Der vorliegende Band von Meriem Diouani ist eine erste fundierte Zusammenfassung relevanter, jüngerer Forschungsergebnisse aus Entwicklungspsychologie, Bindungstheorie, Psychoanalyse, Neurobiologie und Traumaforschung vor dem Hintergrund des deutschen Rechtssystems und für die Praxis des Pflegekinderwesens, speziell die Problematik des Umgangs von Pflegekindern zu ihren leiblichen Eltern.
Aus dem Vorwort von Gisela Zenz: „Exemplarisch dokumentieren sich in diesem Beitrag, der aus einer erziehungswissenschaftlichen Diplomarbeit entstanden ist, wichtige Ergebnisse interdisziplinärer Forschung und Lehre am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Frankfurter Universität. Darüber hinaus wird damit der besondere Stellenwert erziehungswissenschaftlicher Beiträge für die rechts- und sozialpolitische Diskussion und für die zunehmend nach Orientierung suchende Praxis zum Kinderschutz verdeutlicht.“ (S. 8)
Zunächst das Inhaltsverzeichnis:
Einleitung I. Die rechtliche Situation um Umgang und Pflegekindschaft I. A Vom Kind zum Pflegekind I. A. l Kindeswohl, Elternverantwortung und staatliches Wächteramt I. A. 2 „Zeitlich befristete Erziehungshilfe" und „auf Dauer angelegte Lebensform“ I. B Das Umgangsrecht zw. Kind und Eltern gem. § 1684 BGB nach dem KindRG von 1998 I. B. l Der Gesetzgeber und die Reform des Umgangsrechts im KindRG 1. B. 2 Begleiteter Umgang gem. § 1684 IV S. 3 BGB. I. B. 3 Der Erforderlichkeitsgrundsatz zum Ausschluss des Umgangsrechts I. C Rechtsprechung zum Umgangsrecht I. C. l Tendenzen i. d. Rechtspr. zum Umgangsrecht von Trgs- und Scheidungskindern I. C. 2 Zum Umgangsrecht zwischen Pflegekindern und leiblichen Eltern - Falldarstellungen II. Vom Kind zum Pflegekind aus entwicklungspsychologischer Sicht II. A Theoretische Grundaussagen und Forschungsstand II. A. l Kindliche Grundbedürfnisse und Deprivationsfolgen II. A. 2 Risiko- und Protektionsforschung II. A. 3 Bindungstheorie II. B Bindung und Psychopathologie II. B. l Bindungsstörungen II. B. 2 Traumatisierende Kindheitserlebnisse innerhalb der Herkunftsfamilie II. B. 3 Die pathologische Eltern-Kind-Bindung III. Das Wohl des Pflegekindes in Umgangsfragen gem. § 1684 BGB III. A Dauerpflege - Umgang als Risikofaktor III. A. l Früh traumatisierte kleine Kinder III. A. 2 Ältere traumatisierte Kinder III. A. 3 Empirische Befunde zu Umgangskontakten von Dauerpflegekindern III. B Kurzzeitpflege: Umgang als Schutzfaktor III. B. l Säuglinge III. B. 2 Kleine Kinder bis drei Jahre III. C Eine sozialpädagogische Bilanz zur Umgangspraxis im Pflegekinderwesen III. C. l Anforderungen an die Jugendhilfe III. C .l Begleitung der Herkunftseltern III. C. 2 Anforderungen an das Familiengericht III. C. 3 Anregung an den Gesetzgeber IV. Schlussbetrachtung und Ausblick Literatur
Gleich zu Beginn weist die Autorin auf weit verbreitete Missstände in der Praxis hin: „Die Diskrepanz zwischen rechtlichen Normen und ihrer praktischen Umsetzung hat verschiedene Gründe. Die „Fehldeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ nach der Einführung des KJHG kann als einer dieser Gründe angesehen werden. Dadurch wird nicht nur die Dauer von Pflegeverhältnissen tangiert, sondern es werden ambulante Hilfen offensichtlich auch noch in den Fällen eingesetzt, in denen unter Kindesschutzgesichtspunkten eine Trennung des Kindes von seiner Herkunftsfamilie notwendig wäre.“ (S. 17)
Umgangskontakten von misshandelten Kindern steht Diouani aus bindungstheoretischen Überlegungen sehr kritisch gegenüber, und weist dabei auf eine nicht ausreichende Gesetzeslage hin: „Die Bindungserfahrungen schwer deprivierter, vernachlässigter und misshandelter oder missbrauchter Kinder münden häufig in der kumulativen Traumatisierung der Kinder. Diese Erfahrungen werden in ihren psychischen, seelischen und z.T. körperlichen Folgen durch eine Inpflegegabe nicht ungeschehen gemacht. Die strengen Anforderungen des Erforderlichkeitsgrundsatzes zum Umgangsausschluss gem. § 1684 IV BGB zum Schutz des Kindeswohls, wie sie in I.B.3 erörtert wurden, tragen der Tatsache, dass das Kindeswohl der meisten Pflegekinder bereits ohne Kontakte gefährdet ist, nicht ausreichend Rechnung. Der persönliche Umgang, der dem Erhalt der Eltern-Kind-Bindung dienen soll, bedeutet für in ihrem Bindungsverhalten schwer beeinträchtigte oder traumatisierte Kinder sogar einen weiteren Risikofaktor im Hinblick auf die gelingende Bewältigung ihrer vielfältigen Entwicklungsstörungen. Der Aufbau einer sicheren Eltern-Kind-Bindung als Basis einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung für sehr junge Kinder bzw. die Möglichkeit zu korrektiven Bindungserfahrungen im Ersatzpflegemilieu für ältere Kinder sollte als Ziel in Dauerpflegeverhältnissen ohne Rückkehroption angesehen werden. Aus diesem Grund müssen die mit der Fremdunterbringung in Verbindung stehenden jugendhilferechtlichen Anstrengungen und familiengerichtlichen Interventionen zur Umgangsfrage dem Ziel korrektiver Bindungserfahrungen Rechnung tragen und darauf überprüft werden, ob sie dem Bindungsaufbau in der Pflegefamilie förderlich oder hinderlich sind.“ (S. 58)
