FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 



Regina Rätz-Heinisch

Gelingende Jugendhilfe
bei "aussichtslosen Fällen"!

Biographische Rekonstruktionen
von Lebensgeschichten junger Menschen

Ergon-Verlag, 2005
(346 Seiten, 39 Euro)

 


Frau Prof. Dr. Rätz-Heinisch ist Sozialarbeiterin und Hochschullehrerin in der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Kinder- und Jugendhilfe, Projektentwicklung, Gemeinwesen- und Biographiearbeit sowie Perspektiven gelingender Sozialarbeit.

Ihr Buch, das aus einer Dissertation hervorgegangen ist, widmet sich folgender Aufgabenstellung:
»In der vorliegenden Dissertation wird der Zusammenhang zwischen Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe und dem biographischen Verlauf von Kindern und Jugendlichen, die während des Hilfeprozesses als besonders schwierig galten, erforscht. Im Fokus stehen - aus einer biographietheoretischen Perspektive - die Rekonstruktion der Lebensgeschichten der ehemaligen Nutzerinnen der Jugendhilfe, die biographische Aufschichtung von Handlungsstrukturen und die Interaktion mit den Einrichtungen der Jugendhilfe. Es interessiert insbesondere, zu verstehen, wie nach Phasen des Scheiterns der Jugendlichen im Hilfesystem ein gemeinsamer Hilfeprozess möglich wurde und eine Wendung hin zu einem 'gelingenderen Leben' (im Sinne von Thiersch) erreicht werden konnte.
     Kinder- und Jugendhilfe wird vor allem als 'Entwicklungshilfe' verstanden, d. h. als sozialökologische Umwelt und als Angebot an die Jugendlichen mit dem Ziel, individuelle Entwicklungsprozesse der Kinder und Jugendlichen zu fördern.
     Methodisch wird im Kontext rekonstruktiver sozialwissenschaftlicher qualitativer Forschung mit dem von Gabriele Rosenthal entwickelten Verfahren der Rekonstruktion der "erlebten und erzählten Lebensgeschichte" (vgl. Rosenthal 1995) gearbeitet. Im Ergebnis können Formen 'dialogischer Passungsverhältnisse' in der Interaktion zwischen Jugendlichen und Hilfesystem formuliert werden, die für das Gelingen des Hilfeprozesses ausschlaggebend waren. Gleichzeitig werden Ambivalenzen und Widersprüche des Arbeitsfeldes als strukturimmanent herausgearbeitet.« (S. 9)

Die Hauptüberschriften des Inhaltsverzeichnisses skizzieren den Gang der Untersuchung:
Abstract
Danksagung
Vorwort
Zentrales Ergebnis der vorliegenden Arbeit
Begründung des Forschungsansatzes und Klärung zentraler Begriffe
Theoretische Einleitung: Perspektiven biographischer Forschung
1. Gesellschaft, Lebenslauf und Jugend
2. Entwicklung und Sozialisation
3. Schwierige und gefährdete Jugendliche
4. Hilfen Sozialer Arbeit für schwierige und gefährdete Jugendliche
5. Gelingende Hilfen und 'aussichtslose Fälle'
6. Zur Wirkung von Erziehungshilfen auf schwierige und gefährdete Jugendliche
7. Zur sozialen Konstruktion von Biographie
8. Methodologie, Forschungsdesigns der Untersuchung und Erkenntnisse für die soziale Praxis während des Forschungsprozesses
9. Biographische Fallrekonstruktionen
10. Dialogisches Passungsverhältnis in der Interaktion zwischen Hilfesystem und Jugendlichen
11. Konzeptionelle Schlußfolgerungen für die Praxis
12. Allgemeines Fazit
Literaturverzeichnis

