FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 



Hans J. Markowitsch / Harald Welzer

Das autobiographische Gedächtnis

Hirnorganische Grundlagen
und biosoziale Entwicklung

Klett-Cotta, 2005

(302 Seiten, 29,50 Euro)


Das vorgelegte Buch von H. J. Markowitsch, Professor für Physiologische Psychologie an der Univ. Bielefeld, und H. Welzer, Forschungsprofessor für Sozialpsychologie in Witten/Herdecke, sowie Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Gedächtnisforschung am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, erscheint für alle, die sich mit Biographieforschung und biographischer Arbeit in der Praxis beschäftigen von großem Interesse.

Einleitend bemerken die Autoren:
»Es ist das autobiographische Gedächtnis, was den Menschen zum Menschen macht, also das Vermögen "Ich" sagen zu können und damit eine einzigartige Person zu meinen, die eine besondere Lebensgeschichte, eine bewußte Gegenwart und eine erwartbare Zukunft hat« (S. 11)

Die Voraussetzungen der Entwicklung dieses autobiographischen Gedächtnisses werden von ihnen in 3 großen Bereichen dargestellt:
Bereich I - Das Gedächtnis aus interdisziplinärer Sicht
Bereich II - Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses auf Hirnebene
Bereich III - Das autobiographische Gedächtnis: eine lebenslange Entwicklungsaufgabe

Die interdisziplinäre Sicht vermittelt besonders die evolutionären Vorteile und Besonderheiten der menschlichen Gehirnentwicklung in der Reihe der Säugetiere und in der Abgrenzung von den genetisch nächsten Verwandten, den Schimpansen.
»Kein anderes Lebewesen verfügt über eine vergleichbare Neuroplastizität, kein Gehirn ist bei der Geburt so unfertig wie das des Menschen, keines besitzt ein vergleichbar großes Entwicklungspotential für die Adaptierung an verschiedene und sich verändernde Umweltbedingungen.« (S. 18)

Und etwas später:
»Die Anzahl der neuronalen Verschaltungen wächst ausschließlich beim Menschen noch nach der Geburt in fötaler Geschwindigkeit und Größenordnung weiter......
Die Verschaltungen entstehen durch die Verarbeitung von Reizen und Informationen; was an Synapsen in bestimmten Zeitfenstern der Entwicklung nicht genutzt wurde, verschwindet.«

Wiederholt wird betont:
»Auf keiner Stufe der menschlichen Entwicklung können wir von einem rein biologischen Entwicklungsverlauf sprechen, der unabhängig von sozialen Kontextbedingungen abliefe.« (S. 24)

Entsprechend sehen die Autoren auch nur in der Konvergenz verschiedener Disziplinen eine adäquate Darstellungsmöglichkeit für die Gedächtnisentwicklung einschließlich der Externalisierung der Gedächtnisinhalte durch Sprache, Symbole und besonders durch die Schrift. Dies gilt um so mehr für die im kulturellen Spätstadium notwendige Selbstvergewisserung durch autobiographische Selbstreflexivität.

So wird im Bereich II zunächst ausführlich die neurophysiologische Repräsentanz (insbesondere entsprechend den neueren Erkenntnissen durch bildgebende Verfahren) der verschiedenen an der autobiographischen Gedächtnisentwicklung beteiligten psychischen Funktionen auf  Hirnebene beschrieben. Es geht um Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, Motivation und Emotion, Sinnessysteme und Lernformen, Informationsverarbeitung und Sprachentwicklung sowie -lokalisation.

Während im Bereich III schließlich entwicklungspsychologische Erkenntnisse auf ihre Relevanz für die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses geprüft werden und unter Berücksichtigung eines eigenen interdisziplinären Forschungsprojektes »das autobiographische Gedächtnis: (als) ein biokulturelles Relais zwischen Individuum und Umwelt« (S. 259) beschrieben wird.

