FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2003

 

Friedrichs-Stift der Königin Luise zu Berlin
12169 Berlin-Steglitz, Grabertstr. 7, Tel: 030/796 12 34; Fax: 030/794 10 613
Vorsitzende des Direktoriums: Sigrid Katsaras

 

Senator für Bildung, Jugend und Sport
Abt. III Jugend u. Familie
Beuthstr. 6-8
10117 Berlin

15. Mai 2003

Sehr geehrter Herr Senator !

Wir danken für Ihr ausführliches Antwortschreiben vom 29. 4. 2003 !

Es ist erfreulich und Anlaß zu Hoffnungen, daß auch Sie den Entwurf noch für überarbeitungsbedürftig halten. Zu dieser Diskussion wollen wir mit unserer Rückäußerung beitragen.

Von den bezirklichen Pflegekinderdiensten wird beklagt, daß ihre langjährigen Erfahrungen im Bereich des Pflegekinderwesens in dem vorliegenden Entwurf keinen Niederschlag gefunden haben und er aus ihrer Sicht nicht an den Bedürfnissen der Pflegekinder orientiert ist. In dem sehr komplizierten Bereich des Pflegekinderwesens wäre der Verzicht auf hausinterne Bearbeitung, die systematische Einbeziehung der Praxiserfahrungen sowie der aktuellen Forschungsergebnisse, insbes. der Bindungs- und Traumaforschung unbedingt notwendig gewesen. Wenn man die Pflegefamilie nicht nur als billige Alternative zur teuren Heimerziehung sieht, sondern ihre strukturellen Vorteile gegenüber professioneller Heimbetreuung im Entwicklungsinteresse der Kinder nutzen will, muß man den Pflegefamilien ermöglichen, ihren Kindern zuverlässige Bindungsangebote und Geborgenheit zu bieten, weil Pflegekinder in den meisten Fällen schwer traumatisierte, mithin hirnorganisch geschädigte Kinder sind, die im Sinne heilpädagogischer Programmatik der heilenden Wirkung ungestörter dauerhafter Geborgenheit bedürfen. Wer diese Notwendigkeiten nicht sieht, hat die bedrückenden Resultate der Traumaforschung ignoriert und sollte sich aus der Gestaltung des Pflegekinderwesens heraushalten.

Stattdessen degradiert der Entwurf Pflegeeltern zu Erziehungspersonen, deren Aufgabe es ist, das Erziehungsversagen der leiblichen Eltern zu kompensieren und andererseits die Bindungen zu den leiblichen Eltern aufrecht zu erhalten. Den potentiellen Pflegeeltern wird in Vorbereitungskursen und Jugendamtsgesprächen dogmatisch vermittelt, daß für die positive Entwicklung des Kindes Elternkontakte unabdingbar notwendig seien. Trotz bitterer gegenteiliger Erfahrungen glauben viele Pflegeeltern zunächst diesen Vorgaben der sogenannten Fachleute und geraten in Schuldgefühle und in Rechtfertigungssituationen, weil ihnen ihre gegenteiligen Erlebnisse als bewußte oder unbewußte Beeinflussung des Pflegekindes vorgeworfen werden. Oft wird sogar die Bindungstheorie als Begründung für die Pflege psychopathologischer Fixierungen an die Herkunftsfamilie mißbraucht, statt erst die Qualität dieser Bindungen sorgfältig zu prüfen.

In unserer langjährigen Praxis mußten wir erfahren, daß verfrühte Kontakte zur Herkunftsfamilie sehr häufig zu Retraumatisierungen führen, jedenfalls fast immer die bei diesen Kindern ohnehin schwierige Bindungsentwicklung in der Pflegefamilie konterkarieren. Deshalb müssen sie – jedenfalls in den ersten Monaten, oft sogar Jahren – vor Direktkontakten zu den traumatisierenden Eltern geschützt werden. Wenn Pflegestellen dieser Schutz nicht geboten wird, sind sie zwar eine billige Alternative zur Heimunterbringung, aber hochgradig abbruchgefährdet. Diese Auffassung stammt nicht, wie Sie andeuten, aus rollenbedingter Identifikation mit überzogenen Befürchtungen der Pflegeeltern, sondern aus eigenen und fremden Praxiserfahrungen, sowie aus eigener und fremder Forschung.

