FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Präsentation / Jahrgang 2003

 

Heiko Kleve, Gerd Koch, Matthias Müller (Hg.):

Differenz und Soziale Arbeit

Sensibilität im Umgang mit dem Unterschiedlichen

Schibri-Verlag Berlin, 2003 (191 Seiten)

 

Mit diesem Band beginnt die neue Schriftenreihe ’Berliner Beiträge zur Sozialen Arbeit und Pflege’ , herausgegeben von der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin.

Inhalt:

Matthias Müller: Polyglotte Kommunikation. Ein Reflex Sozialer Arbeit auf die funktionale Differenzierung der Gesellschaft

Heiko Kleve: Soziale Arbeit - Arbeit an und mit Differenz. Prolegomena zu einer Theorie differenzakzeptierender Sozialarbeit/Sozialpädagogik

Gerd Koch: Ich ist ein Anderer. Eine pädagogische Denkfigur für soziale Kulturarbeit?

Birgit Rommelspacher: Zum Umgang mit Differenz und Macht. Sozialarbeit als Menschenrechtsprofession

Kurt Eberhard: Differenzen in der Forschung und Praxis Sozialer Arbeit

Katia Neuhoff: Differenz als epistemologisches Potential. Learning from the Outsider Within

Lidia J. Guzy: Ethnologie - die Wissenschaft der akzeptierten Differenz des/der "Anderen"

Matthias Junge: Multikulturalismus, sozialkulturelle Ordnung und Hybridität

Edith Bauer / Brigitte Geißler-Piltz: Konkurrenz - eine feministische Betrachtung

Tahereh Agha: Biographische Bedeutung von Flucht und Exil

In ihrem Vorwort geben die Herausgeber einen Ausblick auf die einzelnen Beiträge:

Die Gesellschaft verändert sich und damit auch die Soziale Arbeit. Klassische Leitorientierungen werden immer problematischer - sowohl aus praktischer als auch aus theoretischer Sicht. Eine solche Leitorientierung ist die Differenz von Norm und Abweichung, Konformität und Devianz. Inzwischen ist es fraglich geworden, ob Soziale Arbeit die Funktion hat, soziale Abweichungen von gesellschaftlichen Normvorstellungen zu re-normalisieren. Soziale Pluralisierungs- und Differenzierungsprozesse auf den unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft verunmöglichen das Bezugnehmen auf einheitliche und klare normative Vorstellungen. Pluralitäts- und Differenzerfahrungen scheinen inzwischen auch den sozialarbeiterischen Alltag zu bestimmen. Der Sozialen Arbeit stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wie sie einen angemessenen, wissenschaftlich und ethisch wie methodisch begründeten Umgang - als Differenzsensibilität - mit den unterschiedlichen Differenzen in ihren Handlungsfeldern finden kann. ....

Im 1. Teil des Buches, Differenz und Soziale Arbeit, wird die Kategorie Differenz gewissermaßen als heuristische Brille verwendet, um das Feld der Sozialen Arbeit als Praxis der Differenzthematisierung zu beschreiben.

Matthias Müller beginnt mit Kommunikationsbedingungen in der Sozialen Arbeit. Sie werden aus den Perspektiven einer funktional differenzierten und einer lebensweltlich heterogenen Gesellschaft beschrieben. Die Grundlage für die lebensweltliche Perspektive seiner Ausführungen liefern die Texte der Autorinnen und Autoren dieses Buches. Matthias Müllers Ausführungen verdeutlichen, dass Kommunikationen in der Sozialen Arbeit häufig eine Übersetzungsleistung verschiedener funktionaler und lebensweltlicher Sprachen darstellen. Er beschreibt das differente Feld der Sozialen Arbeit, benennt Kommunikationsanforderungen, die in diesem Feld bestehen, und bezeichnet diese als polyglotte Kommunikation.

Heiko Kleve beschreibt die Umgangsformen mit der Differenz im Feld der Sozialen Arbeit. Differenzbeobachtung, Differenzminimierung, Differenzakzeptanz und Differenzmaximierung werden als drei Wege sozialarbeiterischer Praxisgestaltung vorgestellt, die einerseits Differenzsensibilität erfordern und andererseits das Handeln hinsichtlich beobachteter Differenzen orientieren. Differenz ist für ihn die konstituierende Kategorie der Sozialen Arbeit; sie erzeugt nicht zuletzt Ambivalenzen, widersprüchliche Handlungserwartungen. Soziale Arbeit braucht daher Strategien des Umgangs mit Ambivalenzen und eine Urteilskraft, die es erlaubt, ambivalente Perspektiven einnehmen und aushalten zu können. Für Heiko Kleve kann die Soziale Arbeit in einer Gesellschaft, die vom Verlust von Eindeutigkeit geprägt ist, eine Vorreiterrolle im Umgang mit gesellschaftlich erzeugten Differenzen und Ambivalenzen übernehmen.