Die pränatale Entwicklung von Lernen und Gedächtnis sowie die Entwicklung während der ersten extrauterinen Lebensmonate wird verfolgt bis zum ersten »Quantensprung der Gedächtnisentwicklung« der »Neun-Monats-Revolution« , wie sie die Autoren unter Bezug auf Tomasello nennen. Hier sehen sie den eigentlichen Eintritt in einen sozialen Raum bewußter Partizipation, der sich an der Entwicklung gemeinsamer Aufmerksamkeit für etwas Drittes verorten läßt.
»Und das wiederum ist die Voraussetzung für die spätere Perspektivenübernahme, die ihrerseits die Basis für echte Intersubjektivität bildet – die Fähigkeit, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen.« (S.169)

Die aus der entwicklungspsychologischen Forschung stammenden Erkenntnisse werden jeweils rückgebunden an die der Neurophysiologie.
»In den ersten Lebensmonaten akkumuliert das Baby durch Habitation, Interaktion mit den Bezugspersonen und Objekten und durch propriozeptives Feedback immer mehr Möglichkeiten der Welterschließung......, die aber noch relativ gering strukturiert sind. Für diese Phase ist das überreiche Angebot von Neuronen sinnvoll......
Die Erfahrungen, die das Kind im sich erweiternden sozialen Raum nach dem neunten Lebensmonat macht, schlagen sich in einer Vermehrung von Synapsen und im Wachstum von Dendriten nieder – vermittelt unter anderem über soziale Interaktionsprozesse, an denen das Kind aktiv partizipiert. Die Erfahrungsmenge und das Komplexitätsniveau dieser Erfahrungen nehmen deutlich zu, und sie müssen eine Form finden, um effizient nutzbar und sozial anschlußfähig zu werden. Die Zeit danach läßt sich entsprechend als eine Phase der zunehmenden Konsolidierung und Durchstrukturierung der früheren Erfahrungen beschreiben – hier finden in starkem Maße nutzungsabhängige Reduktionsprozesse von Synapsen statt, und die Verschaltungsstruktur stellt zunehmend stabile Muster bereit, die als Basis für neue Erfahrungen, Lern- und Gedächtnisfortschritte dienen können. Ein weiterer Schlüssel für die soziale Revolution, die im letzten Viertel des ersten Lebensjahres stattfindet ist die Reifung des Hippocampus, des für die Langzeitspeicherung von Erinnerungen zentralen Organs.“ (S.175)

»Der zweite Quantensprung der Gedächtnisentwicklung« wird von den Autoren dann mit der ausführlichen Beschreibung der Sprachentwicklung dargestellt. Daß Erinnerungen einen Ich-Bezug aufweisen und zeitliche und kausale Zusammenhänge sprachlich repräsentiert werden können (rudimentär ab 2½ Jahren), sehen sie als Beginn des autobiographischen Gedächtnisses an.
„Kurz: Das autobiographische Gedächtnis ist dann erwacht, wenn ein dreijähriges Kind davon berichten kann, daß es gestern im Kindergarten vom Stuhl geknallt ist und sich wehgetan hat. In diesem Alter beginnt es in der Tat erste Tempusformen zu beherrschen und ein Verständnis von Zeit im Sinn zeitlicher Ordnungen zu entwickeln.“ (S. 198)

Um jedoch längerfristige autobiographische Erinnerungen zu speichern, bedarf es außerdem einer Weiterentwicklung der Perspektivübernahme bzw. des psychologischen Verstehens.
»Aus Langzeiterinnerungen können erst dann autobiographische Erinnerungen werden, sobald den Kindern bewußt ist, daß sie etwas wissen, weil sie es (zum Beispiel) vorher gesehen haben, und sobald ihnen zugleich bewußt ist, daß jemand, der nicht das gleiche gesehen hat, auch nicht das gleiche Wissen wie sie selber besitzt – und ein solches Bewußtsein ist zumindest vor dem dritten Lebensjahr nicht gegeben.« (S. 207)

