FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Nachrichten / Jahrgang 2008

 

 Forschungsvorhaben an der Universität Köln:

Die Entwicklung der Bindungsbeziehungen
junger Pflegekinder

 

Bei dem Forschungsprojekt, das gemeinsam mit Frau Prof. Dr. Anke Lengning und Prof. Dr. Peter Zimmermann von der Universität Dortmund durchgeführt wird, handelt es sich um eine prospektive Längsschnittstudie zur Entwicklung der Bindungsbeziehungen junger Pflegekinder in den ersten beiden Jahren nach ihrer Aufnahme in eine Pflegefamilie. Von den Ergebnissen dieser Studie sind wertvolle Hinweise zu erwarten für die Bereitstellung konkreter, praktikabler und wissenschaftlich fundierter Hilfen für die Pflegeeltern wie auch für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der jeweiligen Pflegekinderdienste. Auch wenn die Fremdplatzierung in einer Pflegefamilie die neben der Heimeinweisung auch quantitativ bedeutsamste Jugendhilfemaßnahme darstellt, besteht im deutschsprachigen Raum doch noch ein erheblicher Forschungsbedarf zur besonderen Problematik von Pflegekindern und Pflegefamilien.

Bezüglich empirischer Studien ist man weitgehend auf angloamerikanische Arbeiten angewiesen, deren Ergebnisse sich allerdings wegen der ausgeprägten Kulturabhängigkeit der nationalen Platzierungspraktiken nicht ohne weiteres auf die deutschen Verhältnisse übertragen lassen.

Hintergund
Bei Pflegekindern handelt es sich insofern um eine sogenannte Risikopopulation, als bei ihnen eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, dass ihre psychosoziale Entwicklung nicht ungestört verläuft. Vor allem junge Pflegekinder im Kleinkindalter bilden eine Gruppe, bei der präventive oder auch therapeutische Interventionen dringend angezeigt sind, zumal deren Verhaltensauffälligkeiten immer wieder auch Ausdruck einer biologischen Dysregulation sind. Die Ergebnisse der modernen Bindungsforschung bieten für diese Zusammenhänge eine Erklärung. Bekanntlich steht die Aufnahme eines Kindes in eine Pflegefamilie dann an, wenn das Kindeswohl nicht gewährleistet ist, weil die leiblichen Eltern nicht in der Lage und/oder willens sind, ihr Kind angemessen zu versorgen. Bei Pflegekindern handelt es sich daher um Kinder, die zumeist Erfahrungen von Vernachlässigung und/oder Misshandlung haben machen müssen. Geschieht dies in den ersten beiden Lebensjahren, muss man davon ausgehen, dass dadurch die Entwicklung des Bindungsverhaltenssystems stark beeinträchtigt wird. In einem solchen Fall kann den betreffenden Kindern die Bewältigung dieser für diese Altersspanne entscheidenden Entwicklungsaufgabe nicht gelingen.

Erweist sich eine Fremdplatzierung als unumgänglich, soll die mit der Aufnahme in eine Pflegefamilie einhergehende individualisierte Fürsorge eine familiale Sozialisation und damit das Eingehen neuer Bindungen ermöglichen. Allerdings kann sich eine etwaige mangelnde Stabilität des Pflegeverhältnisses nur noch zusätzlich negativ auswirken und dazu beitragen, dass diese Hilfemaßnahmen ihr Ziel verfehlt. Aufgabe der Pflegeltern ist es daher, der psychobiologischen Dysregulation entgegenzuwirken durch ein verlässliches Bindungsangebot, das den betreffenden Kindern korrigierende Bindungserfahrungen ermöglicht. Als ein wichtiges Erfolgskriterium dieser Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe ist daher die Entwicklung einer möglichst sicheren Bindungsorganisation anzusehen. Bei vernachlässigten und traumatisierten Kindern bedeutet dies eine Korrektur der bei ihnen höchstwahrscheinlich vorliegenden Bindungsdesorganisation, handelt es sich doch hierbei um einen bedeutsamen Risikofaktor für die weitere psychosoziale Entwicklung. Da die Regulationsprozesse zu diesem frühen Zeitpunkt vornehmlich dyadisch ablaufen, hängt das Gelingen dieser Aufgabe ab von Faktoren sowohl auf Seiten des Kindes als auch auf Seiten seiner Pflegeeltern.

