FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2008

 

 


Stefanie Sauer

Die Zusammenarbeit von Pflegefamilie
und Herkunftsfamilie
in dauerhaften Pflegeverhältnissen

Widersprüche
und Bewältigungsstrategien
doppelter Elternschaft

Verlag Barbara Budrich, 2008,
363 Seiten, 36,00 EUR

 


Stefanie Sauer ist Lehrbeauftragte an der Alice-Salomon-Fachhochschule und Sozialarbeiterin beim Pflegekinderdienst Süd in Berlin. Die vorliegende Arbeit ist ihre Dissertation.

Zunächst die Hauptüberschriften des Inhaltsverzeichnisses:

1. Einleitung

2. Ausgangs- und Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit von Pflegefamilie und Herkunftsfamilie

3. Kooperation von Pflege- und Herkunftsfamilie im Spannungsfeld struktureller Widersprüche und konkurrierender Interessen

4. Forschungsstand zur Kooperation von Pflegefamilie und Herkunftsfamilie - konzeptionelle Entwicklungen und fachliche Kontroversen

5. Denken in wechselseitigen Wirkungszusammenhängen - ein theoretischer Rahmen für die Analyse der Konstruktion von Kooperationsprozessen in Dauerpflegeverhältnissen

6. Methodisches Vorgehen: Die Methode der fallrekonstruktiven Familienforschung

7. Darstellung des empirischen Materials: Die Fallrekonstruktion

8. Diskussion

9. Literatur

10. Anhang

 

Mit dem „konzeptionellen Ansatz der fallrekonstruktiven Familienforschung“ (S. 13) wird im Rahmen einer sehr ausführlichen Einzelfallstudie das komplexe Interaktionsgefüge einer Dauerpflegefamilie analysiert. Sauer geht davon aus, dass sich „...mit der Beziehungsaufnahme zwischen Pflege- und Herkunftsfamilie immer auch eine Eigendynamik des Pflegeverhältnisses“ (S. 11) entwickelt, die „...nur bedingt beeinflusst werden kann.“ Zum wichtigsten Erkenntnisinteresse schreibt sie:
„Jenseits bestehender fachlicher Kontroversen um die Bedeutung der Herkunftsfamilie für das dauerhaft in einer Pflegefamilie untergebrachte Kind interessieren die Wirkungszusammenhänge im Zusammenspiel von Herkunftsfamilie und Pflegefamilie und die Frage, wie innerhalb eines Pflegeverhältnisses die Beteiligten ... ihre soziale Wirklichkeit herstellen... Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Situation von Dauerpflegekindern, ...“ (S. 11)  

Sauer argumentiert, dass in der Forschungsliteratur (angeführt wird z.B. Eckert-Schirmer 1997; Ziegler 1997; Faltermeier 2001; Blandow 2004; Schefold 2004; Wiesner 2004; Nienstedt, Westermann 1990) übereinstimmend deutlich gemacht wird, „... dass das zentrale Problem der Zusammenarbeit zwischen Pflegeeltern und Herkunftseltern in fehlenden methodischen Konzepten der zuständigen Fachkräfte für die Arbeit mit den Herkunftseltern nach der Inpflegegabe zu sehen ist.“(S. 45) Neben der partnerschaftlichen Mitarbeit von Eltern am gemeinsamen Ziel einer positiven Entwicklung des Kindes sieht Sauer Kooperation bei Eltern, die dazu nicht in der Lage sind, auch dadurch gegeben, „....dass sich Herkunftseltern aus dem Pflegeverhältnis zurückziehen.“ (S. 46)  

Ganz allgemein postuliert Sauer unter Bezugnahme auf die Untersuchung von Gehres, dass sich der regelmäßige Kontakt zwischen Pflegekindern und Mitgliedern der Herkunftsfamilie als förderlich für die Identitätsentwicklung erweise (S. 49 u. 62), räumt aber ein, dass hierzu weitgehend empirische Forschung fehle (S. 62). 

Als Fall wird die heute 13 Jahre alte Lilly vorgestellt, Tochter einer psychisch kranken Mutter und eines Ghanaers, der als Asylbewerber nach Deutschland kam. Nach der Geburt wurde Lilly erstmals als Kurzzeitpflegekind für acht Monate in die Pflegefamilie Lampe gegeben, in der Pflegevater, Pflegemutter, ein 4-jähriges Dauerpflegekind und eine leibliche Tochter im Alter von 16 Jahren leben. Bis heute hatte die Familie zehn Kinder in dreizehn Kurzzeitpflegeverhältnissen betreut. Im Alter von zweieinhalb Jahren kam Lilly erneut - zunächst in Kurzzeitpflege - und dann in befristete Dauerpflege zu Familie Lampe. Während der Rückführung lebte Lilly überwiegend bei der Mutter, die in einer therapeutischen Mutter-Kind-Wohngemeinschaft für psychisch kranke Menschen Aufnahme fand. Die Pflegeeltern hielten während dieser Zeit Kontakt und nahmen Lilly zweimal vorübergehend auf privater Basis, einmal für eine Woche, einmal sogar für zwei Monate, bei sich auf. Die befristete Dauerpflege wurde von der Mutter in unbefristete Dauerpflege umgewandelt, als Lilly etwa vier Jahre alt war.