In ihrer sozialen Praxis erlebte die Autorin immer wieder besonders schwierige Fälle und bei einigen kaum noch erwartete günstige Entwicklungen. Sie und ihre Kolleginnen fragten sich dann nach den Ursachen solcher Wendungen. Der Autorin war klar, daß die Antworten auf diese Frage von außerordentlicher praktischer Bedeutung sein würden und sie beschloß, sie zum Thema ihrer Dissertation zu machen. Nach intensiver und vor allen Dingen gänzlich undogmatischer, d.h. nach allen Seiten offener Literaturarbeit, deren Resultate in den ersten Kapiteln dargestellt werden, beabsichtigte sie zunächst eine klassische empirische Untersuchung mit repräsentativer Stichprobe und Kontrollstichprobe. Bald zeigte sich aber, daß ihre Fragestellung nur durch qualitative psychohistorische Analyse einzelner Klienten und nicht mit den quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung zu bearbeiten war. Andererseits waren ihr aber die notorischen Validitätsmängel herkömmlicher kasuistischer Hermeneutik sehr bewußt. Auf der Suche nach festem wissenschaftstheoretischen Boden gelangte sie zur Abduktionslogik von Charles S. Peirce. Weil die Rezeption dieser Forschungslogik für die soziale Praxis sehr bedeutungsvoll ist, soll die Autorin hierzu wörtlich zitiert werden:
»Die Abduktion beschäftigt sich -ganz allgemein - mit dem Gedanken der Deutung und des Verstehens von Zeichen. Im Zentrum der Abduktion steht das Erfinden von (mehreren) neuen Hypothesen, um das erklären zu können, was wahrgenommen wird. Abduktionen vollziehen sich nicht nur als eine logische Schlussform, sondern spielen ständig bei den alltäglichsten Wahrnehmungen eine Rolle, da wir nie die Dinge selbst sehen, sondern nur deren Zeichen. Von diesen schließen wir auf eine begriffliche Kategorie zurück, zu der das durch die Zeichen signalisierte Phänomen mutmaßlich gehört. .....
     Da einerseits beobachtete Zeichen oft eine große Zahl verschiedener Zuordnungen bzw Erklärungen erlauben, andererseits die Menschen entgegen aller Wahrscheinlichkeitstheorie in der Regel zu angemessenen Einschätzungen tendieren, geht Peirce davon aus, dass richtige Annahmen dadurch zustande kommen, "daß zwischen dem Geist des Denkenden und der Natur eine hinreichende Verwandtschaft besteht, um die Formulierung von Annahmen nicht völlig hoffnungslos werden zu lassen, vorausgesetzt, daß jede Annahme durch den Vergleich mit der Beobachtung geprüft wird" (Sebeok/Umiker-Sebeok 1982, S. 32).
     Die Abduktion als wissenschaftliche Erkenntnisform erfährt vor allem aus zwei Gründen eine große Beachtung, die Peirce selbst wiederholt betonte: Sie ist eine logische Schlussform und sie hat einen innovativen Charakter. .....
     Bei der Rekonstruktion von erlebter und erzählter Lebensgeschichte eines biographisch-narrativen Interviews mit dem Verfahren der Abduktion erfolgt die Prüfung der abduktiv aufgestellten Hypothesen durch Deduktion und Induktion am untersuchten Fall, nämlich am konkreten Interview. Beginnend bei der Hypothesenbildung auf Grund eines biographischen Datums oder einer Textstelle bewegt man sich in der Interpretation sequenziell von einem empirischen Faktum zum nächsten. Hierbei erweisen sich immer mehr Lesarten als unwahrscheinlich und andere als zunehmend plausibel. Die Lesart, die am Ende des Falls übrig bleibt, gilt als die wahrscheinlichste.« (S. 123 - 126)

