FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2001

 

Sarah Blaffer Hrdy

Mutter Natur – die weibliche Seite der Evolution

Berlin-Verlag, 2000

Amerik. Originaltitel: ‘Mother Nature – a History of Mother, Infants and Natural Selection’

(773 Seiten, 68,- DM)

 


Ein Buch, das aus dem Vollen schöpft, aus familiären Erfahrungen, aus eigener Feldforschung, aus vielen Gesprächen mit Experten und aus umfangreicher interdisziplinärer Fachlektüre (das Literaturverzeichnis umfaßt 70 Seiten mit ca. 1400 Titeln!).

„Auf jeden Fall sehe ich die Welt mit anderen Augen als die meisten Leute. Mein Untersuchungszeitraum umspannt Millionen von Jahren, und die Wesen, auf die ich meinen Sucher richte, haben die sonderbare Angewohnheit, spontan die Gestalt anderer Spezies anzunehmen - die von Schimpansen, Schnabeltieren oder Vertretern des Australopithecus. Diese Eigenart, Mütter in einem breiten evolutionären, vergleichenden sowie kulturübergreifenden und historischen Kontext zu betrachten, unterscheidet meine Untersuchung über Mutterschaft von denen der Psychoanalytiker, Psychologen, Roman- schriftsteller, Dichter und Sozialhistoriker, auf deren Werke ich mich berufe.“ (S.11)

Das Opus wirkt so, als sei es mit viel Elan geschrieben und erst danach gegliedert worden, hat aber dadurch den Vorteil, daß man es nicht nur von vorn bis hinten, sondern in beliebigen Zugriffen lesen kann. Es ist überall informativ, verständlich und unterhaltsam, bietet viele schöne Abbildungen, ein Sachwort- und Autorenregister sowie zahlreiche Anmerkungen (leider nicht dort, wo sie hingehören, sondern hintendran).

Ebenfalls unsystematisch skizziert sie die Aufgabenstellung ihres Buches:

„Zu den Fragen, die ich in diesem Buch in erster Linie behandle, zählen die folgenden:

  1. Was meinen wir mit "Mutterinstinkt«? Und haben Frauen ihn "verloren«?
  2. Wenn Frauen ihre Babys instinktiv lieben, warum haben dann so viele Mütter quer durch die Kulturen und Geschichte direkt oder indirekt zum Tod ihrer Kinder beigetragen? Warum unterscheiden überall auf der Welt so viele Mütter zwischen ihren eigenen Babys, indem sie zum Beispiel einen Sohn füttern, eine Tochter aber verhungern lassen?
  3. Anders als bei Menschenaffen hat die natürliche Selektion bei den Menschen dafür gesorgt, dass sie Nachwuchs gebären, der so lange hilflos und abhängig ist, dass eine Frau, die wie unsere Jäger-und-Sammler-Ahnen lebte, gar nicht hoffen konnte, allein eine Familie aufzubauen. Und doch war damals wie heute eine Unterstützung seitens des Vaters alles andere als sicher. Wie kann es überhaupt sein, dass als Folge der natürlichen Selektion Mütter Babys zur Welt bringen, deren Aufzucht ihre Mittel so weit übersteigt?
  4. Warum sind Väter, die doch den gleichen Anteil an Genen an ein Baby weitergeben wie Mütter, im Lauf der Evolution nicht aufmerksamer für die Bedürfnisse von Säuglingen geworden? Gibt es (wie auch Charles Darwin fragte) bei männlichen Lebewesen »verborgene Instinkte« zur Fürsorge? Wenn ja, wann machen sie sich bemerkbar?
  5. Was die Babys angeht, so reicht das Verhalten der Väter von fürsorglich bis gleichgültig. Warum interessieren sich dann aber so gut wie alle Männer in solchem Maße für die weibliche Fortpflanzung?
  6. Und schließlich: Was hat es mit den kindlichen Bedürfnissen auf sich? Warum nur sind diese kleinen Geschöpfe im Lauf der Evolution so mollig, einnehmend und überaus niedlich geworden?“ (S.18)

Die Autorin ist eine vehemente Anwältin der Frauen und Mütter, vermeidet aber jede Glorifizierung ihrer Geschlechtsgenossinnen und grenzt sich deutlich von antimaskulin-feministischen Ideologien ab. Ihren skeptischen Realismus verdankt sie dem ersten Thema ihrer Forschungslaufbahn.

