FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Präsentation / Jahrgang 2007

 


Bettina Bonus

Mit den Augen eines Kindes sehen lernen

Band I: Zur Entstehung einer Frühtraumatisierung bei Pflege-
und Adoptivkindern und den möglichen Folgen

Books on Demand GmbH, 200 S., 19,90 Euro

 

Dr. Bettina Bonus beschäftigt sich mit der Problematik von Pflege- und Adoptivkindern seit über zwanzig Jahren. Die ersten grundlegenden sozialpädagogischen Erfahrungen sammelte sie in der gemeinsamen Arbeit mit ihrer Mutter, Prof. Dr. Hildur v. Schweinitz, die den Lehrstuhl für Sozialpädagogik und Sozialarbeit an der Universität Osnabrück inne hatte. Nach einer Ausbildung zur Erzieherin und dem medizinischen Studium arbeitete sie als Ärztin in der klinischen Pharmakologie, wo sie promovierte. Anschließend war sie an der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Köln als Assistenzärztin von Prof. Dr. Gerd Lehmkuhl und Prof. Dr. Manfred Döpfner tätig. Gleichzeitig sammelte sie als Pflegemutter viele wichtige Erfahrungen in der Praxis. Dr. Bonus ist seit 1999 als selbstständige Beraterin und Begleiterin von Pflege- und Adoptivkindern tätig. Hierbei hat sie sich auf die Betreuung von besonders problematischen Pflege- und Adoptivkindern und deren Familien spezialisiert. (Angaben des Verlags)

Zunächst der Inhalt:

Vorwort
I. Einleitung
1. Worum geht es in diesem Buch?
2. Um welche Kinder soll es in diesem Buch gehen?
3. Für wen ist dieses Buch geschrieben?
4. Der Unterschied zwischen „klassischen Waisen“ und „Sozialwaisen“
5. Adoptivkind ist nicht gleich Adoptivkind
6. Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Adoptiv- und Pflegekindern
7. Fremdwörter und Fachbegriffe
8. Einige kleine Anmerkungen vor Beginn 21

II. Fallbeschreibungen

III. Was ist los mit diesen Kindern?

IV. Was ist ein seelisches Trauma im Gegensatz zu einer seelischen Verletzung?

V. Welche Faktoren führen dazu, dass ein seelisches Trauma eintritt?

VI. Was geschieht nach Eintritt eines seelischen Traumas?

VII. Was ist nun eine Frühtraumatisierung?

VIII. Die Frühtraumatisierung als dramatischer Eingriff in die Entwicklung des Kindes

IX. Frühtraumatisierung ohne Folgen?

X. Das Geheimnis der Herangehensweise

XI. Stationen möglicher Frühtraumatisierungen bei Pflege- und Adoptivkindern
1. Die zentrale Frühtraumatisierung durch Trennung von der leiblichen Mutter
2. Weitere Frühtraumatisierungen von Adoptiv- und Pflegekindern
   a. Traumata während der Schwangerschaft
   b. Traumata vor der Trennung von der leiblichen Mutter
   c. Traumata in den Zwischenstationen
3. Vermeidung von weiteren seelischen Verletzungen und Traumatisierungen

XII. Die vier häufigsten möglichen Folgen einer Frühtraumatisierung
1. Die Überlebensstrategie als Angstbeseitigungsmethode
2. Die Vermeidungsmethode zur besseren Verdrängung der Angst
3. Die Kontroll- und Machtstrategie zur Beseitigung der Ohnmacht
4. Die Anstrengungsverweigerung
5. Zusammenfassende Worte zu den vier wichtigsten Folgen

XIII. Ausklang

XIV. Nachwort

XV. Verwendete Literatur

XVI. Weiterführende Literatur

 

Anliegen des Buches:
”In diesem Buch geht es vor allen Dingen um die Sicht und die Erlebensweise der Kinder, die in einem frühen Lebensalter seelische Traumatisierungen erfahren haben und später zu Pflege- oder Adoptivkindern werden. Sie, die Leser dieses Buches, werden in eine besondere Herangehensweise eingeführt, die Ereignisse mit den Augen der Kinder sehen zu lernen. Sie werden erfahren, was ein seelisches Trauma von einer seelischen Verletzung unterscheidet und im Besonderen, was man unter einer Frühtraumatisierung versteht.

