wer geht so konsequent gegen all die korrupten und mächtigen Industriellen vor? Wer geht so konsequent gegen uns alle vor?

Wir sollen ihnen nach Ansicht des Mecklenburgischen Richter ihr Outfit verbieten, damit "die so eines Stücks ihres Mäntelchens beraubt werden, damit ihr Image entfällt, "die Insignien ihrer vermeintlichen Macht."

Unsere Gesellschaft predigt ein Image, jeder strebt nach einem positiven Image. Welches Image wollen wir ihnen alternativ anbieten, welches sich gut anfühlt? Soziologisch betrachtet tragen diese Jungs für uns die rote Laterne, damit wir uns gut fühlen können, das ist ihre Identität, ihre Rolle in unserem System, in einem System, welches ohne einen Verlierer nicht auskommt, denn ohne Verlierer keine Gewinner. Ich kann dies nicht oft genug wiederholen.

Wer sind demnach diejenigen, denen eigentlich die Gewalt gehört, welche die Jungs fehlgeleitet an Ausländern und Behinderten auslassen? Die Wut und Gewalt gehört einerseits den rechten Ideologen, welche die Jungs mit Parolen ,fernsteuern' und mißbrauchen und mit Anerkennung für ihre Taten ködern, wie einen dressierten Hund, dem man ein Stückchen Frolic als Belohnung gibt.

Und ihre Gewalt gehört eigentlich den Medien und den Repräsentanten unseres Systems, den Politikern, der Legislative, die das Leistungsprinzip mit Gewinnern und Verlierern zulassen, manifestieren und predigen und pflegen. Ferner gehört ihre Gewalt uns allen, die wir letztendlich egozentrisch und egoistisch in diesem System leben und eine Position bekleiden, die irgendwo ab unterem Mittelfeld aufwärts angesiedelt ist. Last but not least gehört die Gewalt und der Hass ihren Eltern und ihrem direkten sozialen Umfeld in der Kindheit.

Da diese Jungs ihre Aggression nicht zielgerichtet dahin lenken können, wo ihr energetischer Gegenpol ist, also auf die eigene Herkunft und die Top-Gewinner der Gesellschaft, trifft es wahllos irgend jemanden, der nicht stark ausschaut. Denn irgendwo muß sich ihre Wut, ihre negative Energie entladen. Bei dem, was sie erfahren haben, können zwanzig Sandsäcke in einem Fitneßstudio diese ohnmächtige Wut nicht kompensieren, um aus ihrem in sich selbst gefangenen Kreislauf ausbrechen zu können. Das muß uns bewußt werden.

In meinen Augen sind die Jungs nur relativ schuldfähig, relativ zu ihrer Wirklichkeit. Doch sie werden nach unserer Wirklichkeit abgeurteilt und sollen abschreckende Höchststrafen bekommen. Ich glaube nicht an den Erfolg der Abschreckung, da sie in einer chronisch unterdrückten Angst leben. Das Element Angst, was der Abschreckung zugrunde liegt, ist bei den Jungs gestört, auch wenn Marneros diese Angst vor Verurteilung deutlich gespürt hat. Verurteilung und Prügel einstecken (vom Vater bzw. nun der juristischen Vaterinstitution) gehört zu ihrer Wirklichkeit dazu. In dieser Wirklichkeit haben sie auch keine Reue kennengelernt, niemand hat Reue gezeigt für das Unrecht, was den Jungs in ihrer Kindheit angetan wurde.

