FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2003

 

Michaela Huber

Trauma und die Folgen
(Teil 1 von: Trauma und Traumabehandlung)

Junfermann-Verlag Paderborn, 2003
 (279 Seiten, 22,50 Euro)

 

Michaela Huber ist Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin in Traumabehandlung. Sie hat bereits mehrer Publikationen auf dem Gebiet der posttraumatischen Störungen vorgelegt. Als ehemalige Redakteurin bei ‚Psychologie heute’ versteht sie etwas davon, anspruchsvolle Wissenschaftlichkeit, durchgehenden Praxisbezug und fesselnde Darstellungsweise miteinander zu verbinden. Besonders erfreulich ist die hervorragende didaktische Ausgestaltung: viele Abbildungen, Tabellen, Zwischenüberschriften, Hervorhebungen, Internetadressen, Stichwort- und Literaturverzeichnis (32 Seiten!).

Schwerpunkt dieses ersten Bandes des auf zwei Bände angelegten Buches
„sind die Folgen von Langzeittraumatisierungen, die in der Kindheit begonnen haben und meist körperliche, emotionale und sexuelle Gewalt umfassen. Sie können komplexe Folgen haben: Schwierigkeiten im Umgang mit den eigenen Gefühlen und Impulsen, Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität oder sogar Identitätsspaltungen, und Persönlichkeitsstörungen. Auch die Folgen organisierter Ausbeutung von Kindern – Stichwort: rituelle Gewalt – für deren seelische Entwicklung werden ausführlich dargestellt. Ergänzt wird der Band durch die Vorstellung bewährter Diagnose-Instrumente und umfangreiche Hinweise auf die internationale Fachliteratur zum Thema.“ (Klappentext)

Leider ist das Inhaltsverzeichnis zu bescheiden geraten. Es enthält nicht die sehr interessanten Unterkapitel, gibt aber doch einen groben Überblick über das Programm des Buches:
Kapitel 1: Was ist ein Trauma - und was ein belastendes Lebensereignis?
Kapitel 2: Wieso hilft Dissoziation, ein Trauma zu überleben?
Kapitel 3: Welche Traumatisierungen sind besonders schwer zu verarbeiten?
Kapitel 4: Wie wirken sich frühe Gewalterfahrungen auf die Bindungsfähigkeit aus?
Kapitel 5: Welche Diagnosen kann man nach Traumata bekommen, und was taugen sie?
Kapitel 6: Wieso erscheint traumatisierten Menschen der Tod oft näher als das Leben?
Kapitel 7: Warum erleben viele Traumatisierte den Zwang, sich selbst zu verletzen?
Kapitel 8: Was ist das Besondere an ritueller Gewalt?

Eines der interessantesten Kapitel, nämlich das vierte, soll im folgenden auszugsweise zitiert werden:

Developmental Traumatology
Ergänzt werden solche Befunde von den neuesten Forschungsergebnissen der so genannten ’Developmental Traumatology’, in denen konkrete Folgen nicht nur von desorganisierten Bindungserfahrungen, sondern unmittelbar von Kindesmisshandlungen untersucht werden. Neben Daniel Siegel ist Michael DeBellis, Psychiater an der Universität Pittsburgh, ein herausragender Vertreter dieses neuen Faches. In einem jüngst veröffentlichten Überblicksbeitrag schreibt er: ’Der überwältigende Stress früher Verlust- und Misshandlungserfahrungen in der Kindheit ist verbunden mit Veränderungen biologischer Stress-Systeme und hat schädliche Einflüsse auf die Hirnentwicklung. Letztere wird durch Gene geregelt, die äußerst empfindlich auf - insbesondere frühe - Lebenserfahrungen reagieren.’ (DeBellis, 2001)

Die psychobiologischen Folgeerscheinungen von Kindesmisshandlung fasst DeBellis zusammen im Begriff ’umweltbedingte komplexe Entwicklungsstörung’. Konkret: Kindesmisshandlung ist

Ø umweltbedingt, weil sie von erwachsenen Bezugspersonen gegen Kinder ausgeübt wird;

Ø sie verursacht eine komplexe Störung, das heißt, auf allen Ebenen von Denken, Fühlen, Verhalten, sozialen Beziehungen, Leistungen und Fähigkeiten - und auch im Gehirn selbst sowie in den sonstigen körperlichen Funktionen können erhebliche Beeinträchtigungen auftreten;