Eine seelische Verletzung, beispielsweise wenn man vom geliebten Partner verlassen wird, tut unter Umständen sehr weh. Aber man kann Trauerarbeit leisten, die Zeit heilt viele Wunden. Es hilft, mit Freunden über die eigenen Gefühle zu sprechen und seine Enttäuschung zu artikulieren. Mit der Zeit verliert der Schmerz seine Schärfe und eine leise Trauer bleibt übrig, die man vielleicht sogar als angenehme Wehmutsfärbung in Erinnerung an eine dichte Lebensphase schätzt und aus der man lernen kann, bestimmte Fehler nicht mehr zu begehen.

Eine solche Trauerarbeit ist nicht mehr möglich beim Erlebnis des Traumas (griech. für Wunde). Die Zeit heilt hier gar nichts mehr. Der Schmerz ist buchstäblich unerträglich groß, man kann ihn nicht mehr verarbeiten, er würde das Gemüt überschwemmen (vgl. auch Lambeck, 2002). Um überleben zu können, muss man das traumatisierende Erleben vom Bewusstsein abspalten. Es drängt aber immer wieder ans Licht, um bearbeitet zu werden. Verschiedene Strategien existieren, um den Schmerz vom Bewusstsein fernzuhalten. Diese aber erfordern viel Kraft und führen zu Auffälligkeiten.

Eine Frühtraumatisierung findet im frühen Kindesalter statt. In dieser Zeit hat das Kind schon aufgrund seiner Unreife noch nicht die Möglichkeit, allzu eindrückliche Erlebnisse zu verarbeiten. Deshalb tritt ein Trauma beim kleinen Kind viel leichter, schneller und sogar schon bei unspektakulären Begebenheiten ein (vgl. auch Lambeck, 2002). Bei der Frühtraumatisierung werden Lebensprozesse verletzt, so dass ein solches Kind an Lebenskraft verliert und sich existenziell bedroht fühlt.

Sie werden erfahren, dass es verschiedene Stationen gibt, in denen das spätere Pflege- und Adoptivkind frühtraumatisiert werden kann, und an welchen Stellen man Frühtraumatisierung vermeiden kann.

Im letzten Kapitel möchte ich die vier wichtigsten Folgen einer Frühtraumatisierung darstellen, die psychischen Ursachen dieser Folgen aus dem Erleben des Kindes heraus entwickeln und Ihnen zeigen, dass diese Folgen sehr ineinander verwoben auftreten.

Schon in diesem Buch finden Sie gerade gegen Schluss immer wieder eingeflochten kleine Ausblicke in die pädagogischen Voraussetzungen und Vorgehensweisen, die heilend wirken können, meist zu den älteren Pflege- und Adoptivkindern, und die dann in aller Ausführlichkeit in dem Buch zur Pädagogik beschrieben werden. Dort wird dann auch auf die Pädagogik hinsichtlich jüngerer Kinder eingegangen.” (S. 12 f.)