Die harten Gefängnisstrafen sind m.E. nicht gerechtfertigt und bringen wahrscheinlich auch keine Besserung. Warum? Das Gefängnis hat mal jemand als "Universität für Kriminelle" bezeichnet. Und das trifft es in der Tat. Die Jungs sind hier in ihrem gewohnten Milieu. Es gibt eine ausgeprägte Inhaftiertenhierarchie mit viel Gewalt. Wie soll da eine psychische Veränderung eintreten. Die therapeutischen Maßnahmen im Strafvollzug sind gering und bringen nichts, wenn die Gefangenen nach der Therapiestunde wieder mit der Wirklichkeit der Inhaftiertenhierarchie konfrontiert werden. Auch hier ist die Parallele angezeigt, zu den Bemühungen der Pädagogen in der Sonderschule und in Kinderheimen, die, wie schon erwähnt, meist wenig Erfolg haben.

Andererseits müssen wir die Allgemeinheit vor diesen pathologischen Gewalttätern schützen und ich stimme Marneros zu, daß Bewährungsstrafen meist nichts helfen, sondern das Gegenteil bewirken. Ob wir ihnen mit Härte oder Milde begegnen, sie werden in der Mehrheit wieder gewalttätig. Was also tun?

Ob die Jungs je erfolgreich zu therapieren sind, ist fraglich. Doch ist es gerecht, die Jungs im harten Strafvollzug wegzusperren? Mich würde interessieren, wie die Jungs selbst ihre Straftat in Bezug auf ihr selbst zu fällendes Urteil bewerten und in diesem Zusammenhang fällt mir die Geschichte von Sokrates ein. Im antiken Griechenland konnte der Angeklagte selbst ein Urteil und eine Strafe für sich vorschlagen. Was hätten die Jungs für sich selbst wohl gewählt?

Hier liegt meiner Meinung nach ein therapeutischer Bewusstheitsansatz. Das soll nicht heißen, das ich den Jungs erlauben möchte, ihre eigene Strafe für sich zu wählen, doch wenn sie sich hierzu äußern müßten, gezwungen werden, sich hiermit zu beschäftigen, selbst zu plädoyieren, dann gibt uns das möglicherweise einen Anhaltspunkt über ihr persönliches Wirklichkeitsempfinden und einen Ansatz zur Therapie. Doch unser Justizsystem ist für eine minimale Chance auf erfolgreiche Therapie unzulänglich ausgestattet.

Nun können Kritiker meiner Ansicht natürlich das für und wieder von Alternativansätzen hinsichtlich der Effizienz bewerten und in Relation zum personellen - und finanziellen Aufwand setzen. Das Verhältnis dürfte niederschmetternd ausfallen und nur die wenigsten würden erfolgreich therapiert werden können, das gebe ich zu.

Jugendtherapeutische Projekte wie ein "heißer Stuhl", um das innere Gefühlsleben der Gewalttäter zu reaktivieren sind gute Ansätze. Ich halte es darüber hinaus für wichtig, daß die Jungs stufenweise mit Opfern und potentiellen Opfern in Kontakt kommen und mit ,normalen' Menschen. Für Opfer kann das psychisch für die eigene Traumaverarbeitung ebenso hilfreich sein. Solche Kontakte dürfen nicht nur sporadisch sein, sondern die Regel, damit eine Resozialisierung und Aufarbeitung überhaupt erfolgen kann. Doch dafür haben wir keine Institutionen in unserem Gesellschaftssystem.

Wir brauchen Institutionen, die von Einzelhaft bis zur Wohnkommune vielfältige Formen der Sanktionen und Therapien ermöglichen. Mir schwebt für Strafgefangene eine Art Staat im Staat vor, mit einem kommunalen dörflichen Charakter, ähnlich der Behinderteneinrichtung in Bielefeld-Bethel. Mit Werkstätten, internen Übungsfirmen, Landwirtschaft, Freizeiteinrichtungen, Selbstverwaltungsformen, Finanzsystem in einer dem Alltag unserer Gesellschaft möglichst nahekommenden Form. Wichtig ist auch, daß ein optimaler ausgedehnter Übergang in die Freiheit geschaffen wird, dessen Dauer der Inhaftierte selbst mitbestimmen kann, in dem Sinn, daß er auch ggfs. wieder in eine offene Betreuung zurückkehren kann, wenn er selbst merkt, daß er es draußen nicht schafft. Wir müssen diesen Leuten ein Platz anbieten, wo sie Wurzeln schlagen können und sich willkommen, geliebt und aufgehoben fühlen. Es geht weitergedacht um die Schaffung von sanftgleitenden Übergängen, u.a. mit betreuten Wohn-und Lebensgemeinschaften, die im letzten Stadium vielleicht mit anderen Problemfällen (junge Mütter, Behinderte, Asylanten, diverse Problemarten nach dem 12-Punkte System) kombiniert werden können, damit eine Identifizierung mit vielfältigen Spiegeln möglich ist und ein System gegenseitiger Hilfe und Stütze erwirkt werden kann.