Ø Entwicklungsstörung bezieht sich nicht nur darauf, dass sich das Sozialverhalten und die motorischen Fähigkeiten aufgrund von Misshandlungen verschlechtern können. Sondern frühe Misshandlung und auch früher Verlust und Vernachlässigung wirken sich sogar, wie wir heute wissen, negativ auf die Entwicklung von Nervenzellen, Synapsen (also Verbindungsstellen von Nervenzellen), bestimmten Hirnstrukturen wie dem Pons, also der Brücke zwischen den Großhirnrinden und dem Hippocampus - dem Archiv unseres Gedächtnisses - aus. .....

Hier ein Überblick über die Zusammenhänge, wobei die Faktoren sich wie in einem Teufelskreis - oder besser: einer Abwärtsspirale - auch gegenseitig beeinflussen können {siehe DeBellis, 2001):

Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit

PTSD-Symptome

Veränderungen der Katecholamine und der HPA-Achse

Veränderungen im Hirnstoffwechsel
(z.B. verstärkter Verlust von Neuronen)

Nachteilige Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns
(kleineres Hirnwachstum, kleineres Corpus Callosum, kleinerer Hippocampus)

Negative Auswirkungen auf die kognitive und psychosoziale Entwicklung

Diese geradezu dramatischen Auswirkungen früher Traumata lassen deutlich werden, wieso viele Betroffene, die auch später im Leben noch traumatisiert werden, mit einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung bzw. einer dissoziativen Identitätsstörung reagieren können, wie sie in Kapitel, 2 und 5 beschrieben werden.
Welche Schäden es in der Entwicklung einer kindlich traumatisierten Persönlichkeit geben kann, dafür einige Beispiele (nach Perry, 2002):

Beispiele für Entwicklungsschäden nach Traumata
Eßverhalten: Nahrungsmittel horten; "essen, als gäbe es bald nichts mehr"; Anorexie, Bulimie (Ess-Brech-Sucht), Fresssucht; Wachstumsprobleme; Schluckbeschwerden.
Stressabbau-Verhalten: Haare und Nägel kauen; mit dem Kopf gegen die Wand schlagen; Schaukeln; ständiges Singen oder Pfeifen; sich selbst kratzen, schneiden oder verbrennen
Emotionales Verhalten: Depressionen und Ängste; wahllose Anhänglichkeit/Klammern
Unpassende Nachahmung: auch von Misshandlungs-Verhalten
Aggression: Mangel an Empathie; Druck, um sich zu schlagen, andere - besonders Schwächere - zu verletzen; sadistische Grausamkeit. .....

Um zu verhindern, dass es zu einer intergenerationellen Weitergabe von Traumata kommt - mit anderen Worten: dass eine Generation misshandelter Kinder zu Eltern wird, die wieder ihre Kinder misshandeln, die wieder zu Eltern werden, die .... - muss sowohl Eltern als auch Kindern mit Bindungsstörungen geholfen werden. Dabei lautet die Devise: so früh wie möglich. Hierbei hat es sich erwiesen, dass es keineswegs besser ist, ein Kind bei seinen misshandelnden Eltern zu lassen, nur um eine irgendwie vorhandene Bindung zu erhalten. Die Gefahr ist dabei viel zu groß, dass die Probleme des Kindes chronifiziert werden. Zu befürchten sind dann gravierende Entwicklungs- oder sogar Persönlichkeitsstörungen, vielleicht der Suizid des Kindes bzw. Heranwachsenden.
Besser ist es, bei Misshandlungen - zumindest, wenn erkennbar ist, dass sich die Eltern nicht helfen lassen wollen oder sich auch nicht innerhalb einer kurzen Zeit verändern können - das Kind aus der Familie herauszunehmen und in eine Pflege- oder Adoptivfamilie zu vermitteln. Ein Heim ist zwar eine schlechtere Lösung als eine gute Pflege- oder Adoptivfamilie. Doch moderne Heime haben heute häufig auch ein Bezugspflegesystem, in dem Kinder und Jugendliche gute, korrigierende Bindungserfahrungen machen können (Schleiffer, 2001).
Der Satz ’Jede Familie ist besser als das beste Heim’ ist jedenfalls ganz offensichtlich falsch.