Eine Leseprobe aus Kapitel XII:
Häufig erlebt man ein Gemisch aus allen vier Folgen
. Wir sehen dann, wie das hochauffällige, frühtraumatisierte Pflege- und Adoptivkind ein Verhalten zeigt, das aus verschiedensten Motiven heraus entsteht. So kann es zum Beispiel ein Kind an einem Tag schaffen, keine Hausaufgaben zu machen. Dieses Kind denkt: „Ich habe keine Lust dazu“, in Wahrheit aber fehlt ihm der nötige Antrieb, die nötige Lebenskraft, und es kann sich einfach nicht von selbst dazu aufraffen, die Anstrengung der Hausaufgaben auf sich zu nehmen. Das Kind bräuchte hier eine sehr strukturierte, konsequente, liebevolle und geduldige Hilfe. Von selbst wird es nicht auf die Idee kommen; denn wozu die Hausaufgaben? Das Kind, hier in unserem Beispiel, hat schon lange das Interesse an der Welt und damit natürlich auch an der Schule verloren. „Warum sollte ich die Hausaufgaben machen? Das sind nicht meine Ziele!“ (Anstrengungsverweigerung).

Gleichzeitig aber steigt in dem Kind das Gefühl auf, die Hausaufgaben auch deswegen heute nicht machen zu wollen, weil es Angst davor hat, zu viele Fehler zu machen. Dies ist dem Kind meist nicht bewußt, aber es denkt: „Dann mache ich die Hausaufgaben am besten gar nicht.“ (Vermeidungsstrategie).

Um aber seine innere Angst, die bei diesem Kind in unserem Beispiel immer vorhanden ist, heute nicht zu groß werden zu lassen, verknüpft es die Hausaufgaben mit einer Macht- und Kontrollstrategie und einer Flucht als Überlebensstrategie.

Dies hat den weiteren Vorteil, dass beides noch eine zusätzliche Absicherung ist, um heute wirklich keine Hausaufgaben machen zu müssen, um damit zumindest für heute die Anstrengung der Hausaufgaben zu verweigern und dadurch auch für heute die dazugehörenden Fehler zu vermeiden. Sie merken schon, dass bei diesen frühtraumatisierten, hochproblematischen Kindern alles zusammenkommt:
Angst, Überleben, Vermeidung, Verweigerung, Verletzung, Hilflosigkeit, Kontrolle und Macht - alles fließt ineinander und ist im Alltag schwer auseinander zu halten. Wichtig ist, dass Sie lernen, diese Dinge überhaupt zu sehen; die genaue Trennung und Benennung ist dann in der Praxis weniger entscheidend.

Zurück zu unserem Kind: Es denkt sich auf dem Weg nach Hause eine geeignete Kontrollstrategie aus, denn es hat schon gar nicht mehr vor, nach Hause zu gehen. Eigenmächtig beschließt es sofort nach der Schule, wegen Bauchschmerzen zum Hausarzt zu gehen. Es ruft nicht zu Hause an, die Mutter wartet zu Hause. Sie macht sich Sorgen und wird ungeduldig. Sie versucht über Handy ihr Kind zu erreichen, aber das Handy ist abgeschaltet. Die Mutter wird richtig wütend. Schließlich hat ihr Kind das Handy doch nur zum Geburtstag bekommen, damit es in solchen Fällen anrufen kann. Jetzt hat es schon wieder nicht angerufen, und zusätzlich ist das Handy absichtlich ausgeschaltet. Die Mutter kocht vor Wut.

Sie sucht den Zettel heraus, auf dem das Kind einen selbst aufgesetzten Vertrag unterschrieben hat, dass es das Handy nur bekommt, wenn es ausschließlich für diese Zwecke benutzt wird. Stattdessen hat die Mutter schon in letzter Zeit öfter bemerkt, dass das Kind Privatgespräche mit seinen Freundinnen führte und häufig Sätze wie „Was machst Du gerade?“ als SMS schrieb und damit das teuer verdiente Geld der Eltern zum Fenster hinaus warf. Nie hält sich das Kind an Verabredungen.