Dieser Weg ist visionär, revolutionär, langwierig, aufwendig und teuer. Doch wir müssen ein therapeutisches Justizwesen kreieren, welches unserer Wirklichkeit, unserem Gesellschaftssystem möglichst nahe kommt. Nur so haben Kriminelle aus schwierigen sozialen Verhältnissen, eine nicht nur theoretische Chance, resozialisiert zu werden. Vielleicht möchten einige auch für immer in solchen Einrichtungen bleiben, weil sie endlich ein zu Hause finden können. Dann sollten wir ihnen auch dies im Umfeld einer solchen Institution ermöglichen. Sie können dann dort eventuell beruflich tätig werden und für andere ein Vorbild abgeben und damit wesentlich zur Resozialisation anderer beitragen und aktiv mithelfen.

Was machen wir jedoch mit einem Problemfall wie Helmut Kohl, der im Sinn unseres Gesellschaftssystems nicht aus schwierigen sozialen Verhältnissen und anderen Wirklichkeiten kommt, der sich seiner Taten im Sinne von Marneros voll bewußt und voll schuldfähig ist, der mehr als alle Kriminellen schwieriger Herkunft anders handeln könnte?

Solange diese Form von Kriminalität, Korruption und Wirtschaftskriminalität insbesondere unserer Oberschicht nicht minder hart geahndet wird, wie es für die armen rechtsradikalen Jungs gefordert wird, solange wird sich an unseren Verhältnissen nichts ändern. Tatsächlich ist unsere Führung und wir selbst offensichtlich gar nicht interessiert und bestrebt, wirklich etwas zu ändern. Darin liegt das Problem.

Wir müssen präventiv handeln und nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Erst wenn die Medien zur Stelle sind, dann werden unsere Politiker kosmetisch aktiv. Wir müssen verhindern, daß heranwachsende Kinder solche oder ähnliche Schicksale erleben. Nicht einmal nur halb so schwere Schicksale dürfen Kinder erleben. Damit sind wir in der Debatte um die Familienpolitik, deren aktuelle Diskussion bis hin zu den Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes die desolate und benachteiligte Situation von Familien und alleinerziehenden Müttern in Deutschland hinreichend darstellt.

Ich möchte hier einen Aspekt anführen, der bislang in dieser Diskussion weitestgehend fehlt und nur von einigen wenigen Pädagogen und Soziologen aufgezeigt wird. Wir haben eine gesellschaftliche Ordnung mit Regeln und Gesetzen vielfältigster Art. Wir brauchen Ausbildungen, Qualifikationen und Prüfungen für alles mögliche, vom Autofahren über Berufe, Gaststättenkonzessionen, Bauverordnungen, Arzneimittelzulassungen ...usw. Doch wer bildet Eltern aus, wie man Kinder großzieht? Wer schult Eltern über die Mechanismen ihrer eigenen psychischen Konditionierung und wie diese an die Kinder weitergegeben wird? Wer definiert ein pädagogisches Wertegefüge für Kinder und Erwachsene? Wer beurteilt, ob Eltern überhaupt in der Lage sind, Kinder angemessen großzuziehen?

