FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2003

 

Offener Brief an die Fraktionen zu den Berliner Pflegekindervorschriften

 

An die
Fraktionsvorstände der Parteien
CDU, SPD, FDP, PDS und
Bündnis 90 / Die Grünen

21.6.2003

Sehr geehrte Damen und Herren des Fraktionsvorstandes !

Seit vielen Jahren bin ich im Pflegekinderbreich praktisch und forschend tätig und verfolge interessiert die Diskussion um die neuen Pflegekindervorschriften im Land Berlin. Wegen der prekären Haushaltslage und der daraus resultierenden Sparzwänge, möchte ich Bezug nehmen auf einen aktuellen Artikel im Tagesspiegel, demzufolge „...der größte Sparbeitrag im Bereich Schule/Jugend [...] bei der Heimunterbringung und dem Einsatz von Familienhelfern erbracht werden...“1 muss.

Der Koordinator für das Pflegekinderwesen im Landesjugendamt, Thilo Eberhard Geisler, erklärte in seiner Publikation Qualitätsverbesserung und Kostendämpfung durch mehr Vollzeitpflege2 , mit dem Abbau der teuren Heimplätze den Ausbau und die Qualitätsentwicklung im Pflegekinderbereich vorantreiben zu wollen.

Die Abgeordnete Ramona Pop (Bündnis 90/Grüne) erinnerte in ihrer Rede vom 10. April 20033 noch einmal daran, dass es für die Kinder und auch finanzpolitisch sinnvoller sei, diese in Familien anstatt in Heimen unterzubringen.

Tatsächlich lag Berlin mit der Heimunterbringung von 7270 Kindern und Jugendlichen im vergangenen Jahr weit über dem Bundesdurchschnitt (207%).4 Das ist u.a. darauf zurückzuführen, dass in Berlin die Fremdplatzierung – zum Schaden der Kinder – sehr lange hinausgezögert wird und diese dann für normale Pflegefamilien zu alt sind.

Auch in anderen Bundesländern ist das durchschnittliche Fremdplatzierungsalter gestiegen5 und entsprechend der Anteil der Kinder größer geworden, die dann in Heimen untergebracht werden müssen.6

Dass bei sorgfältiger Planung dennoch und gegenläufig zum Bundestrend Kontinuität erreichbar ist, zeigt das Bundesland Nordrhein-Westfalen.7

Über 10 Jahre hinweg profitieren dort eine beträchtliche Anzahl von Kindern und letztendlich die öffentlichen Haushalte von der Stabilität sorgfältig geplanter Pflegefamilienerziehung. Allerdings wäre auch dort ein noch höherer Anteil familiärer Ersatzerziehung wünschenswert.

Für Kinder, die von ihren Eltern getrennt werden müssen, ist es wichtig, die Entscheidung rechtzeitig zu treffen. Unnötige Verzögerungen führen zu sehr therapieresistenten Chronifizierungen der Verhaltens- und Erlebnisstörungen bei den zu Hause traumatisierten Kindern und zu entsprechenden Belastungen für die öffentlichen Haushalte.

Da die normalen Pflegefamilien mit den schwer geschädigten Kindern aus traumatisierenden Multiproblemfamilien in der Regel überfordert waren, wurde in Berlin das vielbeachtete Modell der ‚Heilpädagogischen Pflegefamilie’ konzipiert und eingeführt.8 Dass dieses Konzept erfolgreich arbeitet, ist mittlerweile empirisch durch die Begleitforschung im Therapeutischen Programm für Pflegekinder (TPP)9 der Berliner Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP) belegt. Eine detaillierte Auswertung der Erfolgskontrolluntersuchung haben wir im 2. Jahrbuch des Pflegekinderwesens veröffentlicht.10 Die Arbeit wurde mit dem ‚Förderpreis für herausragende Arbeiten im Dienste von Pflegekindern’ der Stiftung »Zum Wohl des Pflegekindes« ausgezeichnet. Wichtigste Resultate waren der Nachweis, dass ältere und besonders schwierige Kinder, die sonst in Heimerziehung geblieben oder geraten wären, in Pflegefamilien erfolgreich aufgezogen werden können, wenn diese intensiv beraten und betreut werden. Auch das Abbruchrisiko ist signifikant niedriger als das in der Bundesstatistik ausgewiesene.

In eklatantem Kontrast zu diesen empirischen Befunden und den oben zitierten politischen Absichten plant das Landesjugendamt nun aber Pflegekindervorschriften, die die Heilpädagogischen Pflegestellen abbauen statt ausbauen! Damit werden Zustände restauriert, die (1.) den Druck auf die Jugendämter, ältere und schwierige Kinder wieder in Heimen unterzubringen, steigern und (2.) die Abbrüche von Pflegeverhältnissen wieder in die Höhe treiben, was wiederum zu weiteren Heimunterbringungen führt. Wesentlich sinnvoller und kostengünstiger wäre es, das bewährte Modell der Heilpädagogischen Pflegefamilie auf Kosten der Heimplätze auszubauen.

