FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2005

 

 

Gerhardt Nissen

Kulturgeschichte seelischer Störungen
bei Kindern und Jugendlichen

Klett-Cotta-Verlag, 2005

(576 Seiten, 48 Euro)

Prof. Dr. Gerhard Nissen, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, war u.a. Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Würzburg und ist Träger des 'Forschungspreises für Psychotherapie in der Medizin' sowie des 'Hermann-
Emminghaus-Preises für Forschung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie'.

Seinem großen kulturgeschichtlichen Spätwerk stellt er folgende Aufgabe:
     »Dieses Buch stellt somit keine vollständige, sondern eine nach meinen Vorstellungen ausgewählte und begrenzte und besonders seit dem 19.Jahrhundert überwiegend am deutschsprachigen Raum orientierte Geschichte der sich seitdem zunehmend rascher formierenden Entwicklungspsychiatrie des Kindes- und Jugendalters dar. Ich bin mir bewußt, daß ich als Kliniker nicht alle medizinhistorischen Vorgaben erfüllen kann, und bitte dafür um Nachsicht. Im Mittelpunkt der Konzeption stehen die Erkenntnisse, Einsichten und Theorien bedeutender Psychiater, Pädiater, Psychologen, Heilpädagogen und Psychotherapeuten und wichtige praktische Beiträge von Anstaltsärzten und Pädagogen über ihre psychotherapeutischen, heilpädagogischen und medikamentösen Behandlungsmethoden.
     Für die erste Epoche, die Antike, stelle ich dar, wie seelisch gestörte Kinder und Jugendliche in die Klassifikationen der antiken Medizin einbezogen wurden, für die zweite Epoche das Schicksal seelisch gestörter Kinder- und Jugendlicher im Mittelalter, und bei der dritten Epoche, dem Zeitalter der Aufklärung, zeige ich die Rückbesinnung auf antike und Gewinnung neuer Erkenntnisse auf. In der vierten Epoche, die vor 200 Jahren begann, schildere ich die allmähliche Emanzipation der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.« (aus dem Vorwort)

Die Überschriften der Hauptkapitel dokumentieren das anspruchsvolle Programm:
1. Psyche, Ärzte und Medizin im Altertum
2. Dämonenglaube, Exorzismus, Kinderkreuzzüge 5. - 15. Jahrhundert
3. Ärzte und Pädagogen als Helfer und Heiler  16. - 18. Jahrhundert
4. Psychisch gestörte Kinder in Findel-, Waisen- und Rettungshäusern  16 - 19. Jh.
5. Geistig behinderte Kinder in besonderen Einrichtungen  16. - 19. Jahrhundert
6. Asyle und Spitäler für seelisch gestörte Kinder und Jgdl. in Europa  Mittelalter - 19. Jh.
7. Psychisch kranke Kinder und Jugendliche im 19. Jahrhundert in Deutschland  19. Jh.
8. Der Streit der romantischen und somatischen Psychiater 19. Jahrhundert
9. Entwicklungspsychiatrische Kasuistiken 19. Jahrhundert
10. Psychiater, Pädiater, Pädagogen und Psychologen als Wegbereiter  19. Jahrhundert
11. Pioniere und Begründer der Entwicklungspsychiatrie
12. Auf dem Weg zur Wissenschaft
13. Neue therapeutische Verfahren  19. und 20. Jahrhundert
14. Kinder- und Jugendpsychiatrie im 20. Jahrhundert
15. Ausblick und Rückblick

Ein historisches Werk kann streng chronologisch voranschreiten, eine vorgängige Aufgliederung nach Sachgebieten vornehmen oder als Ideengeschichte die maßgeblichen Autoren bzw. Schulrichtungen in den Mittelpunkt stellen. Nissen hat sich aus guten Gründen auf keines dieser Prinzipien festgelegt. Das und die beträchtliche Informationsfülle machen die Lektüre anstrengend, aber auch sehr lehrreich.

