FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2003

 

Peter Fonagy

Bindungstheorie und Psychoanalyse

Klett-Cotta, Stuttgart 2003
(260 Seiten, 30 Euro)

 

Zwischen Psychoanalytikern und Bindungstheoretikern herrscht eine merkwürdige Fremdheit, zuweilen sogar Feindseligkeit, die den Sozialpraktiker überrascht, weil dieser von beiden Seiten täglich profitiert, ohne in Widersprüche zu geraten. Die Kontroverse hat u.a. „kirchengeschichtliche“ Gründe – Bowlby verhielt sich gegenüber den Freudianern wie ein Dissident und wurde dementsprechend behandelt. Ferner spiegelt sich in der gegenseitigen Abgrenzung der alte Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften wider. Aber das sind nur sehr grobe Erklärungen. Der einzige, der die psychoanalytischen Schulen und die Bindungstheorie genau kennt und bereit ist, die Stärken und Schwächen beider Seiten differenziert zu betrachten und der die Akteure zum Teil auch persönlich kennt, ist Peter Fonagy (Psychologe, Psychoanalytiker und Hochschullehrer am Universitiy College in London). Sein Ziel ist
„die vorherrschende Meinung von der Unvereinbarkeit beider Bezugsrahmen zu widerlegen.“ (S. 166)

Die Arbeitsschritte seiner Erörterung lassen sich aus dem Inhaltsverzeichnis ablesen:

Vorwort

1. Kapitel: Einführung in die Bindungstheorie.

2. Kapitel: Die wichtigsten Ergebnisse der Bindungsforschung

3. Kapitel: Die psychoanalytischen Modelle Freuds und die Bindungstheorie

4. Kapitel: Strukturelle Ansätze: der nordamerikanische strukturelle Ansatz

5. Kapitel: Modifikationen des strukturellen Modells

6. Kapitel: Das Klein-Bion-Modell

7. Kapitel: Die unabhängige Schule der britischen Psychoanalyse und ihre Beziehung zur Bindungstheorie

8. Kapitel: Nordamerikanische Objektbeziehungstheoretiker und Bindungstheorie.

9. Kapitel: Moderne psychoanalytische Säuglingspsychiatrie: Das Werk von Daniel N. Stern

10. Kapitel: Der interpersonal-relationale Ansatz: Von Sullivan bis Mitchell

11. Kapitel: Psychoanalytische Bindungstheoretiker

12. Kapitel: Zusammenfassung: Was haben psychoanalytische: Theorien und Bindungstheorie gemeinsam?

13. Kapitel: Wie kann die Bindungstheorie von psychoanalytischen Erkenntnissen profitieren?

14. Kapitel: Schlussfolgerung

Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

Nachdem der Autor die wichtigsten themenrelevanten Positionen der Psychoanalyse auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Bindungstheorie sorgfältig untersucht hat, kommt er zu folgender Bilanz:

“Die Bindungstheorie und die psychoanalytische Theorie verfügen über gemeinsame Wurzeln, haben sich aber erkenntnistheoretisch in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Die Bindungstheorie steht der empirischen Psychologie mit ihrem positivistischen Erbe nahe und war in den letzten 15 Jahren in gewisser Hinsicht methodengebunden. Ihr Spektrum wurde weniger durch Beziehungsphänomene, einschließlich der Fürsorge-Abhängigkeits-Dyade, bestimmt, die per definitionem in ihren Bereich fielen, sondern eher durch Gruppen und Verhaltensweisen, auf die man die bevorzugte Beobachtungsmethode wie die Fremde Situation, das Erwachsenen-Bindungs-Interview und ähnliche Instrumente produktiv anwenden konnte. Das schirmte die Theorie vor mehreren von klinischen Analytikern entwickelten Konzepten ab, insbesondere im Kontext der analytischen Arbeit mit zunehmend schwerer gestörten chronischen Persönlichkeitsstörungen. Psychoanalytische Theorien haben selten relevante Beobachtungen aus dem Bindungsbereich berücksichtigt, und die paradigmengebundene Bindungstheorie war umgekehrt der Meinung, daß sie wenig von den klinischen Entdeckungen der Psychoanalytiker profitieren könne. Und doch steuern beide Erkenntnissysteme das gleiche, möglicherweise immer noch recht weit entfernte Ziel an: ein. entwicklungsorientiertes Verständnis der Persönlichkeit und psychischer Störungen. Dieses Buch hat zu zeigen versucht, daß die von Bindungstheoretikern getroffenen Unterscheidungen häufig eng mit Unterscheidungen verknüpft sind, die in bestimmten psychoanalytischen Schulen getroffen werden. Die Bindungstheorie hat mit einigen psychoanalytischen Traditionen vielleicht mehr gemeinsam als mit anderen, doch auch “entferntere Verwandte“ der Bindungstheorie (z. B. die moderne kleinianische Theorie) behandeln durchaus ähnliche Themen, wenn auch aus einer radikal anderen Perspektive. Nimmt man die psychoanalytische Theorie als Ganzes kann man sagen, daß viele wichtige Entdeckungen der Bindungstheorie sowohl auf der Couch des Analytikers als auch im Labor gemacht wurden. In einige Bereiche, mit denen psychoanalytische Kliniker vertraut sind, hat sich die Bindungstheorie noch nicht vorgewagt. Von einem engeren, über lebhafte Debatten hinausgehenden Kontakt zwischen den beiden Ansätzen könnten beide Traditionen enorm profitieren. Ein solcher Dialog könnte erhellen, in welchen Bereichen die bindungstheoretische Methodik auf die Er- forschung der psychoanalytischen Theorie und Praxis anwendbar ist. Außerdem könnte der Fokus der Bindungstheorie erweitert werden und Bereiche miteinbeziehen, die jenseits ihrer traditionellen Domäne liegen, also über die soziale Entwicklung im Kontext der Dyade hinausreichen.“ (S. 201/202)

Alle Psychoanalytiker und Bindungstheoretiker, die nach Fonagys gründlicher Analyse auf pauschaler gegenseitiger Ablehnung beharren, werden sich den Vorwurf der Ignoranz gefallen lassen müssen. Wer Theorien als tragendes Fundament seiner praktischen Arbeit sucht, wird sich allerdings zwischen Psychoanalyse und Bindungstheorie (oder gegen beide ) entscheiden müssen, weil sie in ihrer erkenntnistheoretischen Basis letztlich doch unvereinbar sind. Wer es aber vorzieht, verschiedene Theorien als alternative Denkangebote, als hypothetische Erklärungsmöglichkeiten tastend an jeden Einzelfall heranzutragen, wird sie fast immer als sich gegenseitig ergänzend oder sogar als übereinstimmend erleben.

Die Lektüre dieses Buches kann jedem dringend empfohlen werden, der eine Gelegenheit sucht, die Eigenarten der psychoanalytischen Ansätze und der Bindungstheorie durch vergleichende Betrachtung tiefer zu verstehen.

(Kurt Eberhard, Juni 2003)

 

 

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