FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 


Hans-Christoph Steinhausen

Psychische Störungen bei Kindern
und Jugendlichen

Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie
und -psychotherapie

Urban und Fischer im Elsevier-Verlag, 2006
(6. Auflage, 697 Seiten)

Prof. Dr. Dr. Steinhausen ist Psychologe mit Anerkennung als Verhaltenstherapeut, Facharzt für Kinder und Jugendpsychiatrie, habilitiert für Psychosomatische Kinderheilkunde und z.Zt. Ordinarius für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Zürich. Durch seine zahlreichen Publikationen und wissenschaftlichen Funktionen ist er international bekannter als die meisten seiner Kollegen.

Das Anliegen des Lehrbuchs beschreibt er in den Vorworten zur ersten und sechsten Auflage:
»Die Kinder- und Jugendpsychiatrie befindet sich in jüngster Zeit in einem Entwicklungsprozess, der zu einem relativen Bedeutungsrückgang allgemeiner theoretischer Entwürfe und einer zunehmend empirischen Orientierung der Ansätze in Wissenschaft und Praxis geführt hat. Dieser Entwicklung fühlt sich das vorliegende Lehrbuch verpflichtet. Es ist gleichermaßen aus der Lehre wie aus der Weiterbildung entstanden, bei der es darum ging, Studenten verschiedener Fächer, wie Medizin, Sonderpädagogik und Psychologie, sowie Assistenten und Praktiker in die Kinder- und Jugendpsychiatrie einzuführen. Um für den klinisch tätigen Kinder- und Jugendpsychiater informativ und handlungsanleitend zu werden, waren Erweiterungen erforderlich, die gleichwohl auf einer bereits vorliegenden Struktur fußten.
     So werden die einzelnen Störungen jeweils unter definitorischen, klassifikatorischen und epidemiologischen Aspekten einleitend vorgestellt. Es schließt sich jeweils die Erörterung des klinisch-diagnostischen Bildes und der Ätiologie an. Schließlich endet die jeweilige Darstellung mit einer Erörterung der therapeutischen Möglichkeiten und einer Darstellung der vorliegenden Erkenntnisse zum Verlauf. Bei sämtlichen Abschnitten wurde Wert darauf gelegt, Erkenntnissen der Forschung, die für die Praxis wichtig sind, Rechnung zu tragen. Damit sollte sichergestellt werden, dass in der Diagnostik und Therapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen die faktenorientierte Sicht über die meinungsorientierte dominiert.« (aus dem ersten Vorwort)

»Seit der Erstauflage dieses Lehrbuchs im Jahre 1987 habe ich das Ziel verfolgt, die Kinder- und Jugendpsychiatrie als ein empirisch begründetes Fach mit zahlreichen Wurzeln und Ansätzen sowohl in der biologischen als auch den psychosozialen Disziplinen zu vermitteln. Die Evidenzbasierung hat dabei bereits vor der breiten Etablierung dieses Begriffes die Gestaltung der Inhalte geleitet und stets kritisch hinterfragt, inwieweit theoriegeleitete Konzepte der Diagnostik und Therapie der Überprüfung durch Beobachtung und wissenschaftliche Kontrolle hinlänglich standhalten.
     Ein weiteres Ziel bestand darin, die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung auf ihre Umsetzbarkeit in die klinische Realität zu überprüfen und damit für praktisches Handeln in der Diagnostik und Therapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügbar zu machen. Dabei habe ich mich bemüht, aus der Vielfalt von Einzelbefunden die meiner Einschätzung nach wirklich relevanten Entwicklungslinien neuer Erkenntnisse herauszufiltern und so umzusetzen, dass Lernende in Aus- und Weiterbildung in ihrer Aneignung des Faches gleichermaßen wie Fachleute von der Darstellung profitieren können.
     Diesem Ziel war von Anfang an die Bereitstellung von Praxismaterialien zugeordnet, indem im Anhang zahlreiche Fragebögen, Skalen und Therapieanleitungen bereitgestellt wurden, die ich zu einem großen Teil im Rahmen meiner klinischen und wissenschaftlichen Laufbahn übersetzt, adaptiert und entwickelt habe. .....
   Mit dem Anspruch, wissenschaftlich geleitete Erkenntnisse in angemessener Weise für Praxis und Lernen verfügbar zu machen, habe ich bei jeder Neuauflage die Inhalte dieses Buchs jeweils aktualisiert. Dabei ist bei gleicher Grundstruktur jedes Mal eine umfangreiche Überarbeitung entstanden. Mein Bemühen ging dahin, einerseits im Einklang mit den generellen Entwicklungslinien des Fachs zu sein, andererseits aber nicht notwendigerweise die m.E. defizienten Teilbestände oder Überakzentuierun gen einzelner Konzepte zu übernehmen.« (aus dem jüngsten Vorwort)