Um seine Darstellungsweise zu demonstrieren, wollen wir ausführlich aus dem Unterkapitel »Sonder- und Heilerziehung behinderter oder gestörter Kinder« zitieren:
     »Die Begriffe "Heilpädagogik" und "Sonderpädagogik" waren im Lauf der letzten Jahrzehnte mehrfachen Wandlungen unterworfen. Auf der einen Seite standen Bestrebungen, die beiden Begriffe Heilpädagogik und Sonderpädagogik beizubehalten und von Heilerziehung nur zu sprechen, wo geheilt werden kann, und von Sondererziehung nur, wenn Defizite zwar nicht beseitigt, aber durch besondere Maßnahmen substituiert werden können. Der Terminus Sonderpädagogik hat sich als Sammelbezeichnung für die Praxis und die Theorie bei unterschiedlichen Formen der Sondererziehung von behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die damit auch die Heilpädagogik einschließt, im Prinzip zwar durchgesetzt, aber das schließt nicht aus, daß auch in der Sonderpädagogik Prinzipien und Methoden der Heilpädagogik dort angewendet werden, wo sie angebracht sind.
     In seinem in mehrfacher Beziehung revolutionären Werk "System einer vollständigen medizinischen Polizey" (1780) hielt Johann Peter Frank, Begründer einer sozialen Hygiene, die Erziehung und Bildung schwachsinniger Kinder für unerläßlich. 1817 erschien von Albrecht Mattbias Vering in Münster/Westfalen eine "Psychische Heilkunde", wie sie für die "blöd- und schwachsinnigen Kinder" in eigenen Schulen und für sprachgestörte Kinder teilweise bereits angewandt wurde. Die ersten Ansätze für eine besondere Erziehung von lern- und geistig- oder körperlich behinderten oder von sinnesgeschädigten Kindern gingen auf private Initiativen, auf Einzelbetreuungen oder Schulunterricht in Internaten und Heimen zurück, die von Lehrern, Theologen und Ärzten gegründet wurden. Im Mittelalter bestanden für den geistlichen Nachwuchs Kloster- und Domschulen, in denen auch Kinder des Adels und der Oberschicht Zugang fanden. In den ärztlichen Fallbeschreibungen des 19. Jahrhunderts finden sich immer wieder Hinweise, daß im gehobenen Bürgertum psychisch gestörte Kinder, etwa wegen "geistiger Überbürdung", für einige Monate als "Kostkinder" in fremde Familien gegeben wurden und dort auch Nachhilfeunterricht erhielten. Nach der Ständeordnung wurde das privilegierte höhere vom niederen Bürgertum und den überwiegend armen Arbeitern und Bauern streng getrennt. In Preußen konnten seit 1717 Beschulungen von Kindern angeordnet werden. 1763 wurde in Preußen ein Gesetz erlassen, nach dem alle Kinder vom 5. bis zum 14. Lebensjahr schulpflichtig waren. Sachsen (1772) und Bayern (1802) folgten nach. Eine geregelte Ausbildung der Lehrer gab es nicht. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts setzte eine Reformbewegung ein, die sich gegen die Erstarrung des Schulwesens richtete. In Deutschland wurden in den großen Städten und zunehmend auch in den Ländern außerdem Hilfsschulklassen und Sonderschulen eingerichtet.« (S. 294/295)

Die folgenden Abschnitte sind einigen Persönlichkeiten gewidmet, die die Entwicklung der Sonderpädagogik als wissenschaftliche Disziplin nachhaltig beeinflußt haben:

  • dem Philosophen Johann Friedrich Herbart, der selbst ein sprachgestörtes Pflegekind aufzog und die Bedeutung früher Kindheitserlebnisse hervorhob;
  • dem Sonderpädagogen Max Bruno Kirmsse, der sich als Archivar und Historiker der unterschiedlichen Sondererziehungsformen große Verdienste erwarb;
  • dem Sonderpädagogen Andreas Möckel, der die erste historische Gesamtdarstellung der Heilpädagogik vorlegte. 

Dann folgt ein Abschnitt über die Verbindungen zwischen Sonderpädagogik und Kinderpsychiatrie:
     »Die Kooperation der beiden eng benachbarten Fachgebiete der Sonderpädagogik und der Kinderpsychiatrie wird kaum einmal durch eine unterschiedliche Interpretation von diagnostischen Begriffen gleichen Inhaltes beeinträchtigt, denn der biologisch, neurologisch und psychologisch orientierte Kinder- und Jugendpsychiater ist vornehmlich an der Ätiologie und an der Symptomatik besonders dann interessiert, wenn sich daraus spezielle und verläßliche Hinweise für eine gezielte psychotherapeutische oder pharmakologische Therapie ergeben. Der Sonderpädagoge ist hingegen nur bedingt an der Ursache einer Störung interessiert, weil diese für den sonderpädagogischen Prozeß einen zwar wichtigen, aber keineswegs einen für den Erfolg oder Mißerfolg seiner Bemühungen unbedingt bestimmenden Faktor darstellt, wie Trainings- und Lernerfolge selbst bei schwer geistigbehinderten oder früher als erziehungsunfähig geltenden Kindern belegen. So wie die kinderpsychiatrischen Befunde den Sonderpädagogen interessieren, so sind für Kinder- und Jugendpsychiater viele heil- und sonderpädagogische Maßnahmen von großer therapeutischer Bedeutung. Für den in der Praxis oder in einer Klinik tätigen Kinderpsychiater sind die Berichte der Sonderschullehrer über das Verhalten eines gestörten oder behinderten Kindes im Unterricht und in der Kindergruppe überdies eine wertvolle Hilfe für die diagnostische Beurteilung oder für die Bewertung der von ihm eingesetzten therapeutischen Verfahren.«
(S. 294 - 296)