Es soll zum Beispiel immer nach der Schule nach Hause kommen. Stets gelobt es Besserung: „Entschuldigung Mutti, es tut mir Leid, es kommt auch nie wieder vor.“ Aber nie ändert sich auch nur ein bisschen. Stattdessen jetzt das:
Wieder wurde ein Versprechen gebrochen. Warum hat das Kind nur das Handy ausgestellt? Wo bleibt es nur? Das Essen ist längst fertig und verkocht und immer noch kein Kind hier. Dabei haben sie es doch heute ausgerechnet so eilig, denn sie sind am Nachmittag bei Freunden eingeladen. Vorher soll das Kind noch essen - es wird doch Hunger haben - und wenigstens ein bisschen von den Hausaufgaben erledigen, sonst wird die Lehrerin morgen mit ihm schimpfen. Daran will die Mutter nicht schuld sein.

Diese aufgebrachte und aufgelöste Verfassung der Mutter ist Teil des Planes des Kindes. Natürlich weiß das Kind, dass es nach der Schule nach Hause kommen soll. Es weiß auch, dass es, wenn etwas dazwischen kommt, zu Hause anrufen muss. Selbstverständlich ist ihm auch bewusst, dass es das Handy genau für diese Zwecke zum Geburtstag bekommen hat, und dass es zumindest angeschaltet sein soll, wenn das Kind sich schon nicht von selbst meldet.

Das Kind kennt seine Mutter gut genug, um zu wissen, wie die Mutter schon jetzt zu Hause tobt, aber genau das ist Teil des Planes. Das Kind sieht auf die Uhr und nickt innerlich, jetzt ist genau die richtige Zeit. Es nimmt sein Handy, stellt es an und tippt in aller Seelenruhe, schon im Wartezimmer des Arztes sitzend, die Telefonnummer von zu Hause ein und meldet sich.

Alles läuft wie erwartet. Die Mutter beginnt zu fragen, wo das Kind denn sei, sie warte doch mit dem Essen. Das Kind antwortet wahrheitsgetreu, dass es beim Arzt sitzt. „Beim Arzt?!?“, schreit die Mutter vom anderen Ende der Leitung, so dass sich die anderen Wartenden im Wartezimmer nach dem Handy umgucken. „Was machst Du denn beim Arzt? Wir müssen doch weg!“ „Aber Mutti“, sagt das Kind ganz unschuldig und etwas leidend, „ich habe doch Bauchschmerzen.“ Das kennt die Mutter schon. Dieser Umstand macht sie nur noch rasender, was ebenfalls Teil des Planes ist.

„Bauchschmerzen! Wie oft habe ich Dir schon gesagt, Du sollst bei Bauchschmerzen erst mal nach Hause kommen! Was denkst Du denn, was der Arzt jetzt machen soll?!? Du kommst jetzt sofort erst nach Hause! Hast Du mich gehört? Sofort!....“

Die Mutter lamentiert noch weiter und zwar in einer Lautstärke, die das Kind zwingt, das Handy demonstrativ für alle sichtbar vom Ohr wegzuhalten. Das Kind spielt dabei gekonnt die Rolle des Opfers, sieht ein wenig verzweifelt und verängstigt aus. Die ganze Zeit hat es sich schon etwas leidend den Bauch gehalten.

Jetzt, mitten im Geschehen, das Handy immer noch weghaltend, verzerrt das Mädchen sein Gesicht vor Schmerz und hält seinen Bauch noch fester. Die im Wartezimmer sitzenden Menschen bekommen alle Mitleid. Das ist ja wirklich ein fürchterlicher Anblick. Dieses arme Kind leidet offensichtlich unter fürchterlichen Bauchschmerzen und hat lieb und brav, freundlich und liebenswert seine Mutter angerufen - wie pflichtbewusst, so eine Tochter müsste man haben!

Aber diese Mutter: Sie schreit das arme Kind an wie eine Wahnsinnige. Jedes Wort ist so laut, dass das Wartezimmer mithören kann. Das arme Kind! Die Wartenden im Zimmer kennen ja die Vorgeschichte nicht, sie hören nur eine sehr wütende Mutter, die laut und aufgebracht ins Telefon schreit und auf der anderen Seite sehen sie ein offensichtlich braves, leidendes Mädchen.