Das umfangreiche Programm des Werkes ist aus dem Inhaltsverzeichnis ersichtlich. Hier nur die Hauptüberschriften:

  1. Entwicklungspsychologie und -psychopathologie
  2. Definition, Klassifikation und Epidemiologie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
  3. Ätiologie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
  4. Diagnostik psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
  5. Geistige Behinderung
  6. Autismus
  7. Schizophrenien
  8. Hirnstörungen
  9. Hyperkinetische Störungen
  10. Bewegungsstörungen
  11. Störungen der Sprache und des Sprechens
  12. Lernstörungen
  13. Angststörungen
  14. Affektive Störungen
  15. Zwangsstörungen
  16. Belastungs- und Anpassungsstörungen
  17. Psychische Störungen mit körperlicher Symptomatik
  18. Psychische Störungen bei chronischen körperlichen Krankheiten und Behinderungen
  19. Störungen des Sozialverhaltens
  20. Substanzmissbrauchsstörungen
  21. Deprivationsstörungen
  22. Persönlichkeitsstörungen
  23. Sexuelle Störungen
  24. Suizidalität
  25. Psychotherapie
  26. Verhaltenstherapie
  27. Familientherapie
  28. Psychopharmakotherapie
  29. Funktionelle Therapien

    Weiterführende Literatur und Anschriften
    Anhang
    Sachverzeichnis (leider kein Autorenverzeichnis)
     

Die folgenden Textproben habe ich dem Unterkapitel über Bindungsstörungen aus dem 21. Kapitel entnommen:

Definition, Klassifikation und Häufigkeit
Die ICD-lO berücksichtigt die zwei neu aufgenommenen diagnostischen Kategorien der relativen Bindungsstörung des Kindesalters und der Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung. Die diagnostischen Kriterien dieser beiden Störungen sind in den Tabellen 21-1 und 21-2 zusammengefasst. Während die reaktive Bindungsstörung eher auf die unmittelbare Auswirkungen von Deprivationsbedingungen vor allem beim Kleinkind mit der Betonung des sozialen Rückzugs zielt, stehen bei der Bindungsstörung mit Enthemmung die weiterreichenden Auswirkungen von Heimunterbringung und multiplen Pflegschaften beim älteren Kind im Vordergrund, das unselektiv oberflächliche Bindungen sucht.
     Zur Häufigkeit der Bindungsstörungen gibt es keine verlässlichen Angaben. Aus Studien von Kindern mit Institutionalisierung kann abgeleitet werden, dass mehr als ein Drittel der betroffenen Kinder das charakterisierte diffuse Sozialverhalten zeigen. Dieses Merkmal verbleibt auch bei ansonsten deutlicher Verhaltensbesserung bei einem Teil der Kinder in ausgeprägter oder leichter Form im weiteren Verlauf nach der Heimunterbringung und steht mit der Dauer der Institutionalisierung in einem ursächlichen Verhältnis.

Klinik und Diagnostik
Bei der reaktiven Bindungsstörung sind die zentralen Zeichen:

  • die anhaltend abnorme Beziehung zu Bezugspersonen
  • mit einer Entwicklung vor dem Alter von 5 Jahren sowie
  • die ausgeprägt widersprüchlichen oder ambivalenten sozialen Reaktionen auf Bezugspersonen, die im Kontext einer schweren elterlichen Vernachlässigung oder Misshandlung entstehen.

Das klinische Bild wird von Ängstlichkeit gegenüber Erwachsenen, Kontaktrückzug und fehlender sozialer Anpassung gekennzeichnet, die mit einer Überwachsamkeit verbunden ist. Die sozialen Reaktionen pendeln widersprüchlich zwischen Annäherung und Rückzug und das soziale Spiel ist durch negative emotionale Reaktionen geprägt.
 