Dabei ist ganz unbestritten, dass die geplante Besserstellung der normalen Pflegefamilie längst überfällig ist. Aber warum auf Kosten der Heilpädagogischen Pflegefamilie statt auf Kosten der Heimplätze? Die naive Hoffnung, dass die dann bessergestellten normalen Pflegefamilien die Aufgaben intensiv betreuter professioneller Heilpädagogischer Pflegestellen übernehmen könnten, geht an der Wirklichkeit völlig vorbei, ebenso wie die Erwartung, dass sich mit derartigen Angeboten die Zahl der Pflegestellenbewerber wesentlich steigern ließe. Im TPP haben Umfragen ergeben, dass die Pflegeeltern eingestiegen und geblieben sind, weil die Berater rund um die Uhr erreichbar waren und ihre Kinder vor retraumatisierenden Umgangskontakten und verfrühten Rückkehroptionen geschützt haben. Einen Mangel an Pflegestellenbewerbern hat es dort nie gegeben.

In der UN Kinderrechtskonvention wird der Staat aufgefordert, mit ’Permanency Planning’ (Verlässlichkeits-Planung) die Stabilität der Lebensumstände für Kinder zu garantieren.11

Im Berliner AV-Entwurf ist davon nichts zu finden. Es wird zwar eine Unterscheidung von befristeter Vollzeitpflege gegenüber Vollzeitpflege getroffen. Diese ist aber ebenfalls auf Dauer angelegt ODER vorübergehend. Nach übereinstimmender Auffassung einschlägig erfahrener Entwicklungspsychologen und Familienrechtsexperten ist jedoch eine frühzeitige Klärung der Zeitperspektive möglich und nötig. 12

Unter solchen Vorgaben würden die Pflegeeltern die Jugendämter als verlässliche Partner erleben, und die destruktive Diskussion um die Höhe der Pflegegeldleistungen müsste nicht in regelmäßigen Abständen wiederholt werden. Ein klares Zeitkonzept wäre auch ein gewichtiger Beitrag dazu, den relativen Pflegekinderanteil im Vergleich zu den Heimkindern, ähnlich wie in Nordrhein-Westfalen, günstiger ausfallen zu lassen.

Zusammenfassend ist festzustellen, daß die sozialpädagogisch und psychotherapeutisch intensiv betreute Heilpädagogische Pflegefamilie nach aller Erfahrung und Forschung die einzige Möglichkeit ist, die oft wenig effiziente13 und teure Heimerziehung durch die erfolgreichere und kostengünstigere Familienerziehung partiell zu ersetzen. Dass diese inzwischen allgemein bekannte Tatsache nicht längst zu den erforderlichen Konsequenzen geführt hat, ist nach Meinung vieler erfahrener Fachkräfte hauptsächlich auf die beträchtliche Lobbymacht der Heimträger in Berlin zurückzuführen. Pflegeeltern und familienbedürftige traumatisierte Kinder aber haben keine Lobby. Dürfen wir hoffen, daß sich gleichwohl genug Politikerinnen und Politiker für sie engagieren?

Mit freundlichen Grüßen

gez. Dipl. Soz.-Päd. Christoph Malter
(Mitglied des PFAD-Bundesvorstandes der Pflege- und Adoptivfamilien)

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1. Tagesspiegel vom 19.6.2003, S. 12
2. veröffentlicht in der sozialpädagogischen Internetfachzeitschrift FORUM unter www.agsp.de, Berlin, 2002
3, Rede aus dem Plenum des Abgeordnetenhauses, 29. Sitzung
4. Tagesspiegel v. 20.6.2003, S. 10; s. a. Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik AKJStat ;
http://www.akj-stat.fb12.uni-dortmund.de
5. Janze, N.: Vollzeitpflege im Wandel. Pflegeverhältnisse jenseits von Kurzzeit- und Dauerpflege. In: KOMDAT Jugendhilfe, H.2, 1998
6. Malter, Eberhard:
Wechselwirkungen zwischen ambulanten Hilfen, Heimerziehung und Familienpflege. In: Textor (Hg.): SGB VIII Online Handbuch (www.sgbviii.de), Hilfe zur Erziehung, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder, Hilfe für junge Volljährige. München, 2003
7. Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen. Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses; HzE Bericht 2000, S. 19; rechnerische und grafische Bearbeitung v. Verf.
8. vgl.
PFAD Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien: Sonderformen der Familienpflege nach § 33 Abs. 2 SGB VIII (Dokumentation der Fachtagung vom 9. und 10. März 2001 in Darmstadt, Frankfurt, 2002
9. Friedrichs-Stift (Hg.):
Das Intensivpädagogische Programm – ein Aktionsforschungsprojekt für traumatisierte Kinder in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien. Idstein, 2000
10. Stiftung ‚Zum Wohl des Pflegekindes’ (Hg): 2. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Pflegekinder in Deutschland – Bestandsaufnahme und Ausblick zur Jahrtausendwende. Idstein, 2001
11. vgl. den Vortrag von Dr. Jörg Maywald: Konsequenzen der Bindungsforschung für die Arbeit mit Pflege- und Adoptivkindern vom 3. November 2000 in Zürich im Rahmen des Fachkongresses „Qualitätsentwicklung im Pflegekinder- und Adoptionswesen“.
12. vgl. z.B. Salgo, L.: Der Anwalt des Kindes. Frankfurt, 1996
13, Thiersch, Hamberger, Finkel, Bauer, Kühn: Leistungen und Grenzen von Heimerziehung. Ergebnisse einer Evaluationsstudie stationärer und teilstationärer Erziehungshilfen. BMFSFJ SR Band 170, 2002

s.a. AV-Entwurf vom 22.10.2002
s.a.
AV-Entwurf (Feb. 2003)
s.a.
AV-Entwurf vom 27. Feb. 2003

 

 

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