Ich persönlich empfinde es absurd, daß wir alles regeln, damit eine gesellschaftliche Ordnung gegeben ist, doch bis auf ein pädagogisches Schulsystem, welches primär Wissen vermittelt und nicht Verhaltensweisen lehrt und internalisiert, überlassen wir die Sozialisation der Kinder den Eltern bzw. dem Schicksal des sozialen Umfeldes, in dem die Kinder aufwachsen. Später brauchen wir dann säkularisierte Zwangsmaßnahmen, die wir deshalb geschaffen haben, weil der Mensch nach Thomas Hobbes ein gehetztes Tier ist, unfähig zur freiwilligen sozialen Gemeinschaft, welches sich einem Herrscher unterwirft, damit keine Anarchie herrscht.

Doch wenn wir die primäre Erziehung der Kinder besser gestalten, dann brauchen wir diese anderen Regeln oftmals gar nicht so umfangreich und restriktiv. Wenn wir Kinder einheitlich und vielfältig erziehen, dann haben wir eine Chance auf eine Generation, die wieder mehr Mitmenschlichkeit an den Tag legt. Doch dafür brauchen die Kinder Vorbilder, die kommunitaritiver (entsprechend der Philosophie des Kommunitarismus, vgl. auch Hillary Clinton: "Eine Welt für Kinder" Hamburg 1996) eingestellt sind, eine maßvolle Orientierung in der Mitte idealisieren, als es aktuell mehrheitlich der Fall ist, in unserer Schneller-Höher-Weiter-Gesellschaft.

Kinder brauchen möglichst viele und unterschiedliche Bezugspersonen, um Vielfalt zu lernen. Ich plädiere daher für Ganztagsschulen, die ein neues Hauptfach bekommen, und zwar "psychosoziales Verhalten". Wir müssen den Menschen und insbesondere der künftigen Generation beibringen, wie die Psyche funktioniert, wie wir unsere eigenen negativen Gefühle und Handlungen in uns unterdrücken und auf andere projizieren. Wir müssen die ganzheitliche humanistische Psychologie stärker einbinden. Rationeller Empirismus allein führt uns nicht weiter. Das hat schon David Hume vor 250 Jahren philosophisch bewiesen. Wir müssen auch ernsthaft überdenken, inwieweit das permanente Trommelfeuer der Medien und Kulturindustrie auf die Kinder negativ einwirkt. Wir werden von Konsumverführungen erstickt. Das bezeichnen wir als Freiheit. Doch ist die damit verbundene Suggestion, hinter der ausgeklügelte psychologische Werbestrategien stecken, wirklich Freiheit oder nicht auch verdeckte Manipulation, die damit alles andere als Freiheit ist?

Wir müssen radikal umdenken und die Menschen bewußt machen, ihnen ein Bewußtsein über die Mechanismen ihres eigenen Verhaltens vermitteln. Das ist m.E. von vorrangiger Wichtigkeit, was wir brauchen und tun müssen, um mehr Mitmenschlichkeit und Gemeinschaft zu fördern. Säkularisierte Sozialisation ist sehr schwierig, da die primären Erfahrungen nachhaltig anhaften, also gilt es, die primäre Sozialisation künftig positiv und präventiv zu beeinflussen. Bislang entwickeln sich Kinder nur so gut, wie die Erziehung der Eltern dies aus ihren eigenen Fähigkeiten vermittelt und das wird in unserem jetzigen System letztendlich auch so bleiben. Ich halte es daher für wichtig, Kinder nicht einseitig der moralischen Erziehung der Eltern auszusetzen, doch das ist gar nicht so einfach, da dies fundamentale Änderungen in unserem Gesellschaftssystem erforderlich macht.

Hier wird nun sicherlich eingewendet, daß eine verstärkte staatliche Erziehung die persönliche Freiheit einschränkt. Das mag sein, doch wieweit darf der Liberalismus gehen? Eine Frage die aktuell insbesondere hinsichtlich der globalen Wirtschaft in Form des ultraliberalen Turbokapitalismus auch auf anderer Ebene brandaktuell ist.