Das nachfolgende 9. Kapitel ist das Herzstück der Untersuchung. Es enthält die auszugsweise Darstellung der Interviews und ihre biographischen Rekonstruktionen. Es geht um drei ehemalige Klienten der Jugendhilfe, deren Problematik eine erfolgreiche Arbeit ursprünglich kaum erwarten ließ. Die offene erkenntnisleitende Frage lautete: "Was hat geholfen?" Aus der dritten Fallanalyse soll ausführlich zitiert werden, weil der Jugendliche wirklich ein sehr schwieriger Fall war, die Beziehung zur Biographie der Autorin deutlich hervortritt und die Vorgehensweise klarer wird als aus den vorgängigen methodologischen Erläuterungen.
»Im Sommer 2001 wurde ich von Sandys Freundin Tanja in seine Wohnung eingeladen, um seinen 24. Geburtstag zu feiern. Ich kenne Sandy aus seiner ungefähr vierjährigen Betreuungszeit in einem sozialpädagogischen Projekt, in dem ich seinerzeit als Projektleiterin tätig war. Sandy hatte das Projekt, die dort tätigen Sozialarbeiterinnen und natürlich auch mich damals mehrmals in große Aufregung versetzt. Er wurde als sehr schwieriger Jugendlicher wahrgenommen. .....
     Ich wusste - vor allem aus der Jugendhilfeakte - einiges aus seinem Leben. Er hatte viel Gewalt und Beziehungsabbrüche erlebt und fiel selbst häufig durch Aggressionsäußerungen und Gewalthandeln auf. Ich war vorher nie auf die Idee gekommen, ihn nach seinen eigenen Lebenserinnerungen zu fragen. Rückschauend würde ich sagen, dass ich bis zu diesem Tag gar keine Erwartung daran hatte, dass er mir überhaupt etwas aus seinem Leben erzählen könnte. Im Jahr 2001 begann ich mich intensiv mit meinem Promotionsvorhaben und mit biographischer Forschung zu beschäftigten. Als ich in diesem Jahr bei seiner Geburtstagsfeier saß, erkannte ich plötzlich die Tragik meiner vorherigen Hemmungen, ihn nach Geschichten aus seinem Leben zu fragen. Sie bestand vor allem darin, dass er ja nur dann seinem eigenen Leben selbst einen Sinn geben konnte, wenn es ihm gelang, etwas darüber zu erzählen. .....
     Zu Beginn des Interviews präsentiert sich Sandy eher wie ein Jugendlicher, obwohl er bereits ein junger erwachsener Mann ist. .....
     In der nächsten Sequenz stellt die Interviewerin die erzählgenerierende Eingangsfrage mit der Aufforderung an Sandy, sein gesamtes Leben zu erzählen. Noch während die Frage formuliert wird, unterbricht Sandy die Interviewerin:

"S: du musst mich fragen wat du wissen willst,

I: na: äh:

S: # # ick mein, ick kann nicht so a - erzähl ick nich, weeß nich, wat ick erzähln soll, mußt mich schon fragen / / ähm:/ / zu irgend nen Punkt, und dann kann ick dir vlelleicht dazu wat erzählen"

In der Interaktion zwischen Sandy und der Interviewerin entsteht Unsicherheit. Die Interviewerin möchte etwas von Sandy, nämlich eine Erzählung seines Lebens in einer selbst strukturierten Form. Sandy fordert konkretere Fragen ein und macht hier bereits deutlich, dass er sich nicht sicher ist, ob er die interessierenden Fragen zu seinem Leben auch beantworten kann. Dies drückt er in dem Wort "vielleicht" aus ("dann kann ick dir vielleicht dazu wat erzählen"). Die Interviewerin ist ihrerseits verunsichert. Dies äußert sich in ihrem Stammeln: "na: äh: ...ähm:". In der bisherigen Interaktion ist unklar, wer von den beiden nun eine äußere Struktur vorgibt und damit Klarheit schafft, Sandy oder die Interviewerin.
     Es kann noch eine weitere Hypothese formuliert werden. Sandy bekommt, indem er sich der Aufgabe nach der Erzählung der Lebensgeschichte stellt, Angst. Sein Leben und die Erinnerungen daran sind für ihn möglicherweise bedrohlich. Dies drückt er wiederum in seinem Stammeln aus: "ick mein ick kann nicht so a - erzähl ick nich". Es scheint, als versuche er, Erinnerungen zu vermeiden, die für ihn gefahrvoll sind. Er wehrt sie ab. Dies wird im Fortgang der Sequenz deutlich:

"I: kannst du dich erinnern, also an deine ersten Erinnerungen erinnern, an - in deinem    Leben ((fragend))

S: / äh ((fragend)) ick weeß nich, wat du willst jetzt von mir ((schnieft ein)) "