Der Pflegefamilie misst sie große Bedeutung bei der Verarbeitung und Bewältigung von traumatischen Erlebnissen zu und schließt sich einer in diesem FORUM bereits vorgetragenen therapeutischen Sichtweise (s. TPP) an: „Bei traumatisierten Kindern mit pathologischen Eltern-Kind-Bindungen sind Erfahrungen mit Erwachsenen aufs Engste mit tiefem Misstrauen, Ohnmachts- und Überwältigungserfahrungen verbunden, so wie es oben ausführlich erörtert wurde. Für viele dieser Kinder bedeuten Familienstrukturen deshalb eine emotional kaum aushaltbare Nähe. Eine erhebliche Anzahl von Pflegekindern hat mehrfache Beziehungsabbrüche erlebt. Regelmäßige, aber auch sporadische Umgangskontakte zwischen älteren traumatisierten Kindern und ihren leiblichen Eltern stützen offensichtlich das Festhalten an pathologischen Eltern-Kind-Bindungen. Erlebt sich das Kind in der Umgangssituation überwältigt, wird sein Misstrauen in seine soziale Umwelt neuerlich verstärkt und beeinträchtigt so die Integration des Pflegekindes in die neue Familienstruktur. Auf diese Weise ist die Herstellung von einer gegenseitigen, Sicherheit bietenden Bindung zwischen Pflegekind und Pflegeeltern nicht möglich, die allerdings die zentrale Voraussetzung und den erstrangigen Schutzfaktor für eine schrittweise Verarbeitung ihrer traumatischen Erfahrungen bedeutet. In der Traumatherapie wird die Herstellung einer tragfähigen Patient-Therapeut-Beziehung, die eine Reaktualisierung des Traumas ausschließt, konsensual als Basis für die gelingende Traumabewältigung des Patienten angesehen. Hier geht es darum, wieder vertrauen zu lernen, Autonomie zurück zu gewinnen, eine eigene Identität zu entwickeln und schließlich lebenstüchtig zu werden. Pflegefamilien übernehmen häufig diese therapeutische Funktion für traumatisierte Kinder.“ (S. 64)
Diouani stellt hohe Anforderungen an die interdisziplinäre Kompetenz von Richtern und Jugendamtsmitarbeitern, damit konkrete Einzellfälle konstruktiv gelöst werden können: „Die Diskrepanz zwischen den Zielen rechtlicher Normen und den Folgen ihrer Umsetzung läßt sich nicht vollständig auflösen. Abhilfe ist deshalb durch die genaue Betrachtung der gegebenen Umstände im konkreten Einzelfall zu sehen. Die genaue Rezeption und sorgfältige Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Praxiserfahrungen sowie die Berücksichtigung der gerichtlichen und jugendamtlichen Praxis sind als eine Voraussetzung für die konstruktive Lösung der Umgangsproblematik im Pflegekinderwesen anzusehen.“ (S. 91)
In den humanwissenschaftlichen Disziplinen findet sie große Übereinstimmung darüber, wie bereits traumatisierte Kinder zu behandeln sind: „EntwicklungspsychologInnen, Kinder- und JugendpsychiaterInnen, TraumaforscherInnen und NeurobiologInnen stimmen darin überein, dass Sekundärprävention in der Arbeit mit bereits traumatisierten Kindern der Vorrang vor allen anderen Hilfeansätzen einzuräumen ist. Unter Sekundärprävention ist ganz konkret die Möglichkeit zum Aufbau einer sicheren Bindung als Schutzfaktor vor erneuter Traumatisierung zu verstehen. Neben einer gezielten Therapie ist darunter für Pflegekinder vor allem die Sicherung eines Lebensumfeldes zu verstehen, in dem sie unter Ausschluss möglicher Retraumatisierungen die Möglichkeit haben, angebotene korrektive Bindungserfahrungen für sich zu nutzen.“ (S. 92)
Die Monographie richtet sich hauptsächlich an sozialpädagogische Fachkräfte und Rechtswissenschaftler, kann aber auch interessierten Pflegeeltern empfohlen werden. Viele in den letzten Jahren ergangene Umgangsentscheidungen müssten nach Diouanis Analyse als Kunstfehler gewertet werden. Bleibt zu hoffen, dass dieser wichtige Beitrag an den entscheidenden Stellen gelesen, verstanden und beherzigt wird.
Christoph Malter (April, 2006)
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