Wir haben die Wahl. Wenn wir das, was wir Freiheit nennen, (in meinen Augen jedoch keine Freiheit ist) über alles stellen wollen, dann müssen wir uns darüber im klaren sein, daß es diese Auswüchse am unteren Rand der Gesellschaft gibt, ja das sie unvermeidlich sind, genauso wie die Auswüchse am oberen Rand zunehmen, die der Turbogewinner, die Superreichen, deren Lebensauswüchse in immer mehr Klatschkolumnen hedonisiert werden. Gewinner und Verlierer sind nur zwei unvermeidliche Pole in einem System der Gegensätze, des Wettbewerbs und der Konkurrenz, in einer Schneller-Höher-Weiter-Gesellschaft. Das die Verlierer sich in irgend einer Form bemerkbar machen, ist eine unvermeidliche Tatsache, genauso wie sich die Gewinner in den Klatschkolummnen der Illustrierten darstellen.

Marneros sieht völlig richtig, daß der Rechtsradikalismus nur ein Mäntelchen ist. Wenn wir dieses Mäntelchen bekämpfen, wird sich die Gewalt nur ein anderes Kleid suchen, doch verschwinden wird sie nicht. Das muß uns klar sein. Gewalt ist schon immer ein Teil unserer Gesellschaft gewesen, in vielfältiger Weise, ob kirchliche Gewalt, Folter, Krieg, Wirtschaftsmacht, Tyrannei, Freiheitsbeschränkung, Unterdrückung, Mißbrauch, Verleumdung, Heuchelei, Lüge und Psychoterror. All dies sind Gewaltformen, die wir je nach persönlichem Standpunkt selbst einsetzen und entsprechend nicht richtig in ihrer ganzen Dimension wahrnehmen.

Was wir vorrangig registrieren ist körperliche Gewalt, da wir für diese durch die Medien verstärkt emotionalisiert werden. Außerdem haben wir uns schon immer an Krimis ergötzt. Wenn die Medien ebenso über andere Formen von Gewalt berichten würden, würden wir diese auch emotional intensiver registrieren. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß wir geneigt sind, genauso schnell wieder zu vergessen, wenn wir nicht permanent erinnert werden. BSE und unser damit kurzzeitig reaktionäres Kaufverhalten in Form von Verzicht soll hier nur ein Beispiel auf anderer Ebene sein.

An keine Gewaltform wird so nachhaltig erinnert, wie körperliche Gewalt, einerseits, weil jeder von uns schon einmal körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen ist, und diese physisch schmerzhafte Erfahrung neuronal verschaltet hat. Andere Gewaltformen übersehen wir viel leichter, da die körperliche Gewalt gesellschaftlich am meisten geächtet ist und die wirtschaftlichen und psychischen Gewaltformen in unserer Gesellschaft der Gegensätze zum Alltag gehören. Wir müssen uns über die verschiedenen Gewaltformen, die wir auf andere richten, bewußt werden. Wir müssen ihre Mechanismen erkennen. Wir projizieren die Gewalt nach außen, um unsere eigenen Schattenseiten nicht sehen zu müssen. Wir müssen jede Form von Gewalt in unserem Inneren aufheben, neutralisieren. Ändern wir also unsere Betrachtungsweise, nicht äußerlich, sondern in unserem Inneren, in unserem Denken. Wir müssen weg vom gegensätzlichen Denken, vom "Ich und die Anderen" Prinzip, vom Entweder - oder" Paradigma. Das hat auch Kofi Anan erkannt und fordert in seinem Buch "Brücken in die Zukunft" einen Paradigmawechsel. Doch leider hat auch er kein neues Paradigma in Aussicht. Doch sein Ansatz geht weg vom Konkurrenzdenken. Doch gerade dieses Konkurrenzdenken ist das Prinzip unserer Leistungsgesellschaft und die Winner -Sehnsucht beherrscht unseren Medienalltag.