An dieser Stelle wird deutlich: Sandy kann die Aufgabe, einfach zu erzählen, nicht lösen, da er mit ihr überfordert ist. Die Eingangsfrage ist ihm zu komplex. Er versteht offenbar nicht, was die Interviewerin von ihm erwartet. Er bleibt unsicher und die Bewältigung der Aufgabe erzeugt in ihm ein Chaos. Er fordert eine klare äußere Orientierung, eine Ordnung und einen Halt, in deren Rahmen er antworten kann. Als Sandy diese Worte spricht, klingt seine Stimme auf dem Tonband gereizt und bedrohlich für die Interviewpartnerin. Fehlender Halt und eine fehlende Ordnung erzeugen in ihm schnell Gefühle der Wut und Aggression.
     Die bisherigen Hypothesen werden in der Interaktion in der darauf folgenden Sequenz bestätigt:

"I: wo fängt das Leben an, d e i n Leben ((fragend))

S: / na wo ick bei meiner Oma gewohnt hab natürlich ((gereizt))

I: und kannst du dich an Situationen erinnern in der Zeit, wo du bei deiner Oma gewohnt hast ((fragend))

S: na dann bin ick immer zur Schule gegangen da ((schnauft ein)) (3)

I: obmh .

S: / und weiter ((fragend)) ((schnauft ein)) i c k k a n n  n i c h  so erzählen, weeß nich, wat ick da sagen soll"

In den folgenden Sequenzen unterstützt die Interviewerin Sandy dabei, in einen Erzählstrom zu gelangen. Sandy präsentiert nun eine selbst strukturierte Eingangserzählung, die in der Transkription etwa 1,5 Seiten umfasst.» (S. 249 - 253)

Dies ist nur der Anfang einer 42-seitigen, von der Autorin bereits drastisch gekürzten Wiedergabe des Interviews mit eingefügten und begleitend überprüften Interpretationen. Ferner werden immer auch gesonderte Kästen mit den 'historischen Tatsachen' präsentiert, insoweit sie aus den verfügbaren Quellen sich rekonstruieren ließen - oder, wie radikale Konstruktivisten sagen würden, 'konstruiert' wurden. Die Autorin ist glücklicherweise keine radikale Konstruktivisten, sondern hypothetische Realistin, zuweilen sogar mehr behauptend als vermutend. Am Ende befindet sich eine verallgemeinernde Gesamtinterpretation, die als hypostasierte Entwicklungsgeschichte bezeichnet werden kann und anschließend eine Zusammenfassung, die nun vollständig wiedergegeben werden soll:
»Der biographische Verlauf bei Sandy zeichnet sich durch eine frühkindliche Traumatisierung aus. Weiterhin wird er durch das Fehlen von primären Bindungs- und Beziehungspersonen bei gleichzeitigem physischem Überleben durch die Versorgung einer Institution geprägt. Er setzt sich fort in dem Bemühen des Biographen, sein Bindungs- und Beziehungsbedürfnis zu befriedigen. welches sich einerseits in ohnmächtigem Erleiden und andererseits in aggressivem Handeln äußert, woraus Retraumatisierungen entstehen. Die aggressiven Handlungen können erst dann partiell aufgeben werden, als der Biograph in einer Jugendhilfeeinrichtung ein sicheres und verlässliches Beziehungsangebot erhält und in diesem Kontext neue Interaktionsformen entwickeln kann.
     Sandys Inneres ist geprägt von existenziellen Ängsten, so dass er keine innere Sicherheit finden kann. Er ist bestrebt, in einen Kontakt zu seiner Umwelt zu gelangen, um über soziale Beziehungen Sicherheit von außen zu erfahren. Dabei hat er ein sehr starkes Bedürfnis, Kontrolle zu erfahren, die ihm Halt und Orientierung gibt (vgl. Bettelheim 1983). Seinen Bindungswunsch drückt Sandy jedoch häufig über aggressives Verhalten aus. Die aggressiven Äußerungen können als Handlungsmuster des Sich-Wehrens und auch des Angriffs als Reaktionen auf das Erleben von Mißhandlung, Trennung, Entsagung und Verzweiflung interpretiert werden. Durch das aggressive Handlungsmuster erlebt Sandy jedoch häufig Ablehnung und Ausgrenzung. Sein Wunsch nach Kontakt und sicheren Bindungen durch seine Umwelt bleibt unbefriedigt. Es gelingt ihm so auch nicht, über äußere Sicherheit eine innere Sicherheit zu erlangen. Obwohl Sandy im Verlauf der Adoleszenz einen Weg aus der Isolation findet, ihm die Gestaltung sozialer Beziehungen zunehmend gelingt und er in Ansätzen seinen Bindungswunsch realisieren kann, bleibt das Grunddilemma seines Lebens bestehen. Dieses besteht darin, durch die eigenen, im biographischen Verlauf erworbenen Handlungsoptionen letztlich seine inneren Grundbedürfnisse lediglich nur ansatzweise befriedigen zu können.
     Bedeutsam ist, dass der Wendepunkt in der Biographie durch die Institution erzeugt wurde, indem sie Sandy ein verlässliches Beziehungsangebot unterbreitete. Hierfür veränderte die Jugendhilfeeinrichtung bewusst ihren eigenen institutionellen Rahmen.
     Sandy selbst hatte ein Gespür dafür, welches Milieu ihm gut bekommt, und äußerte dies mit dem Wort: 'Hierbleiben'. Diese Äußerung wurde durch die Hilfeinstitutionen, Jugendamt und Jugendhilfeeinrichtung, ernst genommen, wenn auch ihre Sinn- und Bedeutungsstruktur nicht unmittelbar erfasst und verstanden wurde. Sie ermöglichte Sandy jedoch den Verbleib an einem sozialen Ort und erlaubte den Bruch mit einem lebensgeschichtlichen Muster, das von Ablehnung, Gewalt und wiederholter Trennung gekennzeichnet war.« (S.295/296)