Wie mit dem verstörten Kind umgehen?
Doch wie mit dem verstörten Kind konkret umgehen? Je kleiner das Kind ist, desto unmittelbarer sollte das nonverbale, liebevolle körperliche Umsorgen der Erwachsenen dem Kind ein heilsames und sicheres Bindungsangebot machen. Hierbei muss der Erwachsene natürlich kontinuierlich und verlässlich für das Kind da sein. Bedeutsam ist offenbar, dass die erwachsene Bezugsperson ihr Verhalten auf die Reaktion des Kindes abstimmt und es weder über- noch unterfordert.
Glücklicherweise scheint die Psyche des kleinen Kindes durchaus in der Lage zu sein, eine sichere Bindung zu einer selektiven Auswahl einiger Erwachsener herzustellen, zusätzlich zu den Eltern. Großeltern und andere Verwandte, Tagesmütter, Babysitter und andere frühe Bezugspersonen können eine bedeutende Rolle als Bindungsobjekte spielen. Und natürlich Pflege- und Adoptiveltern. Zusätzlich werden oft PsychotherapeutInnen benötigt, um dem Kind, oder später der jugendlichen oder erwachsenen Persönlichkeit - ggf. auch systemisch dem (Pflege-) Familiensystem - beizustehen und bei der Integration der so disparaten frühen Erfahrungen zu helfen.
In der Psychotherapie und anderen ’heilsamen Beziehungen’ kann es bei früh traumatisierten Menschen manchmal Jahre dauern, bis aus dem ’Ur-Misstrauen’, welches das Kind an die Stelle des zerstörten Urvertrauens setzen musste, eine zumindest tragfähige Arbeitsbeziehung geworden ist. Bei erwachsenen, vielfach traumatisierten Menschen kann die Therapie oft gar nicht bis zur Trauma-Durcharbeitung fortschreiten, weil die Hauptarbeit darin besteht, dem wichtigsten Ziel näher zu kommen: sich überhaupt auf andere Menschen beziehen und einlassen zu können (Rothschild, 2002).
Je früher die Behandlung anfängt, desto größer die Chancen, dass das Kind, der jugendliche oder erwachsene Mensch diesen Schritt noch schaffen kann. Wer allerdings im ersten Lebensjahr durchgängig verwahrlost und extrem vernachlässigt wurde, kann einen solchen wichtigen Schritt hin zu einer vertrauensvollen Beziehung manchmal überhaupt nicht mehr hinbekommen. HelferInnen sollten dann nicht verzagen oder gar sich selbst die Schuld geben, sondern auf pragmatische Weise versuchen, die häufig wichtigsten Störungsbereiche anzugehen. Meist ist das Hauptproblem die Affektregulation, also der Umgang mit oft extremen Gefühls- und Spannungszuständen; außerdem gilt es, für Selbstverletzungen und antisoziales Verhalten bessere Alternativen zu finden und wesentliche Unterstützung zu geben in den Bereichen soziale Integration, Körper-Wahrnehmung und -Pflege, Tag-Nacht-Rhythmus, Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit.
Gelingt es, traumatisierten Kindern, früh zu helfen, ist sozusagen noch mehr "drin". Aller- dings: ein früh durch Verluste, Vernachlässigung oder Misshandlung traumatisiertes Kind benötigt teilweise eine Unterstützung, die sich von der für nicht-traumatisierte Kinder unterscheidet.

Empfehlungen für die Arbeit mit traumatisierten Kindern
Hier einige Empfehlungen für Menschen, die mit traumatisierten Kindern arbeiten (wollen), es sind vor allem sehr einfache Hinweise (u.a. nach Perry, 2002):

Ø Das Kind umsorgen: viele, vor allem kleine Kinder brauchen es, gehalten, gewiegt und geherzt zu werden. Allerdings nur, wenn sie dies selbst wollen!

Ø "Seltsames" und abweichendes Verhalten verstehen: wenn Kinder z.B. Lebensmittel horten, kann man dies als "Stehlen" ahnden - man kann es aber auch (besser) als häufiges Ergebnis von Hunger in der Kindheit betrachten.