Gerd Koch öffnet im Feld der sozialen Kulturarbeit den Blick auf den Menschen vom ENTWEDERODER- zum UND-Subjekt. Soziale Kulturarbeit als Akzeptanz von Differenz bedeutet dann die Arbeit an den Multiversen von Menschen und nicht die Arbeit am Universum. Mit Hilfe der Brechtschen Figur des Baal zeigt er, dass der Mensch Schnittpunkt verschiedener Einflusslinien ist und als solcher Widersprüche in sich bündelt. Differenz muss so einerseits ausgehalten werden und andererseits stellt sie den Motor für individuelle Entwicklungen dar. Der sozialen Kulturarbeit legt Gerd Koch für den Umgang mit den von ihm dargestellten Facetten des Widersprüchlichen die Kreolisierung nahe. Kreolisierung ist die Bereitschaft, das Verschiedene der UND-Subjekte zu akzeptieren und damit in einer offenen Dialektik umzugehen.

Birgit Rommelspacher sieht die Soziale Arbeit mit der Aushandlung von Differenzen befasst. Die Aushandlung von sozialer Ungleichheit und Verschiedenheit ist an gesellschaftliche Machtverhältnisse geknüpft. Mit Hilfe des Foucaultschen Machtbegriffes verdeutlicht sie, wie die in der Sozialen Arbeit Tätigen institutionalisierte Macht fortschreiben. Sie plädiert dafür, dass sich SozialarbeiterInnen (z.B. im Feld der interkulturellen Sozialarbeit) permanent kritisch selbst reflektieren, und zwar hinsichtlich ihrer Beiträge bei der Aufrechterhaltung etablierter Machstrukturen. Für den Umgang mit kulturellen Differenzen in der Sozialen Arbeit schlägt Birgit Rommelspacher vor, sich auf plurale Realitäten einzulassen und von einem integrierten Pluralismus auszugehen. Den normativen Rahmen für eine machtreflektierte und pluralistisch agierende Soziale Arbeit liefern die Menschenrechte. Soziale Arbeit wird somit schließlich als Menschenrechtsprofession definiert.

Der 2. Teil des Buches, Differenz und Erkenntnis, beschäftigt sich mit der Frage, wie Erkenntnis in einer von Pluralisierung und Differenzierung geprägten Gesellschaft möglich sein kann und was dies für die Soziale Arbeit bedeuten könnte.

Kurt Eberhard stellt den aus seiner Praxistätigkeit in der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie entwickelten Methodendreischritt und die wesentlichen Einflussfaktoren seiner Arbeit vor. Im Anschluss an die Aktionsforschung geht er von Glaubwürdigkeitsansprüchen aus, die von abduktionslogisch begründeten hermeneutischen Regeln geleitet werden. In Rückgriff auf Kant und Goethe plädiert er dafür, auch ästhetische Fähigkeiten in die Wahrnehmung und Darstellung psychosozialer Begebenheiten aufzunehmen. Hilfe ist dann nicht etwa die Gestaltung vom Hässlichen zum Schönen, sondern die Harmonisierung dissonanter Schönheiten. Mit dem postmodernen Ansatz der Transversalen Vernunft findet Kurt Eberhard nachträglich den metatheoretischen Rahmen für die von ihm entwickelte und praktizierte Sozialpraxis im Umgang mit Differenzen in der Sozialen Arbeit.

Katia Neuhoff beschreibt das spezifische Erkenntnispotential der Kategorie der Fremden. Die marginalisierungs- und ermächtigungserfahrene Fremde ist durch ihre doppelte Sozialisation und gleichzeitigen Positionierung im Zentrum und in der Peripherie des geographischen und sozialen Raumes eine Außenseiterin im Innern. Sie setzt der konstruierten Eindeutigkeit der Einheimischen ihre Mehrdeutigkeit entgegen. Die Fremde als Außenseiterin im Innern avanciert so zur Anwältin eindeutiger Mehrdeutigkeit. Sie hat einen Standpunkt der zwischen den Selbstverständlichkeiten der Mehrheitsgesellschaft und deren Eindeutigkeiten liegt. Für Katia Neuhoff ist aus der daseinsprägenden existentiellen Vielheit der Fremden ein spezifisches, mehrdimensionales Erkenntnispotential möglich.

Lidia J. Guzy beschreibt am Beispiel der ethnologischen Forschung, wie Differenzen transportiert werden können, ohne Nivellierung zu betreiben. Das Denken kultureller Differenz ist fester Bestandteil der ethnologischen Wissenschaft und unter Berücksichtigung des mittlerweile geweiteten ethnologischen Blickes - vom kulturell Fremdem in der Ferne zum kulturell Fremden in der eigenen Gesellschaft - auch für die Soziale Arbeit relevant. Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit kann und sollte von ihren Ausführungen zur teilnehmenden Beobachtung und Ethnographie profitieren. Beide Methoden der ethnologischen Forschung sind darum bemüht, das Verständnis des Anderen gemäß ihrer Kategorien und Sinnsysteme zu transportieren. Lidia J. Guzy beschreibt somit Formen der Annäherung an das Andere (z.B. den Klienten), die es ermöglichen können, dessen Vielfältigkeit kennen zu lernen.