Tabelle 21-1 Diagnostische Kriterien der reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1) gemäß ICD-10.
ein abnormes Beziehungsmuster zu Betreuungspersonen, das sich vor dem Alter von fünf Jahren entwickelt (stark widersprüchliche oder ambivalente soziale Reaktionen, die bei Verabschiedung oder Wie- derbegegnungen am besten sichtbar wird; Mischung aus Annäherung, Vermeidung und Widerstand gegen Zuspruch; Beziehungsunsicherheit)
emotionale Störung (Mangel an Ansprechbarkeit. Apathie, Unglück- lichsein, Rückzugsreaktionen, Furchtsamkeit. Übervorsichtigkeit. Be- einträchtigung des sozialen Spielens)
Gedeihstörung mit Wachstumsverzögerung (fakultativ)
nahezu immer im Kontext von Vernachlässigung und Misshandlung (keine diagnostische Bedingung!)


Bei einigen Kindern liegt zusätzlich eine körperliche Gedeihstörung vor. Unter dem komorbiden Symptomen können autismusähnliche Verhaltensmuster sowie Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität und Enthemmung beobachtet werden.
     Kinder mit einer Bindungsstörung mit Enthemmung zeigen
- multiple oberflächliche Beziehungen mit
- mangelnder Selektivität gegenüber Bezugspersonen.
     Auch dieses Verhaltensmuster entsteht in den ersten fünf Lebensjahren und neigt zum Persistieren. Im Kleinkindalter ist ein anklammemdes, diffuses und wahlloses Bindungsverhalten, später ab etwa vier Jahren ein aufmerksamkeitssuchendes und undifferenziert freundliches Verhalten zu beobachten.
     Nach Institutionalisierungen kann es komorbid auch zur Ausbildung von autismusähnlichem Verhalten und ADHS sowie gleichzeitig bestehenden Symptomen einer reaktiven Bindungsstörung kommen.
 

Tabelle 21-2 Diagnostische Kriterien der Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2) gemäß ICD-10.
Diffusität im selektiven Bindungsverhalten während der ersten fünf Lebensjahre, gefolgt von allgemeinem Anklammerungsverhalten im Kleinkindalter oder freundlichem, aufmerksamkeitssuchendem Verhalten in der frühen und mittleren Kindheit.
Schwierigkeiten beim Aufbau enger, vertrauensvoller Beziehungen zu Gleichaltrigen.
evtl. begleitende emotionale Störungen bzw. Störungen des Sozialverhaltens
In der Vorgeschichte meistens mangelnde Kontinuität der Betreuungspersonen oder mehrfacher Wechsel in der Familienplatzierung.


In der Differenzialdiagnose muss die reaktive Bindungsstörung von einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, speziell einer Autismus-Spektrums-Störung abgegrenzt werden, wobei die unterschiedlichen Kontexte, Verläufe, Kommunikationsfertigkeiten, kognitiven Fähigkeiten und Verhaltensmerkmale eine sichere Abgrenzung erlauben. Bei der Bindungsstörung mit Enthemmung sind differenzialdiagnostisch eine hyperkinetische Störung, hinsichtlich der Qualität der Sozialbeziehungen auch ein Asperger-Syndrom und die direkten Deprivationsfolgen einer längeren Hospitalisierung abzugrenzen.
     Die Diagnose stützt sich bei beiden Formen von Bindungsstörungen zentral auf die Anamnese mit der Aufdeckung der jeweils deprivierenden Bedingungen und die detaillierte Beobachtung des Kindes. Wenn das Kind in der Beziehung zu seiner Bezugsperson beobachtet werden kann, so sollte auf die folgenden Verhaltensmerkmale fokussiert werden:

  • Ausdruck von Affekt und Nähe
  • Ausmaß an Kooperation
  • Unfähigkeit, sich bei der Bezugsperson Hilfe zu holen
  • ausgeprägte Abhängigkeit und Anklammern
  • offene Furcht und Besorgnis gegenüber der Bezugsperson
  • Unvermögen, die Bezugsperson als eine sichere Basis für Erkundungsverhalten zu nutzen,

Wichtige weitere Informationsquellen sind Berichte, der Austausch mit Instanzen der psychosozialen Versorgung, die bereits beim Kind oder in der Familie tätig sind, Interviews mit Eltern und Kindern sowie die Beobachtung der Familie.