Beim Kind hat man davon auszugehen, dass die Bindungserfahrungen mit den leiblichen Eltern sich niedergeschlagen haben in Erwartungsstrukturen, in sogenannten inneren Arbeitsmodellen von Bindung im Sinne eines desorganisiert-unsicheren Bindungskonzeptes. Ein solches Kind wird dann das Bindungsangebot seiner substitutiven Bindungspersonen nur schlecht anzunehmen in der Lage sein. Vielmehr wird es dazu tendieren, mit einem betont bindungsablehnenden oder verwirrenden Verhalten seine Pflegeeltern zu frustrieren und diese dazu zu verleiten, ihr Bindungsangebot nur noch vorsichtig und reserviert vorzunehmen. Dadurch sieht sich das Kind in seinen Erwartungen bestätigt, wodurch es sich die Erfahrung einer doch noch vorhersehbaren Lebenswelt verschaffen kann. Auch dürften Temperamentsfaktoren auf Seiten des Kindes für die immer wieder zu beobachtende Dysregulation auf der biologischen wie auf der Verhaltensebene von Bedeutung sein.

Ob es den Pflegeeltern gelingt, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, hängt zum einen davon ab, inwieweit sie selbst über ein ausreichend sicheres Bindungskonzept verfügen, das es ihnen ermöglicht, feinfühlig und reflexiv auf die Bedürfnisse der ihnen anvertrauten Kinder einzugehen. Die verfügbare Literatur spricht eindeutig dafür, dass sicher gebundene Pflegeeltern durchaus in der Lage sind, das Bindungskonzept auch vernachlässigter und misshandelter Kinder in Richtung einer ausreichenden Sicherheit zu verändern. Zum anderen erleichtert den Pflegeeltern ein fundiertes Wissen um die Ursachen und die Funktion der Verhaltensauffälligkeiten die notwendige Anpassung an ihr schwieriges Pflegekind. Zuletzt dürften auch die Erwartungen, die sie mit ihrer Rolle als Pflegeeltern verbinden, von nicht zu unterschätzender Bedeutung sein. Diesbezüglich sei die jüngst publizierte Übersichtarbeit „Pflegefamilie: eine sichere Basis? Über Bindungsbeziehungen in Pflegefamilien.“ verwiesen.

Ziel
Ziel dieses Forschungsprojektes ist die vergleichende Untersuchung der Bindungsentwicklung und ihrer Anhängigkeit von biologischen und sozialen Faktoren mit quantitativen sowie qualitativen Methoden über einen Zeitraum von 24 Monaten.

Methodik
Die Ausgangsstichprobe (Zeitpunkt t1) besteht aus bis zu 100 Kindern im Alter von 9 bis 18 Monaten aus Risikofamilien, bei denen seitens des Jugendamtes eine Gefährdung des Kindeswohls festgestellt bzw. befürchtet wird und zu deren Abwendung eine Fremdplatzierung in einer Pflegefamilie in Erwägung gezogen bzw. bereits gerade durchgeführt wird. Bei diesen Mutter-Kind-Dyaden, bei denen jeweils die leibliche Mutter (noch) als Bindungsperson fungiert, werden als abhängige Variablen das Bindungskonzept mittels der bewährten Untersuchungsmethode der Fremden Situation mit der leiblichen Mutter sowie das kindliche Anpassungsverhalten erfasst.

Einflussvariablen sind auf Seiten des Kindes neben physiologischen Parametern zur Affektregulation auch das Temperament, auf Seiten der Mütter als zentrale Variable deren Feinfühligkeit. Auch wird der psychomotorische Entwicklungsstand des Kindes untersucht. Aus dieser Ausgangsstichprobe rekrutiert sich eine Teilmenge von mindestens 30 Kindern, die bei einer Pflegefamilie Aufnahme finden. Diese Kinder und ihre Pflegeeltern bilden die eigentliche Untersuchungsgruppe. Aus den restlichen Kindern, die in ihrer Herkunftsfamilie bei ihren leiblichen Müttern verbleiben, wird eine Vergleichsgruppe von ebenfalls 30 Mutter-Kind-Dyaden gebildet, die möglichst bezüglich des Alters und des Geschlechts mit der Untersuchungsgruppe parallelisiert wird.

Mit der Aufnahme des Pflegekindes in seine Pflegefamilie wird die Entwicklung der substitutiven Bindungsbeziehung erfasst durch ein sogenanntes „Pflegetagebuch“. Bei diesem durchaus zeitökonomischen Verfahren geben die Pflegeeltern in Form eines standardisierten Tagebuchs eine kurze Beschreibung des kindlichen Verhaltens bei emotionalen Belastungssituationen, die geeignet sind, das Bindungssystem des Kindes zu aktivieren. Auch wird die Feinfühligkeit der Pflegemutter durch ein QSortverfahren eingeschätzt.