Ø Ein misshandeltes Kind sollte nicht nach seinem chronologischen, sondern nach seinem emotionalen Alter behandelt werden. Viele traumatisierte Kinder regredieren oder haben kleine innere Selbst-Anteile, die mit Außenstehenden Kontakt aufnehmen, die getröstet, gehalten, liebevoll angenommen werden wollen. Wenn möglich, sollten die Bezugspersonen also dem Kind einerseits helfen, diese kleineren Anteile zu trösten, andererseits - und dies gilt insbesondere für abgespaltene Persönlichkeitsanteile des Kindes - helfen, sie zu verstehen und zu integrieren (siehe auch Putnam, 1997 ; Silberg, 1996).

Ø Konsequent, vorhersagbar und wiederholend sollte das Verhalten des Erwachsenen sein. Denn viele traumatisierte Kinder mögen keine Überraschungen, nicht einmal positive, und reagieren empfindlich auf Veränderungen im Tagesablauf sowie auf chaotische und unübersichtliche Situationen.

Ø Angemessenes soziales Verhalten muss oft buchstäblich vorgelebt und dabei dem Kind erklärt werden, warum man etwas tut: "Ich schreibe jetzt einen Einkaufszettel, weil...".

Ø Das misshandelte Kind zum "Co-Trainer" machen und dabei ein ähnliches Verhalten wählen, wie es dem Kind schwer fällt. Zum Beispiel: "Beide Mannschaften wollen immer nur die Besten als Mitspieler haben. Wenn du einer Mannschaft alle Guten zuteilst, werden sie ziemlich sauer sein. Also ..."

Ø Häufig hilft einfach nur ruhiges Zuhören und Sprechen und mit einem Kind gemeinsam zu entspannen. Dabei bestimmte Themen behandeln wie:

1. Alle Gefühle sind in Ordnung?

2. Wie kann ich mich verhalten, wenn ich wütend oder ängstlich oder traurig bin?

3. Wie kann ich herausfinden, was andere Menschen fühlen?

4. Wie kann ich Worte finden für meine eigenen Gefühle?

Ø Dabei wird es für den Erwachsenen wichtig sein, realistische Erwartungen auf die Kinder zu richten. Daher hilft es oft, früh herauszufinden, auf welchen Gebieten ein Kind Begabungen hat und auf welchen seine Fortschritte eher langsam sein werden.

Ø Geduld ist sicher eine wesentliche Voraussetzung der Arbeit mit misshandelten Kindern. Diese Geduld wird immer wieder überfordert werden, das ist ganz normal. Supervision ist daher häufig unerlässlich; manchmal sogar eine eigene (weitere) Psychotherapie, um mit den unbewältigten Problemen fertig zu werden, die das Kind im Erwachsenen anstößt (siehe auch Stamm, 2002).

Ø Eigene Ressourcen kennen, wiederfinden und pflegen ist nicht nur für die Kinder, sondern auch und gerade für die Erwachsenen wichtig! Dazu gehört auch, Entspannung auf Gebieten zu suchen, die gar nichts mit der Arbeit und der Tätigkeit für das Kind zu tun haben.“ (S. 102 ff)

Die anderen Kapitel hätten es ebenso verdient, ausführlich dargestellt zu werden. Besonders lesenswert, allerdings auch erschütternd, ist die sehr verdienstvolle und informative Darstellung der rituellen Gewalt im letzten Kapitel.

Hubers Buch wird dem hochbedeutsamen Paradigma der neuropsychologischen Traumaforschung auch bei vielen derjenigen zum Durchbruch verhelfen, die ihm gegenwärtig aus verschiedensten Gründen noch hinhaltenden Widerstand entgegensetzen, weil es von einer theoretisch und praktisch versierten Psychologin geschrieben ist, die keiner bestimmten Schule angehört und keiner “Biologisierung“ der posttraumatischen Störungen das Wort redet, sondern im Gegenteil die Macht psychischer Einflüsse auf die physischen Funktionen und Strukturen demonstriert.

Wenn der zweite, der therapeutische Band ebenso brillant ausfällt wie dieser erste, wird das Gesamtwerk wahrscheinlich bedeutende Entwicklungen in der psychotherapeutischen und sozialpädagogischen Praxis bewirken.

Kurt Eberhard (August, 2003)

 

 

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