„Gerade erst hatte ich gelernt, dass sich Lebewesen im Lauf der Evolution dahingehend entwickelten, ihren Fortpflanzungserfolg zu erhöhen. Nun aber las ich von Männchen, die Babys töteten, noch dazu mit erkennbarer Kollaboration der Mütter. ..... Nachdem ich meinen College-Abschluss gemacht hatte, reiste ich nach Indien, um herauszufinden, was es mit diesen merkwürdigen Verhaltensweisen auf sich hatte. Das Erforschen von Kindstötungen bei anderen Primaten war aber lediglich der erste Schritt meiner Bemühungen, die weibliche Natur und vor allem Mutterschaft zu begreifen. Diese Suche nach Antworten veranlasste mich, im Verlauf von 30 Jahren in sieben Ländern zu forschen, ..... um mehr über die elterlichen Verhaltensweisen meiner eigenen Spezies zu erfahren. ..... Was es auch immer mit Mutterinstinkten auf sich hat, so automatisch, wie die meisten Leute glauben, sind sie jedenfalls nicht. Am bedeutendsten aber war für mich die Erkenntnis, dass die Welt zwar seit der Zeit unserer Vorfahren, der Sammler und Jäger, immense Veränderungen durchlaufen hat, dass die Konflikte von Müttern aber erstaunlich gleich geblieben sind. (S. 15)

Für uns Erzieher, Pflegeeltern und Kindertherapeuten sind besonders die Kapitel interessant, die sich mit der Entstehung von Bindungen und Bindungsstörungen befassen. Die Autorin baut auf John Bowlby auf, geht aber an mehreren Stellen über ihn hinaus:

„Kaum dass sich die geschürzten Lippen um die Brustwarze schließen und sich an ihr festsaugen, macht das Köpfchen einen Ruck - wie ein Fisch an der Angel, der durch sein Zappeln den Haken erst richtig an seinem Maul befestigt. Aber wer ist es eigentlich, der hier gefangen wird? Innerhalb weniger Augenblicke sinkt der Cortisolspiegel der Mutter, und Oxytozin strömt durch ihre Adern. Es ist wie bei einer Massage: Ihr Blutdruck sinkt, und das Oxytozin überschwemmt ihren Körper (wenn alles gut geht) mit einem beglückenden Ruhegefühl, das ihre normalen Hemmungen, einem fremden Wesen so nahe zu sein, aufhebt. Soweit es die Mutter geschehen lässt, führt dieser enge Kontakt tatsächlich zu einer Veränderung ihres seelischen Zustandes und löst in ihr ein Bedürfnis aus, ihrem Baby nah zu sein und seinen Duft aufzunehmen - ein Bedürfnis, das bei manchen Frauen (so auch bei mir) schon an Sucht grenzt. Ob man dies als Knechtschaft auffasst oder als Geschenk, das erwidert wird, hängt davon ab, was eine Mutter sonst noch tun möchte und wer ihr hilft.“ (S.608)

„Trennungsbabys [Rhesusäffchen] wiesen auch in ihren Schlafmustern und Herzfrequenzen messbare physiologische Veränderungen auf. Hormone wie Cortisol, die der Körper als Reaktion auf physischen und psychosozialen Stress produziert, wurden in höherem Maße ausgeschüttet, weil die Kinder Körperressourcen mobilisierten, um die drohende Situation der »Verwaisung« bewältigen zu können. Als dann weniger invasive Testverfahren zur Verfügung standen (Speichelanalysen anstelle von Blutproben), fand man ähnliche Reaktionen auch beim Menschen: Trennungsbabys hatten einen erhöhten Cortisolspiegel und einen schnelleren Herzschlag.“ (S. 460)