Wir haben nur eine minimale Chance, den Jungs zu helfen, und zwar in der Form, das wir ihren Circulus vitousus nach innen durchbrechen. Daran müssen wir uns alle beteiligen, indem wir uns selbst ändern.

Herr Marneros schreibt Mrs. Whitehead im letzten Kapitel einen Brief und widerspricht ihrer einseitigen Ansicht über das Bild der Deutschen. Er versucht ihr klar zu machen, daß ihr negatives Bild der Deutschen auf ihren traumatischen Erfahrungen in der NS-Zeit beruht und nicht die aktuelle Einstellung von 99% der Deutschen wiedergibt. Marneros sagt, daß rechtsextremistisches Gedankengut nicht vollständig ausgerottet werden kann. Das ist richtig, denn wir erzeugen dieses Gedankengut selbst. Unsere Gesellschaft selbst ist der Boden dafür. Rechtsextremismus ist nur eine politische Ansicht von vielen, weshalb auch diese in unserem demokratischen Rechtsstaat toleriert werden muß. NS ist eine vermeintlich sehr konsequente Theorie für eine streng hierarchische Lebensgemeinschaft von Gleichgesinnten, die Andersgesinnte territorial ausgrenzt. Das vermeidet Konflikte mit Andersdenkenden, wird jedoch folglich innerparteiliche Konflikte unweigerlich dann herbeiführen, sobald kein Gegner im Außen existiert. Daher brauchen Rechtsradikale einen Gegner.

Das Gefährliche daran ist, diese Ideologie absolut zu setzen, diese anderen Menschen mit all ihrer bekannten ideologischen Unvollkommenheit und Grenzüberschreitungen aufzwingen zu wollen. Das ist Extrem, das ist verwerflich! Das ist zu verurteilen.

Doch was tut denn unser demokratisches System? Rein philosophisch betrachtet, ist es auch rechtsextrem. Rechtsextrem in dem Sinne, daß wir es als richtig betrachten, solche Leute tatsächlich plakativ auszugrenzen, zu verurteilen, auch wenn wir ihre Organisationen vielfach dulden. Wir lehnen diejenigen ab, die eine demokratische Vielfalt ablehnen, die ganz feste Strukturen wünschen, ja brauchen. Hier prallen zwei Ideologien aufeinander, die sich nicht vereinbaren lassen. Unser System sieht nicht vor, diesen Nationalsozialisten einen Raum zu schaffen, in dem sie ihre Ideologie im kleinen Leben können, (allerdings ohne Militarismus) und die Nazis lehnen die Demokratie grundsätzlich zugunsten einer straffen Führung ab.

So sind wir beide rechtsextrem, die Nazis, weil sie uns ihre Ideologie als absolut entgegensetzen und wir, weil wir unsere Ideologie gegen deren verteidigen. Wir betrachten die Demokratie als besser, weil humaner, mitbestimmender, doch nicht jeder will Demokratie. Dies zu akzeptieren, ist Bestandteil der Demokratie und das macht die Position der Demokratie gegenüber einer Diktatur deutlich komplizierter, als die einfache Einseitigkeit der Nazis. Die Auseinandersetzung muß erfolgen unter den Ideologen, den Neo-NS Funktionären und unseren Politikern. Warum nicht auch in den Medien, in Talkshows, in sachlichen Kontroversen. Hier werden die Rechtsideologen ausgegrenzt und diese Ausgrenzung schafft erst den Raum für die Gewalt, zu der die Rechtsideologen die Jungs anstiften und verführen. Marneros hat auf S. 15 auf diese Hintermänner aufmerksam gemacht, darauf, daß wir ihnen Widerstand leisten müssen und auch darauf, daß wir sie juristisch leider nicht belangen können, doch "das sei nicht Thema dieses Buches". Bei all dem dürfen wir nicht vergessen, dass die Geschichte uns lehrt, dass sich Diktaturen und Despotien immer nur entwickeln können, wenn es Schieflagen in bestehenden Gesellschaften gibt. Das sollte uns wachrütteln und realistisch auf unsere Gesellschaftsprobleme zu schauen, ohne das permanente Parteien-Showdown, welches letztendlich wirkliche Reformen aus Klientellobbyismus und Wahlkampftaktiken verhindert. Wir müssen in der Praxis ehrlicher werden, dann haben die Rechtsideologen mit ihren plakativen Parolen keine Chance. Dann können wir ihre Luftblasenrhetorik bloßstellen, vorausgesetzt, unsere Politik hört selbst auf Luftblasen zu produzieren.