Ungefähr 6 Monate nach der Aufnahme des Kinder in seine Pflegefamilie (Zeitpunkt t2) wird zur Einschätzung der bei den Pflegemüttern bestehenden Bindungsorganisation auf der Repräsentationsebene mit diesen das Erwachsenen-Bindungs-Interview (AAI) durchgeführt. Zudem werden mit einem eigens entwickelten halbstrukturierten Interview mit den Pflegemüttern Daten erhoben u.a. zur Motivation für die Aufnahme des Kindes, zu den Erwartungen an ihre soziale Elternschaft, zur Zufriedenheit mit der Aufnahme des Kindes, zu ihren Vorstellungen und Wünschen bezüglich der Dauer, des Verlauf des Familienpflege und seiner Beendigung, zur Bewertung der möglichen Rückkehroption und zur Einschätzung und Bewertung gegebenenfalls bestehender Kontakte mit der leiblichen Mutter. Da zu diesem Zeitpunkt zu erwarten ist, dass die Pflegemutter nun als Bindungsperson fungiert, wird zur Erfassung des kindlichen Bindungsmusters die „Fremde Situation“ zusammen mit der Pflegemutter durchgeführt.

Diese Untersuchungsverfahren werden 12 Monate nach der Aufnahme des Kindes in seine Pflegefamilie (Zeitpunkt t2) werfen die gleichen Untersuchungen wie zum Zeitpunkt t1 wiederholt. Zeitlich parallel werden die entsprechenden Untersuchungen auch mit den Kindern der Kontrollgruppe über den gesamten Zeitraum durchgeführt.

Voraussetzungen und Kooperationswunsch
Das Projekt, bei dem es sich um die erste Längsschnittstudie dieser Art in Deutschland handelt, steht und fällt mit einer ausreichend großen Stichprobe, die es erst ermöglicht, solide, und das heißt wissenschaftlich fundierte, Ergebnisse zu erzielen. Die „Fremde Situation“-Untersuchung zur Ermittlung der bei den betreffenden Mutter-Kind-Dyaden vorliegenden Bindungsorganisation wird für die Kölner Teilgruppe in dem Forschungslabor der hiesigen Universität durchgeführt werden. Die Untersuchung selbst dürfte nicht länger als 2 Stunden Zeit in Anspruch nehmen. Die Fahrt dorthin wird von uns organisiert und durchgeführt. Ebenfalls wird der Versicherungsschutz für diese Fahrt von unserer Seite finanziert. Zur „Belohnung“ bekommen die Mütter eine Kopie des Videobandes überlassen. Die jeweiligen Hausbesuche dürften etwa 3 Stunden in Anspruch nehmen.

Der Aufwand für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Jugendamtes besteht darin, der Forschergruppe die in Frage kommenden Fälle zu melden, die Eltern der Kinder über den Sinn und Nutzen der geplanten Untersuchung zu informieren, diese zur Kooperation zu motivieren und dann den Kontakt zum Forscherteam herzustellen. Den großen Nutzen für den ASD bzw. für den Pflegekinderdienst sehen wir darin, dass eine ausführliche Bindungsdiagnostik durchgeführt wird, deren Ergebnisse wir den mit den Fällen betrauten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zur Verfügung stellen können. Diese Daten dürften eine wichtige Entscheidungshilfe für die vom Jugendamt zu veranlassenden Hilfemaßnahmen in präventiver und therapeutischer Hinsicht darstellen. Zudem ist eine wissenschaftlich solide Einschätzung der Bindungsorganisation Voraussetzung für eine Evaluation und Verlaufskontrolle auch für die Fälle, bei denen eine Fremdplatzierung als (noch) nicht notwendig angesehen wurde. Da sich die durch dieses Projekt sich ergebende Mehrbelastung für die professionellen Helferinnen und Helfer mithin in Grenzen hält, dürfte doch eine günstige „Kosten-Nutzen-Relation“ bestehen. Zuletzt erhalten auch die leiblichen Eltern bzw. Mütter wichtige Informationen darüber, ob und wie sie zusammen mit ihren jungen Kindern die für dieses Alter bedeutsamste Entwicklungsaufgabe der Bindungsentwicklung bewältigen.

Kontakt:
Prof. Dr. Roland Schleiffer
schleiffer@uni-koeln.de
Herbert-Lewin-Straße 2
50931 Köln
Telefon +49 221 470-4682
Telefax +49 221 470-7445

 

 

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