Es ist zu begrüßen, daß die Entscheidung, ob eine Unterbringung auf Zeit oder auf Dauer anzulegen ist, im Hilfeplanverfahren zu prüfen ist. Dafür sind allerdings keine neuen (eher gegenläufigen) Ausführungsvorschriften notwendig, weil diese Forderung bereits im KJHG kodifiziert ist.

Bezüglich der Finanzierung von Pflegestellen stimmen wir Ihnen zu, daß der beträchtliche finanzielle Unterschied von Normal- und heilpädagogischer Pflegestelle fachlich nicht zu begründen ist. Die Anhebung des Erziehungsgeldes für die Normalpflege ist deshalb uneingeschränkt zu begrüßen. Fachlich nicht zu begründen ist jedoch, daß deshalb die bisherigen heilpädagogischen Pflegeeltern schlechter gestellt werden sollen. Was ist aus der ursprünglichen Absicht geworden, die Reform der Pflegekindervorschriften aus der Reduktion der Heimplätze zu finanzieren?

Bereits jetzt ist der Einsatz der Pflegefamilien für diese schwerstgestörten Kinder nicht über-, sondern unterbezahlt. Die mitbelasteten miterziehenden Angehörigen arbeiten ganz ohne Honorar. Ohne das beachtliche soziale Engagement der ganzen Familie wäre die Erfüllung dieser Aufgabe undenkbar. Dieses Engagement und die emotionale Bindung an die Kinder soll als Einsparpotential ausgebeutet werden: einerseits durch Kürzung des bisherigen Erziehungsgeldes, andererseits durch Streichung des Sonderbedarfs, wenn die Kinder sich in weniger auffälligen Entwicklungsphasen befinden. Nach Realisierung solcher Ausführungsvorschriften wäre eine langfristige Finanz- und Haushaltsplanung der Pflegeeltern nicht mehr möglich.

Es taucht die Frage auf, welche Kosten für den nicht unerheblichen bürokratischen Aufwand der jährlichen Überprüfung des Sonderbedarfs entstehen werden und ob durch deren Einsparung eine angemessenere Absicherung der Pflegeeltern möglich wäre. Den Pflegekindern könnte dann die Belastung und Kränkung einer jährlichen Überprüfung ihres Sonderbedarfes erspart bleiben.

Am Ende Ihres Briefes schreiben Sie völlig richtig, daß die Pflegekinder sich mit ihrer Herkunft und Lebensgeschichte auseinandersetzen können sollen und knüpfen quasilogisch, aber gegen alle therapeutische Erfahrung an, daß das die Aufrechterhaltung der Beziehungen zur Herkunftsfamilie einschlösse. Bedenken Sie bitte, was diese Logik für andere Traumaopfer, z.B. vergewaltigte Frauen, Kriegs- und KZ-Geschädigte bedeuten würde. Kontakte zu den vernachlässigenden, mißhandelnden und mißbrauchenden Tätern sind vor Abschluß der Pubertät i.d.R. unverantwortlich. Immerhin fügen Sie in einem kleinen Nachsatz eine Einschränkung an: „wenn dies dem Kindeswohl nicht widerspricht.“ Wenn Sie diesem Nachsatz in den neuen Vorschriften ein bedeutenderes Gewicht geben als in den bisherigen Entwürfen, wäre unser wichtigstes Bedenken ausgeräumt.

Zum Schluß eine Frage: warum holen Sie uns nicht in eine Ihrer Beratungsrunden?

Wir sind in Berlin der freie Träger mit der längsten Praxis- und Forschungserfahrung auf dem Gebiet des Pflegekinderwesens.

Mit freundlichem Gruß

gez.

(Soz-Päd. grad. Gudrun Eberhard, RA)       (Dipl.-Soz-Päd. Christoph Malter)

s.a. Schreiben an den Berliner Senator
s.a.
Antwortschreiben auf unsere Stellungnahme zum Febr.-Entwurf der Berliner AV

 

 

 

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