Doch genau hier ist der einzig mögliche Ansatz zu einer Auseinandersetzung. Fordern wir die Hintermänner, die NS-Ideologen auf, sich über ihre Ideologie konsequent mit uns auseinanderzusetzen. Sie müssen uns öffentlich erklären, wie sie mit Andersdenkenden umgehen wollen und warum wir sie (die Neonazis) tolerieren sollen, (was ja in einer Demokratie bis zu einem gewissen Grade äußerlich tatsächlich geschieht), während sie diese Toleranz anderen nicht zubilligen. Sie mögen sich erklären. Hören wir ihnen zu!!!

Das psychologische Ergebnis der Gewalt und des Machstrebens der NS-Ideologen hat uns schon die Pop-Band "Die Ärzte" mitgeteilt. "....deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe...." Im Gegensatz zu den Kids, die offen zu ihrer Gewalt stehen und sie anwenden, sind die Hintermänner feige, indem sie andere vorschieben. Sie wollen mit Macht kontrollieren, weil sie Angst haben. Begegnen wir ihnen also mit Liebe, was uns schon Jesus generell geraten hat, sagen wir jedoch konsequent Nein, bei extremer Grenzüberschreitung. Letzteres wird praktiziert, doch die Liebe fehlt!

Mit seiner Ansicht im Brief an Mrs. Whitehead grenzt auch Marneros aus, allerdings wieder in ganz anderem Sinn. Wir neigen dazu, unseren Blick auf das Detail zu richten und nicht auf den Zusammenhang, deshalb ist es wichtig, auch das von mir hier in diesem Essay beschriebene Thema in das Buch einzubeziehen, denn sonst blicken wir nur auf das Symptom und nicht auf die Ursache des Rechtsradikalismus. Damit wird die Ursache ausgegrenzt. Denn mit der sich auf den Rechtsradikalismus beziehenden Argumentation von Marneros gegenüber Mrs. Whitehead verwischt sich die Logik seiner vorherigen Argumentation. Einerseits betrachtet Marneros die Jungs eigentlich gar nicht als politisch motiviert, weil geistig gar nicht der Politik gewachsen, andererseits wird das ganze Thema des Buches von ihm weiterhin als Rechtsextremismus behandelt.

Was ist die Konsequenz?!

Wenn diese ideologische Auseinandersetzung eigentlich nichts mit unseren Jungs zu tun hat und letztere nur das Werkzeug der Auseinandersetzung sind, dann sind die Jungs Täter und Opfer zugleich in mehrfacher Hinsicht. Gewalttäter, die von Rechtsideologen angestiftet und mißbraucht werden und (aktive Verführung zur Gewalt) und ihre Gewalt wird gleichzeitig provoziert durch unser System der Gewinner und Verlierer (passive Verführung zur Gewalt in Form von Aggressionsschürung).

Wir blicken auf die gewalttätigen Jungs, wir verurteilen sie, wir grenzen sie aus und tun damit das gleiche wie die Rechtsideologen, welche die Ausländer ausgrenzen wollen. Sind wir also besser als die? Nein, wir bewegen uns lediglich auf einer anderen Ebene.