Das zitierte Unterkapitel endet mit einem Überblick über Besondere Schulen und Heime außerhalb des staatlichen Schul- und Erziehungswesens, in dem u.a. die Konzepte Giovanni Boscos, Gustav Wynekens, Alexander Neills und Rudolf Steiners kurz skizziert werden.

Die jüngste Vergangenheit und die Zukunftsperspektiven reflektiert der Autor im letzten Kapitel:
     »In den letzten 30 Jahren ist auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine "biologische Wende" eingetreten, die in weiten Bereichen der Kinder- und Jugendpsychiatrie bislang aber noch nicht zu den erforderlichen wissenschaftlichen Konsequenzen geführt hat. In der bis damals noch überwiegend psychoanalytisch bestimmten Psychiatrie der USA wurde die Losung ausgegeben: "Weiße Kittel anziehen und Reflexhammer und Stethoskop wieder auf den Schreibtisch." Das in der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie noch bestehende Defizit an biologischer Forschung, das aus verschiedenen Gründen (Mangel an Fachkräften und Laboratorien) bislang nur schwer aufgefüllt werden konnte, ist eine vordringliche Aufgabe für die Zukunft. Das bedeutet jedoch nicht, daß mit einem biologischen Paradigmenwechsel therapeutische Verfahren, die sich bewährt haben, über Bord geworfen werden dürfen. Die Fortschritte in der Humangenetik, der molekularen Medizin und die Technik der bildgebenden Verfahren haben bestehende Hoffnungen verstärkt, daß es entgegen einer weithin vorherrschenden Skepsis gelingen könnte, biologische Ursachen einiger psychischer Störungen zu entdecken und in bestimmten Hirnregionen zu lokalisieren und pathogen wirksame Gene zu identifizieren.
     Die psychopharmakologische Forschung hat mit ihren Erkenntnissen über die chemischen und bioelektrischen Vorgänge an den Synapsen, Rezeptoren und Zellwänden und durch die Identifizierung der Transmittersubstanzen Fenster aufgestoßen, die einen Einblick in die komplizierten Abläufe psychischer Prozesse im Zentralnervensystem erlauben. Die wichtigsten Überträgerstoffe sind bekannt, sie lassen sich identifizieren und durch Einwirkung anderer Substanzen modifizieren.« (S. 518/519)

Das Buch schließt mit einer beherzigenswerten Mahnung:
     »Der führende amerikanische Kinder- und Jugendpsychiater Leon Eisenberg warnte (1986) davor, daß die Fortschritte der biologischen Forschung die Gefahr in sich bergen könnten, die "hirnlose" Psychiatrie der Vergangenheit - er meinte damit die spekulativ- psychologischen Kausalmodelle der Vergangenheit - gegen eine "geistlose" und damit eine extrem biologische Kinder- und Jugendpsychiatrie der Zukunft einzutauschen.« (S. 520)

Er selbst bedarf dieser Warnung nicht, Nissen hat - wie schon in seinen früheren Veröffentlichungen - die gleichgewichtige Bedeutung biologischer und psychologischer Sichtweisen durchgehend beachtet. Inhaltlich ist sein neuestes Werk hoch informativ und beweist, wie wichtig historische Untersuchungen sind, weil ohne sie wegen der hohen Entwicklungsgeschwindigkeit und der zahlreichen beteiligten Disziplinen und Paradigmen der Überblick verloren ginge. Die durchaus anstrengende Lektüre wird wesentlich erleichtert durch die sorgfältige Didaktik: der Text ist übersichtlich gegliedert, verständlich geschrieben und durch zahlreiche Abbildungen aufgelockert. Besonders wertvoll sind darüber hinaus das umfangreiche Literaturverzeichnis sowie das Personen- und Sachregister. Dieses Buch ist besonders allen Praktikern und Wissenschaftlern zu empfehlen, die mit Kindern und Jugendlichen und ihren seelischen Störungen beruflich zu tun haben.

Kurt Eberhard  (Juni, 2005)

 

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