Speziell zu diesen aus der Literatur entwickelten Zusammenhängen referieren die Autoren dann auch eine eigene explorative Studie mit 28 Kindern zwischen zwei und vier Jahren. Das Hauptanliegen ihres interdisziplinären Forschungsprojektes liegt jedoch  in der »Untersuchung der Entwicklung und Veränderung des autobiographischen Gedächtnisses über die Lebensspanne hinweg« (S.226)

Dazu werden ältere und jüngere Erwachsene (62 – 74 und 38 – 42 Jahre) sowie Adoleszente (20-21 und 16-17 Jahre) multimethodisch untersucht. »Biographische Interviews werden mit psychologischen Gedächtnistests und mit bildgebenden Verfahren kombiniert« (S. 226)

Zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung war das Forschungsprojekt offensichtlich noch nicht abgeschlossen. Es werden jedoch Befunde »des bisherigen Ergebnisstandes« mitgeteilt, die besonders auffällig erscheinen und zwar:
»a. die relative Bedeutungslosigkeit von ' recent memories'  bei älteren Probandinnen
(und die hohe Bedeutung für Adoleszente);
b. die große Bedeutung des jungen Erwachsenenalters bei älteren Probandinnen sowohl  auf der Ebene der subjektiven Repräsentation wie auf der Ebene der neuronalen Aktivierungsmuster;
c. das Anwachsen der evaluativen Komponente des autobiographischen Erinnerns, sowohl auf der Ebene der narrativen Repräsentation wie auf der Ebene der neuronalen Aktivierungsmuster;
d. das geringe Aktivierungsniveau für Erinnerungen aus der frühen Kindheit in der Stichprobe der älteren Probandinnen, obwohl diese narrativ deutlich repräsentiert ist. Dieser Befund weist auf die zunehmende Semantisierung älterer Erinnerungen im Lebensverlauf hin;
e. das spezifische Aktivierungsmuster für Erinnerungen aus der frühen Kindheit in der Stichprobe der jüngeren Erwachsenen. Dieser Befund ist aus unserer Sicht bemerkenswert, weil wir hier eine neuronale Entsprechung für die entwicklungspsychologisch postulierte Konstitutionsphase des autobiographischen Gedächtnisses im Alter zwischen drei und sechs Jahren finden.« (S. 230)

Zusammenfassend sehen die Autoren die Entwicklung des menschlichen Gedächtnisses am besten durch eine formative Theorie als ein Wandlungskontinuum (S.240) beschrieben:
»...auch wenn sich Gedächtnissysteme ontogenetisch nacheinander ausbilden, geraten die jeweils früheren doch nicht außer Funktion, wenn spätere und umfassendere Systeme emergieren und in Funktion treten« .... und so wird  »das lebenspraktische Paradox erklärbar....,daß wir uns ein Leben lang gleich bleiben, obwohl wir uns unablässig verändern« (S. 240)

Das Gedächtnis im Alter  wird abschließend in einem eigenen Kapitel behandelt. Dabei wird der im Alter in vielen Fällen beobachtbare Abbauprozeß durchaus als konsistent mit der formativen Theorie der Gedächtnisentwicklung angesehen, indem die Funktionen des Gedächtnisses z.T. in der Reihenfolge abgebaut werden, in der sie entstanden sind.

Insgesamt bietet des Werk einen breit angelegten Überblick über die menschliche Gedächtnisentwicklung und die beteiligten Funktionen. Dazu gibt es viele eingeschobene Vertiefungen, die in speziellen 'Boxen' ausgewiesen werden. Die Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses und seine biokulturelle Funktion wird sehr gut nachvollziehbar, entsprechend dem neuesten Stand der Forschungsliteratur, dargestellt.

Bedauerlich ist jedoch, dass Ergebnisse des eigenen Forschungsprojektes der Autoren zur lebenslangen Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses nur sehr knapp (auf 5 Seiten) angedeutet werden, da sie zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung noch nicht voll erhoben und ausgewertet waren.

Prof. Dr. U. MacDonald-Schlichting (Febr. 2006)

 

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