Warum wollte die Staatsanwaltschaft und das Innenministerium in Halle unbedingt eine politisch motivierte Anklage im Fall von Julian, obwohl klar war, daß kein politisches Motiv vorlag? Wenn das rechtsradikale Mäntelchen fällt, wird die Sicht auf die Ursachen der sozialen Schieflage unserer Gesellschaft frei, insbesondere der, in den neuen Bundesländern, und das möchten die Repräsentanten unseres Systems gern verhindern, insbesondere, wenn die Fehler der eigenen Politik sichtbar werden könnten.

Doch ich möchte die Herren Politiker beruhigen, die Gesellschaft trägt Euch auch weiterhin und spielt mit, denn wir sind Teil dieses Systems. Wir wollen unsere eigene Inkonsequenz nicht sehen. Dafür brauchen wir alle ein Feindbild im Außen, was der Rechtsradikalismus uns liefert.

Nun frage ich mich, warum Marneros in seinem Buch abschließend noch auf dem Argument des Rechtsradikalismus resümiert, wohlwissend, daß die Jungs eigentlich mehrheitlich gar keine wirklich politisch Rechtsradikalen sind?

Andreas Marneros betrachtet den Rechtsradikalismus aus seiner Erfahrung und Überzeugung, aus Sicht eines zypriotischen Wahldeutschen, der in unserem demokratischen System seine Heimat gefunden hat. Mehr noch, er bewundert an Deutschland den gelungenen Paradigmenwechsel von einer rechtsradikalen Diktatur zur parlamentarischen Demokratie, welche sein politisches Ideal ist. Dieses Ideal ist aus der politischen Jugenderfahrung von Marneros in seiner Ur-Heimat gewachsen, genauso wie die Jungs ihre Erfahrungen gemacht haben, leider andere Erfahrungen. So sind wir alle von unseren Erfahrungen geprägt, weshalb es um so wichtiger ist, diese Prägung in uns psychosozial zu verstehen. Doch das wird in unserem System (und nahezu nirgends auf der Welt) pädagogisch nicht gelehrt.

So kommt es, daß aus diesen Erfahrungen Andreas Marneros sich für die Alpträume und das Märtyrium von Msr. Whiteberger und anderen Holocaust-Opfern entschuldigt. Gleichzeitig fordert er, "rechtsradikale Gewalttäter müssen wegen der Polizei und der Gefängnisse Alpträume haben." (S. 222) Das klingt paradox, vor der einen Sorte von Alpträumen in den Gefängnissen der Konzentrationslager verbeugen wir uns, während die anderen gerade mittels solcher Alpträume erzogen werden sollen. Gibt es gute und schlechte Alpträume?

Ich stimme Marneros zu, daß die Mehrheit der Deutschen tiefe Scham empfindet, für das, was den Juden im Namen Deutschlands angetan wurde, doch wer empfindet Scham für das, was den jungen Gewalttätern als Kind angetan wurde? Andreas Marneros beendet sein Buch mit dem Widerspruch der Befürchtungen dieser Frau und verbeugt sich vor dem Martyrium von Mrs. Whiteberger. Wer verbeugt sich vor den Jungs, nicht vor den gewalttätigen "Monstern", deren Taten wir widersprechen müssen, sondern vor den verlorenen Kindern. Diese Kinder sind ebenso Märtyrer. Sie sind die Märtyrer für unser System, dafür, daß wir nicht zu den Verlierern zählen. Dieses Märtyrium nehmen sie auf sich, damit wir uns gut fühlen können. Hierüber möchte ich ergänzend aufklären.

Ich verbeuge mich daher vor diesen verlorenen Kindern, vor ihrem Märtyrium ebenso, wie vor dem Märtyrium der Holocaust - Opfer und den kosmopolitischen Opfern aller Gewalttaten!

Ich bin traurig, wütend und ohnmächtig.

Mani Meschgbu (Feb. 2003)

 

 

 

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