Ätiologie
Bei der reaktiven Bindungsstörung liegt in der Definition bereits der Hinweis auf Vernachlässigung und Misshandlung vor, wobei angesichts der Lebensgeschichte der Eltern bzw. Mütter oft eine Wiederholung von Deprivation stattfindet. Biologische Bedingungen können insofern eine Rolle spielen, als viele der betroffenen Kinder Risikofaktoren in der Perinatalanamnese aufweisen und die Bindungsstörung ungünstige Auswirkungen auf die Hirnentwicklung hat.
     Die Bindungsstörung und Enthemmung ist gemäß Definition die Folge einer Institutionalisierung mit Mangel an persönlicher Bindung und Betreuung. Die Möglichkeit einer intrafamiliären Deprivation darf jedoch nicht ausgeschlossen werden.

Therapie und Verlauf
Die Behandlung innerhalb der Familie umfasst elternbezogene Interventionen mit

  • praktischer und kontinuierlicher Unterstützung durch Sozialarbeit und -pädagogik
  • Training in Problemlösefertigkeiten
  • Paarberatung für Beziehungsprobleme.

Zu den Zielen der kindbezogenen Interventionen gehören

  • Verbesserung der Sozialkompetenz und des Verhaltens
  • Sensibilisierung für eigene Gefühle und Empathie
  • Erhöhung des Selbstwertgefühls.

Für diese Ziele können verschiedene Formen der Psychotherapie eingesetzt werden. Schließlich kann auch an der Eltern-Kind-Interaktion direkt gearbeitet werden, um die

  • Wahrnehmungen und Einstellungen der Eltern zu verändern
  • Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und altersgemäß zu befriedigen
  • Grenzen konsistent und wirksam zu setzen
  • Kompetenz in der Umsetzung dieser Verhaltensweisen unter therapeutischer Anleitung zu trainieren.

Für Kinder aus Hochrisikoverhältnissen muss jedoch auch die Platzierung in geeigneten Pflegeverhältnissen und institutionellen Betreuungsformen erwogen werden, wenn die Gefahr von anhaltender Misshandlung oder Vernachlässigung besteht. Dabei kann die Verfügbarkeit einer neuen primären Bezugsperson auch in der Institution von großer Bedeutung für die Entwicklung einer Bindung werden.
     Der Verlauf von Bindungsstörungen ist durch große Variabilität in teilweiser Abhängigkeit von der Qualität und Wirksamkeit der Interventionen gekennzeichnet. Mit längerer institutioneller Versorgung steigt allerdings linear das Risiko für bleibende psychische Folgeschäden. Ähnlich hat die späte Adoption schlechte Chancen, die vorausgegangene Deprivation in ihren Folgen erfolgreich zu kompensieren.« (S. 319/320)

Dieses Kapitel zeigt exemplarisch die Vorzüge des Lehrbuchs:
Transparente Systematik, die das gesamte Werk durchzieht;
langjährige Praxis- und Lehrerfahrung des Autors;
empirische Grundorientierung;
verständlicher Sprachstil;
angenehme optische Gestaltung (im Original viel eindrucksvoller als hier).

Aber auch die Nachteile werden deutlich:
Kein Einzelautor kann den gesamten Stoff der Kinder- und Jugendpsychiatrie beherrschen;
die Ergebnisse der modernen neuropsychologischen Traumaforschung fehlen;
die wissenschaftliche Begründungspflicht wird oft nicht eingelöst, insbes. fehlen in fast allen Kapiteln die notwendigen Quellenangaben.
Insgesamt verdient das monumentale Werk aber große Bewunderung und darf in keiner einschlägigen Fachbibliothek fehlen.

Kurt Eberhard  (Juni 2006)

 

Onlinebestellung über unseren Partner

Liste der rezensierten bzw. präsentierten Bücher

 

[AGSP] [Aufgaben / Mitarbeiter] [Aktivitäten] [Veröffentlichungen] [Suchhilfen] [FORUM] [Magazin] [JG 2011 +] [JG 2010] [JG 2009] [JG 2008] [JG 2007] [JG 2006] [JG 2005] [JG 2004] [JG 2003] [JG 2002] [JG 2001] [JG 2000] [Sachgebiete] [Intern] [Buchbestellung] [Kontakte] [Impressum]

[Haftungsausschluss]

[Buchempfehlungen] [zu den Jahrgängen]

Google
  Web www.agsp.de   

 

 

 

 

 

simyo - Einfach mobil telefonieren!

 


 

Google
Web www.agsp.de

 

Anzeigen

 

 

 

 


www.ink-paradies.de  -  Einfach preiswert drucken