„Menschenmütter lassen ihre Babys weit häufiger im Stich als andere Primaten, die jeweils nur für ein Baby zu sorgen haben. Auf der einen Seite finden wir also die unverhüllte, bedingungslose Hingabe, wie sie für Affen- und Menschenaffenmütter charakteristisch ist, auf der anderen Seite die mehr selektive Fürsorge menschlicher Mütter in traditionellen Gesellschaften und quer durch die Geschichte. In Bezug auf Kindstötung und Vernachlässigung durch die Mutter ähneln Menschen nicht so sehr anderen Primaten, sondern eher den Vögeln und den Säugetieren, die mehrere Junge zugleich haben. Obwohl ihr Verhalten für Primaten ausgesprochen untypisch ist, sind infantizidale Mütter nicht im Geringsten unnatürlich.“ (S. 513)

Präziser hätte es wohl heißen müssen: „....sind infantizidale Mütter längst nicht immer unnatürlich.“

„Es ist wie bei allen Primaten: Kinder, die ohne Sozialkontakt aufwachsen, die niemand berührt, die niemand im Arm hält, mit denen niemand schmust, denen keine Mutter oder Allomutter [Ersatzmutter] das Gefühl gibt, dass sie sich um ihr Wohlergehen kümmert - diese Kinder bleiben genau in jenem Entwicklungsstadium stecken, das der unabdingbare erste Schritt auf dem Weg zu der erwähnten einzigartigen menschlichen Sensibilität ist. Als Erwachsene können solche Menschen über erhebliche analytische Fähigkeiten verfügen und womöglich über eine geradezu unheimliche Gabe, vorherzusehen, was andere Menschen tun werden. Ihnen fehlt jedoch die Fähigkeit, die kognitiven und die emotionalen Komponenten des menschlichen Potenzials miteinander zu verbinden.“ (S. 599)

Heißt das, daß jede Mutter kleiner Kinder auf zusätzliche Berufstätigkeit gänzlich verzichten sollte? Frau Blaffer Hrdy holte sich eine ‚Allomutter’ (Kinderfrau) ins Haus - genau wie ihrerzeit die eigene Mutter - und forschte weiter.

„Es muss nicht die Mutter sein, die das Kind betreut, ja noch nicht einmal nur eine einzige Person, aber es müssen immer dieselben Personen sein, die sich um das Kind kümmern.“ (S. 576)

Und wie ist es mit Kindertagesstätten?

„Zumindest soweit es gute Kindertagesstätten mit wenigen Kindern betrifft, geben neuere Untersuchungen im Wesentlichen Entwarnung. Selbst für Kinder, die noch keine zwei Jahre alt sind, lassen sich keine negativen Folgen feststellen, vorausgesetzt, die Tagesstätte erfüllte einen hohen Qualitätsstandard, zu Hause war die Beziehung zwischen Eltern und Kind in Ordnung und die im Hort verbrachte Zeit war begrenzt - alles in allem eher entmutigende Ansprüche. Weniger positiv fallen die Ergebnisse von ganz kleinen Kindern aus, die mehr als 30 Stunden pro Woche in den herkömmlichen Einrichtungen verbringen, wo sich wenige Erzieherinnen darum bemühen, den Bedürfnissen vieler Kinder gerecht zu werden.“ (S. 574)

Wenn man aus der Vielfalt der Informationen und Gedanken die zentrale Botschaft dieses klugen Buches herausdestillieren sollte, könnte sie ungefähr folgendermaßen lauten:
Ein Kind braucht nicht nur zuverlässige Beziehungen – wie beispielsweise in guten Kindergärten und Heimen – sondern mindestens einen Menschen (vorzugsweise die Mutter), mit dem es eine sichere wechselseitige Liebesbindung aufbauen kann. Und dieser Mensch braucht dafür seinerseits andere Menschen, die ihm helfen, auch sonstigen z.B. beruflichen Bedürfnissen zu folgen, die ebenso tiefe natürliche Wurzeln haben, wie die Lust, ein Kind zu pflegen.

Bei Pflegeeltern, die es nach Hrdy schon so lange gibt wie leibliche Eltern, ist der Aufbau liebevoller Bindungen zu bindungsgestörten Kindern gleichzeitig vollberufliche Tätigkeit – wenn die Jugendämter so wollen und können.

Kurt Eberhard (Aug. 01)

 

 

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