Schließlich seien noch einige der konzeptionellen Schlußfolgerungen aus dem 11. Kapitel zitiert:
»Das Angebot der Jugendhilfe ist dann hilfreich, wenn es ein Setting schafft, welches die biographischen Handlungsstrukturen der Jugendlichen unterstützt und gleichzeitig minimale Modifikationen ermöglicht. ..... 
     In einem gelingenden Hilfeprozeß modifizieren die Jugendlichen nicht radikal ihre biographische Handlungsstruktur. Stattdessen können sie durch den Einfluß sozialer Bedingungen ihre Handlungsoptionen erweitern. Wir bewegen uns demnach im Prozeß gelingender Jugendhilfe in einer Paradoxie von gleichzeitiger Beständigkeit und Veränderung. .....
     Die Jugendhilfe kann biographische Handlungsstrukturen bei den Jugendlichen nicht neu erzeugen. .....
     In allen hier vorgestellten Fällen wird deutlich, dass die jungen Menschen bereits als sehr kleine Kinder begonnen haben, in ihrer Umwelt selbst aktiv zu handeln. Die sozialen Bedingungen der Umwelt, in der die ersten eigenen Handlungen der Kinder stattfinden, ist ausschlaggebend für die weitere Entwicklung der biographischen Handlungsstruktur. .....
     Eine professionelle Methode, um geeignete Hilfesettings für schwierige und gefährdete Jugendliche zu erfinden, besteht darin, die Jugendlichen als Selbstexperten zu verstehen. Dies bedeutet vor allem, ihnen zuzuhören, ihre Äußerungen zu 'entschlüsseln' und ihre Suchbewegungen zu akzeptieren. .....
     Eine Hilfe konnte dann vom Scheitern zum Gelingen gewendet werden, wenn die Jugendlichen in Kontakt zu erwachsenen Menschen kamen, dieser Kontakt nicht abbrach, sondern kontinuierlich und konstant über eine längeren Zeitraum fortgesetzt wurde. Insbesondere an den "Ökologischen Übergängen" (Bronfenbrenner 1981, S.22) von der Jugendhilfe ins selbständige Leben blieben die betreuenden Sozialarbeiterinnen noch für längere Zeit an der Seite der Jugendlichen. .....
     In einem Angebot der Jugendhilfe drücken sich in jedem Fall die strukturellen Rahmenbedingungen des kollektiven Kontextes aus und ermöglichen und begrenzen das Handeln der sozialen Akteure gleichermaßen. .....
     Es gibt also unabhängig davon, unter welchen strukturellen Bedingungen eine Jugendhilfe stattfindet, Gestaltungsräume, um der Jugendlichen eine möglichst "genügend gute" Umwelt zu schaffen beziehungsweise diese mit ihr gemeinsam herzustellen. .....
     Voraussetzung eines gelingenden Hilfeprozesses ist ein Milieu, ein sozialer Ort, welcher eine "genügend gute" Umwelt für die Jugendlichen darstellt. .....
     Dass die Zeit, welche die Subjekte Jugendliche und Sozialarbeiterin an einem sozialen Ort miteinander verbringen, für ein Gelingen der Jugendhilfe ausschlaggebend ist, kann hingegen als ein Ergebnis der Untersuchungen formuliert werden. .....
     Auch wenn die Jugendlichen sich sehr kompliziert in der sozialen Umwelt gaben und als sehr schwierig und gefährdet galten, halfen ihnen 'ganz normale' pädagogische Hilfeangebote und nicht in erster Linie besonders spezialisierte Hilfen. .....
     Die jungen Menschen lassen uns lernen, dass sie Hilfen zur Selbstkonstruktion benötigen, um sich gelingend weiterentwickeln zu können. .....
     Aus den vorgestellten Fällen können wir lernen, welches professionelle Handeln in aussichtslosen Situationen für die weitere Entwicklung der Jugendlichen hilfreich war. Es kann so formuliert werden: so lange (fast) nichts mit der Jugendlichen aktiv tun, bis eine neue handlungspraktische Idee erfunden wurde. .....
     Bemerkenswert ist, dass das Hilfesystem in all diesen Fällen den Jugendlichen gegenüber offen eingestanden hat, dass es zum momentanen Zeitpunkt keine anderen Ideen und Angebote für sie hatte. Es machte deutlich, dass die eigenen Grenzen erreicht waren, ohne dabei die Frage nach der Schuld für diese Situation aufzuwerfen. .....
     Wir können (instrumentell und technisch) nichts bewirken, aber unsere Wirkung ist enorm!«
(S. 309 - 325)