Als die Mutter zu Ende ist mit ihren Ausführungen, sagt das Kind unter Tränen:
„Aber Mutti, ich habe so schlimme Bauchschmerzen, dass ich noch auf den Arzt warte, dann komme ich nach Hause, versprochen!“ - Harmlos? Nein, nicht im geringsten. „Versprochen“ ist das Stichwort, auf das die Mutter ganz sicher reagieren wird. Dafür kennt das Kind sie zu gut. Tatsächlich setzt sie an, weiterzuschimpfen.

Für die Außenstehenden ist dieser Anblick unerträglich. Was ist da zu Hause los? So ein Verhalten der Mutter ist doch unmöglich. Das Mädchen tut ihnen Leid, unendlich Leid. Am liebsten würden sie das Mädchen vor dieser Mutter schützen. Genau das will das Kind erreichen. Keiner der Beteiligten, weder die Mutter, noch die Mitleidsträger haben das eigentliche Motiv durchschaut: Das Kind will seine Hausaufgaben nicht machen und deswegen heute nicht nach Hause gehen.

Alles klappt wie geplant: Die Mutter schimpft brav und erwartungsgemäß weiter. Auch der Text der Mutter war gut, vom Kind bis zum letzten Komma vorausgesagt. Die Mutter tut dem Kind den Gefallen und hält sich minutiös daran. Ab und zu liefert das Kind, immer darauf bedacht, das unschuldige Opfer zu spielen, das richtige Stichwort für die Mutter, damit die Szene planmäßig weiterläuft. Es selbst sitzt dabei ruhig im Wartezimmer und lässt ab und zu ein Tränchen über seine Wangen rollen. Schließlich legt es für alle im Warteraum verständlich auf und beginnt jämmerlich zu weinen.

Man eilt herbei, reicht dem Mädchen Taschentücher, bietet ihm ein Glas Wasser an, und es berichtet unter Tränen, dass dies zu Hause immer so ist. Es wisse gar nicht mehr, was es tun solle, alles sei so schrecklich. Nun bekommt die Kleine noch mehr Beachtung und Mitleid. Schließlich wird sie nach der Untersuchung von einer im Wartezimmer wartenden fremden Frau zu ihrer Freundin gefahren, wo sie dann über Nacht bleibt. Sie bedankt sich höflich bei der Fahrerin, die heute mit dem befriedigenden Gefühl nach Hause fährt, etwas sehr Gutes getan zu haben.

Die Mutter zu Hause hört den ganzen Tag nichts mehr von ihrer Tochter. Auch das Handy bleibt abgeschaltet. Natürlich hat sie bei allen bekannten Freundinnen ihrer Tochter angerufen, aber die Tochter nicht gefunden; denn die Eltern der Freundin sind ausgegangen. Beide Mädchen gehen einfach nicht ans Telefon, wenn die Mutter anruft. Auch ihrer Freundin hat das Mädchen ebenfalls eine Geschichte erzählt.

Auch später kommt die Mutter niemals auf die Idee, dass das eigentliche Problem die Hausaufgaben sind. Das Kind hat geschickt auf einen Nebenkriegsschauplatz abgelenkt, und alles dreht sich jetzt nur noch um das „Nicht-nach-Hause-Kommen“ und das Weglaufen. Auch am nächsten Tag drehen sich selbst die Konsequenzen nur um dieses Thema.

So hat alles perfekt geklappt: Das Kind braucht sich den ganzen Tag weder für die Hausaufgaben noch für sonst etwas anzustrengen, es vermeidet das Fehlermachen, es hat die ganze Zeit die Fäden in der Hand behalten und die Situation kontrolliert. Schließlich flieht es in seinen Augen hinreichend begründet zu seiner Freundin. Selbst die Konsequenzen am nächsten Tag bewirken bei ihm gar nichts, denn es sitzt dort voller Stolz, einen großen Erfolg gehabt zu haben, bestärkt durch die Tatsache, dass ihm niemand auf die Schliche gekommen ist.