Im 3. Teil des Buches, Differenz und Gesellschaft, werden verschiedene gesellschaftliche Aspekte (Multikulturalismus, Konkurrenz unter Frauen sowie Flucht und Exil) thematisiert, von deren Differenzierung die Soziale Arbeit, wie freilich auch andere Disziplinen, profitieren könnten.

Matthias Junge greift das Schlagwort des Multikulturalismus auf und fragt sich, wie denn ein sozialer Ordnungsbegriff entwickelt werden kann, der eine plurale Rede von Ordnung nahe legt. Kultur war von Anfang an eine inhomogene, unreine, vermischte Komposition unterschiedlicher Kulturen. Ausgehend von dieser These entwickelt er eine plurale Ordnungsvorstellung der Postmoderne und versteht Ordnung als Relationsbegriff, in dem Ordnungen zueinander in Beziehung gesetzt sind. Der Zusammenhang zwischen einer Vielzahl von Ordnungen wird durch Ordnungsnetze erzeugt, die sich unter kontingenten gesellschaftlichen Bedingungen ständig neu konstituieren. Matthias Junge entwickelt so einen Ordnungsbegriff, der Relationierung als Ausgangspunkt sieht, der Ordnung prozessorientiert versteht, in dem Differenz inneren Zusammenhang erzeugt, der Ordnung selbstkonstitutiv versteht, in dem Ordnung sich durch handlungsfähige Subjekte stabilisiert und der die Frage nach den Bedingungen einer Ordnung obsolet werden lässt.

Edith Bauer und Brigitte Geißler-Piltz thematisieren den andersartigen Umgang von Männern und Frauen mit beruflicher Konkurrenz und führen diesen auf die unterschiedlichen Sozialisationen der Geschlechter zurück. Sie sehen für das Konkurrenzprinzip notwendige Facetten - wie die Akzeptanz von Differenzen, die Verfolgung bewußter eigener Wünsche und Ziele sowie den Mut zur Außendarstellung der eigenen Fähigkeiten - bei Frauen weniger gefördert als bei Männern. Dies veranschaulichen und begründen sie im psychoanalytischen Erklärungsansatz des Mutter-Tochter-Dramas und der sich daraus ergebenden Retterrolle des Vaters. Die Formen des Umgangs mit der Konkurrenz unter Frauen werden aus verschiedenen Perspektiven dargestellt. Edith Bauer und Brigitte Geißler-Piltz explizieren das tabuisierte Thema der Konkurrenz zwischen Frauen und machen Vorschläge, wie es in den öffentlichen Diskurs zu bringen ist.

Tahereh Agha beschreibt Flucht und Exil aus biographischer Perspektive und stellt dar, was Differenz für die im Exil lebenden Menschen bedeutet. Sie veranschaulicht die Differenz im igrationsprozess anhand von drei Aspekten: dem Geschlecht, der kulturellen Identität und der Generation. MigrantInnen unterscheiden sich hinsichtlich dieser Kategorien grundsätzlich voneinander, werden in der gesellschaftlichen Wahrnehmung trotzdem oft vereinheitlichend und differenzverdeckend wahrgenommen. So besteht z.B. die Tendenz, Frauen musli- mischer Herkunft als Opfer einer aus ihrem Herkunftsland patriarchal geprägten Geschlechterbeziehung zu verstehen und ihnen ihre Entscheidungskompetenz als Subjekte abzusprechen. Eine solche implizite Abwertung der MigrantInnen enthält eine gleichzeitige Aufwertung der eigenen modernen Lebensweise, die eine Tendenz der Bevormundung in sich birgt. Die von Tahereh Agha dargestellten Dimensionen, die Differenzsensibilität im Umgang mit MigrantInnen erfordern, werden an empirisch-biographischem Material dargestellt.

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Die meisten Texte dieses Bandes sind hervorgegangen aus einer systematischen Ringvorlesung, die im Sommersemester 2001 an der Alice-Salomon-Fachhochschule (ASFH) Berlin statt fand. Insgesamt liegt ein äußerst breites Spektrum an Texten und Stilen zum Thema vor. Das Lesen der Aufsätze erfordert also bereits das, was viele der Beiträge postulieren: Differenzen zu akzeptieren und die sich daraus ergebende Chance zu nutzen, nämlich die Einheitsbrillen abzulegen. Das Buch gibt Studierenden und PraktikerInnen eine Folie zur Diskussion ihrer Themen und Fragestellungen: es möchte Differenzsensibilität als Teil der Professionalität Sozialer Arbeit motivieren.

Das Buch kann beim Verlag bestellt werden: http://www.schibri.de

 

 

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