Man würde die Autorin gründlich mißverstehen, wenn man diese aus dem Kontext herausgelösten Schlußfolgerungen für allgemein gültige Thesen halten würde. Es sind und bleiben nur Hypothesen, deren Berücksichtigung im Einzelfall allerdings sehr fruchtbar sein kann. Viel bedeutsamer als diese Schlußfolgerungen ist der Weg dorthin. Er zeigt uns, daß es wichtig ist, die unterschiedlichsten Quellen ernst zu nehmen, zuvörderst den Klienten und seine Geschichte selbst, ferner andere, die ihn persönlich kennen, sonstige Experten und deren Befunde über ihn, auch Experten, die den Klienten gar nicht kennen, dazu gehören die unterschiedlichsten Autoren der Fachliteratur, denn die hermeneutische Biographiearbeiterin braucht für glaubwürdige Abduktionen nicht nur möglichst viele Beobachtungen, sondern auch möglichst viele Begriffe und Theorien, um ihre Beobachtungen vielfältig zuordnen zu können. Ferner muß sie die abduktiven Hypothesen durch nachfolgende Beobachtungen am selben Menschen überprüfen. Diesen Erkenntnisweg erstmalig für die Praxis der Jugendhilfe demonstriert zu haben, ist die sehr dankenswerte Leistung der jungen, ebenso praxis- wie theoriefreudigen Autorin, von der wir noch einiges erwarten dürfen. Zum Abschluß eine zur Überprüfung stehende biographische Prognose: Regina Rätz-Heinisch wird früher oder später in den herrschaftsfreien Diskurs der Aktionsforschung gelangen, weil dort die Forderungen der Abduktionslogik am konsequentesten eingelöst werden können.

Kurt Eberhard  (Jan. 2006)

 

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