Das ganze Verhalten des Kindes und die Hintergründe habe ich für Sie ausführlich dargestellt. So klar sieht man es selten, und häufig erst kurz vor der Heilung des Kindes, denn zu diesem Zeitpunkt fällt es dem Kind immer schwerer, die antrainierten Verhaltensweisen aufrechtzuerhalten. Das Kind zeigt vielmehr häufiger Normalität, wenn auch anfangs nur sekundenweise. Ist das Kind noch ganz im Teufelskreis gefangen, kann es gar nicht bewusst über diese Prozesse nachdenken.

Es wird ihm auch innerlich niemals so klar vor Augen stehen, wie ich es Ihnen als Leser jetzt präsentiert habe. Gleichwohl geschehen diese Abläufe, jedoch in Sekundenschnelle. Vieles geschieht instinktiv und ist dem Kind nicht oder nur halb bewusst oder auch einmal ganz bewusst - meist ein bisschen von allem.

Weil es so wichtig ist, sei es noch einmal wiederholt: Alles was ich beschreibe, geschieht aus einer schweren seelischen Not des Kindes heraus und nicht aus Boshaftigkeit. Dies gilt selbst für den Fall, dass die Kinder sehr gezielt und bewusst Verhaltensweisen und Abläufe planen.

Je mehr Sie es als Pflege- und Adoptiveltern schaffen, diese inneren Prozesse und Beweggründe des Kindes aufzudecken und durchschauen zu lernen, desto besser können Sie dem Kind helfen, aus dem Teufelskreis langsam herauszutreten. Nur das macht das Kind dauerhaft gesund.

Wenn die Mutter rechtzeitig gemerkt hätte, dass das Kind auf einen Nebenkriegsschauplatz umlenken will, so hätte sie sich nicht provozieren lassen, wäre wie ein Profi ganz ruhig geblieben und hätte immer wieder die Hausaufgaben in den Mittelpunkt gestellt - dies natürlich zu einem geschickteren Zeitpunkt und nicht am Telefon. Die Mutter hätte die Fäden in ihre Hände zurückbekommen müssen, denn sie ist die Mutter. Irgendwann später und unerwartet hätte die Tochter als Konsequenz genau diese Hausaufgaben des betreffenden Tages nachholen müssen.

Voraussetzung dafür ist, dass man weiß, dass der ganze Streit wegen der Hausaufgaben inszeniert wurde. Nur dann lernt das Kind, dass all seine Strategien sinnlos sind. Erst jetzt kann das Kind Stück für Stück von seinen Strategien abrücken. Je besser Sie als Pflege- und Adoptiveltern gearbeitet haben, desto weniger muss das Kind in seine antrainierten, negativen Verhaltensschemata abgleiten, die so weit gehen können, dass ganze Abläufe perfekt inszeniert werden.

Sie werden viel schneller offensichtlich und damit auch ohne große Anstrengungen für jeden sichtbar. Dieser Prozess, bis die Abläufe sichtbar werden, kann leider oft sehr lange dauern, häufig genauso lange, wie sie für ihre Entstehung und Perfektionierung brauchten und länger. Hochproblematische, frühtraumatisierte Pflege- und Adoptivkinder benötigen meist einen Heilungsprozess, der sich über viele Jahre erstreckt.

In unserem Beispiel hat das Mädchen während des Handytelefonats sehr großen Wert auf das Bild gelegt, welches es für die Wartenden inszeniert. Es hat seiner Mutter gar nicht zugehört, weil seine ganze Energie darauf gelenkt ist, nichts Negatives, nichts Aufgebrachtes und nichts Verdächtiges zu sagen, sondern sich so lieb darzustellen, dass alle Wartenden der Mutter die Schuld geben. Schon allein diese perfekte Show hätte zu einem späteren Stadium der Heilung nicht mehr so funktioniert.