Als Datenbasis der Untersuchung werden Interviews mit der Herkunftsmutter, den Pflegeeltern und den Pflegekindern sowie eine teilnehmende Beobachtung eines Besuches der Herkunftsmutter in der Pflegefamilie genommen. Das Pflegeverhältnis wird von den Beteiligten als gelungen bewertet. Sauer kritisiert aber die mangelhafte professionelle Beratung, fehlende Ressourcen innerhalb der jugendamtlichen Betreuung und entwickelt viele Vermutungen, die als Hypothesen zwar nicht einfach auf andere Pflegschaften übertragen werden dürfen, aber durchaus Praxis und weitere Forschung anregen können, beispielsweise:
„Die Pflegeeltern Lampe erkennen die Konkurrenzproblematik mit Herkunftseltern, die beim dauerhaften Zusammenleben mit Pflegekindern entstehen kann und entscheiden sich zunächst bewusst gegen die Aufnahme von Dauerpflegekindern. Dennoch gelingt es ihnen über die Tätigkeit als Kurzpflegeeltern Strategien zu entwickeln, die ihnen das Zusammenleben mit Dauerpflegekindern ermöglichen. Die mit dem Kooperationsgebot für Pflegeeltern verbundene Konkurrenzproblematik lösen die Pflegeeltern durch eine Strategie der Konkurrenzvermeidung, die .... in der erfolgreichen Zusammenarbeit mit Herkunftseltern programmatisch aufscheint. Die Pflegeeltern bewältigen die Konkurrenz mit Herkunftseltern um das Kind dadurch, dass sie ihre familialen Grenzen für Herkunftseltern öffnen und diese quasi als Familienmitglieder integrieren.... Hinter dieser formalen Anerkennung der Herkunftseltern zeigt sich allerdings die auf Erfahrung basierende implizite Erwartung der Pflegeeltern, dass Herkunftseltern in der Regel nicht in der Lage sind, diese Offenheit und die damit verbundenen Möglichkeiten für Besuchskontakte zu nutzen. Dieser Erwartung entsprechend, disqualifizieren Herkunftseltern sich selbst, was zur Folge hat, dass sie sich entweder von selbst zurückziehen oder den Zielen der Pflegeeltern unterordnen. (S. 317).... Die Betrachtung der Perspektive des Pflegekindes zeigt eindringlich, dass die Programmatik der Pflegeeltern und die auf Konkurrenz- und Konfliktvermeidung beruhende Kooperation der Erwachsenen insgesamt nicht ausreicht, um die Loyalitätskonflikte für das Pflegekind zu verhindern.... (S. 324)..... Wird die Perspektivklärung mit Herkunftseltern den Pflegeeltern überlassen, stellt dies mit Blick auf die Voraussetzungen für gelingende Kooperationen eine paradoxe Situation dar. (S. 326)“

Für die weitere Forschung empfiehlt Sauer:
1. die Berücksichtigung kindlicher Sichtweisen im Kontext der Gestaltung von Pflegeverhältnissen
2. den Blick auf die familiäre Triade
3. die Perspektive auf Interkulturalität
(S. 329)

Bilanzierende Bewertung:
Stefanie Sauer zeigt in dem vorliegenden Buch, wie eine Herkunfts- und eine Pflegefamilie eine gemeinsame Strategie entwickeln und das Kind Lilly dabei aus dem Blick gerät. Weder das Ersatz- noch das Ergänzungsfamilienkonzept werden favorisiert, was dann dazu führt, dass Lilly über einen unzumutbar langen Zeitraum unter jugendamtlichem Zutun keine kontinuitätssichernde Perspektive geboten wird und letztendlich die der Behörde obliegende Verantwortung für das Kind nicht wahrgenommen wird. Sauer deutet an, dass dies typisch für die Situation von vielen Dauerpflegekindern sei. Sie fordert sowohl, dass professionelle Konzepte entwickelt werden müssen, die der Kontinuität in der Biografie von Pflegekindern ebenso gerecht werden, wie einem kindeswohldienlichen Umgang von Herkunftseltern zu Pflegekindern. Das Buch ist anregend für weitere Forschung und mündet nach Einschätzung des Rezensenten in die politische
Forderung der Siegener Erklärung, damit ein auch für vielfach biografisch vorbelastete und durch Misshandlung oder Vernachlässigung traumatisierte Kinder zumindest nicht kindeswohlschädliches methodisches Konzept der Umgangsgestaltung entwickelt und empirisch überprüft werden kann.   

Christoph Malter (Nov. 2008)

 

Onlinebestellung über unseren Partner

Liste der rezensierten bzw. präsentierten Bücher

 

 

[AGSP] [Aufgaben / Mitarbeiter] [Aktivitäten] [Veröffentlichungen] [Suchhilfen] [FORUM] [Magazin] [JG 2011 +] [JG 2010] [JG 2009] [JG 2008] [JG 2007] [JG 2006] [JG 2005] [JG 2004] [JG 2003] [JG 2002] [JG 2001] [JG 2000] [Sachgebiete] [Intern] [Buchbestellung] [Kontakte] [Impressum]

[Haftungsausschluss]

[Buchempfehlungen] [zu den Jahrgängen]

Google
  Web www.agsp.de   

 

 

 

 

 

simyo - Einfach mobil telefonieren!

 


 

Google
Web www.agsp.de

 

Anzeigen

 

 

 

 


www.ink-paradies.de  -  Einfach preiswert drucken