Wahrscheinlich hätte man an einem kurzen Lächeln des Kindes oder gar an einem plötzlichen Ausstieg aus seiner Rolle gesehen, dass es ein bestimmtes Ziel verfolgt. Am Anfang der Heilung sind diese Zeichen sehr klein: ein kurzes Lächeln, oder der Streitablauf ist langsamer, man bekommt mehr Zeit zum Nachdenken und vielleicht Zeit zur besseren Beobachtung. Später kann das Kind dann schon mitten aus dem Geschehen heraus über sich selbst lachen, es versucht aber noch, sich wieder in seine Rolle hineinzumanövrieren.

Auch kann es sein, dass Eltern und Kind in einer Streitsituation, die früher bitterer Ernst war, plötzlich zusammen darüber lachen können. Das Kind kann dann sogar weiter lachen, ohne Angst zu haben, dass es stirbt. Es ist auch nicht mehr gezwungen, sich sofort wieder für seine perfekte Rolle zusammenzureißen, sondern kann länger aus der Rolle fallen und weiterlachen. Dies geht so weit, dass das Kind für diese Situation seine alte Rolle gar nicht mehr aufnimmt, sondern normal bleibt. Der Streit hat in diesem Stadium seine Funktion des Schutzes verloren, das Kind braucht diesen Schutz nicht mehr. Es ist in diesem Punkt gesund geworden.

Es kann aber auch sein, dass die Streitabläufe einfach immer mehr im Zeitlupentempo vor sich gehen. Streitprozesse, die sonst in wenigen Sekunden kaum nachvollziehbar um einen herum abliefen, dauern jetzt Wochen, manchmal Monate. Das Ganze bekommt eventuell einen kabarettähnlichen Charakter. Manchmal muss man dann einfach miteinander lachen. Humor ist heilsam.

Was geschieht also im Heilungsprozess? Das Kind kann mit Hilfe seiner Pflege- und Adoptiveltern und eventuell mit Hilfe einer erfahrenen Begleitung seine Überlebensstrategien, Vermeidungsmethoden, Macht- und Kontrollstrategien sowie die Anstrengungsverweigerung langsam ablegen. Dafür braucht das Kind die wärmende, liebende, schützende, beständige und sichere Umgebung seiner Pflege- und Adoptiveltern, so dass es Stück für Stück über immer mehr wachsendes Vertrauen lernen kann, dass die vielen mitgebrachten Strategien von früher sinnlos sind und es ganz normale Wege gibt, in diesem Leben gut zurecht zu kommen.

Dieses Vertrauen kann beim Kind nur durch Taten wachsen. Es muss die aufrichtige Wärme und Liebe seiner Pflege- und Adoptiveltern spüren (vgl. auch Dozier et al., 2001). Es muss tatsächlich gut geschützt werden. Die Pflege- und Adoptiveltern dürfen in ihrem Entschluss, das Kind bei sich aufzunehmen und es zu behalten, nicht schwankend sein, sondern sollten bei jedem Verhalten hinter ihrem Kind stehen. Das heißt nicht, dass man jedes Verhalten billigt: Das Kind soll sich an die Regeln und Grenzen der Familie halten. Dies kann es aber nur lernen, wenn es Pflege- und Adoptiveltern erlebt, die wie ein Fels in der Brandung sind: ruhig, beständig, strukturiert und konsequent. Das Entscheidende ist dann aber, dass man die Mechanismen des Kindes langsam erkennt und auflöst, bis sie verschwinden. Jetzt braucht man nur noch die Geduld, diese unendlich lange Zeit des Heilungsprozesses mit unzählig vielen Klippen und Steinen im Weg durchzuhalten.
Geben Sie nicht auf, auch wenn Ihnen oder dem Kind einmal wieder etwas nicht so gut gelingt!” (S. 158 f.)

Christoph Malter (Sept. 2007)

 

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