FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2003

 

Lisa Koch-Kneidl und Jörg Wiesse (Hg.):

Entwicklung nach früher Traumatisierung

- Band 23 der Psychoanalytischen Blätter -
Vandenhoeck & Ruprecht (120 Seiten, 19,90 Euro)

 

In Deutschland ist es glücklicherweise nicht zu einer Abgrenzung der Psychoanalyse von dem aktuellen Paradigma der neuropsychologischen Traumaforschung gekommen. Dazu hat der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht von Anfang an beigetragen (s. Adoleszenz und Trauma; s. Körper, Seele, Trauma). Auch der nun von Koch-Kneidl und Wiesse herausgegebene Band dient diesen Integrationsbemühungen. Dabei können sie sich auf den frühen, noch neurologisch orientierten Freud und auf seine ich-psychologischen und objektbeziehungstheoretischen Nachfolger berufen:
„In der Geschichte der Psychoanalyse legte Freud 1895 seiner frühen Neurosentheorie noch eine traumatische Genese zugrunde. In den Studien zur Hysterie wurde der Begriff des psychischen Traumas erstmals von ihm beschrieben als das Trauma der sexuellen Verführung in der Kindheit, als reales Trauma, das die hysterische Erkrankung bedingt. ....
Freud hat damit ein Modell zur Verfügung gestellt, das ein Zusammenwirken von individuellem Erleben und einem belastenden äußeren Ereignis beschreibt. In seiner Nachfolge wurde die Freudsche Traumatheorie besonders durch ich-psychologische und objektbeziehungstheoretische Aspekte erweitert.“
(aus dem Vorwort der Herausgeber)

Die zur Mitarbeit herangezogenen Autoren sind ausnahmslos erfahrene Praktiker, was sich in den Themen ihrer Beiträge widerspiegelt:

Peter Riedesser; Michael Schulte-Markwort, Joachim Walter (Leitende Psychiater in psychiatrischen Kliniken in Hamburg und Bad Dürrheim)
Entwicklungspsychologische und psychodynamische Aspekte psychischer Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen

Gerald Hüther (Professor für Neurobiologie in Göttingen)
Die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen im Kindesalter auf die Hirnentwicklung

Angelika Holderberg (Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Hamburg)
Umgang mit dem Trauma - Beispiele unterschiedlicher Konzeptionen

Ursula Volz (Psychoanalytikerin in Köln und Düsseldorf)
"Ich bin wieder ein Mensch" – Psychoanalyse des frühen Kindheitstraumas

Kai von Klitzing (Oberarzt in der Kinderpsychiatrischen Universitätsklinik Basel)
Die Folgen früher Traumatisierungen - eine entwicklungspsychologische Perspektive

Shlomith Cohen (Psychoanalytikerin in Jerusalem)
Trauma und Entwicklungsprozeß - aus der Analyse eines adoptierten Kindes

Folgende Zitate belegen die Relevanz der Texte für Eltern, Erzieher und Sozialarbeiter:

Riedesser, Schulte-Markwort und Walter beschreiben und systematisieren die verschiedenartigen Formen und Folgen der Traumatisierung:
„Die seelischen Verletzungen, die Kinder erleiden, die von ihren Eltern oder anderen nahen Bezugspersonen vernachlässigt, mißhandelt oder sexuell mißbraucht werden, zählen zu den schwersten überhaupt. ....
Psychische Traumatisierung kann ein Kind nicht nur sein Leben lang psychopathologisch belasten (vgl. Egle et al., 1997), sondern auch wesentlich zu Kriminalität, Militarismus, Terrorismus und barbarischen Erziehungsideologien beitragen, die dazu führen, daß die Traumatisierung von Generation zu Generation weitergegeben wird.“

Hüther stellt die neuropsychologischen Wechselwirkungen aus systemischer Sicht dar:
„Wenn eine Belastung auftritt, für die eine Person keine Möglichkeit einer Lösung durch ihr eigenes Handeln sieht, an der sie mit all ihren bisher erworbenen Reaktionen und Strategien scheitert, so kommt es zu einer unkontrollierbaren Streßreaktion. Sie ist durch eine lang anhaltende Aktivierung kortikaler und limbischer Strukturen sowie des zentralen und peripheren noradrenergen Systems gekennzeichnet, die sich wechselseitig so weit aufschaukelt, daß es schließlich auch zur Aktivierung des HPA-Systems mit einer massiven und lang anhaltenden Stimulation der Kortisolausschüttung durch die Nebennierenrinde kommt. Solche unkontrollierbaren Belastungen haben andere, weiterreichende Konse- quenzen auf die im Gehirn angelegten Verschaltungen als die soeben beschriebenen kontrollierbaren Streßreaktionen. Beobachtungen an Versuchstieren deuten darauf hin, daß vor allem die aus unkontrollierbaren Belastungen resultierenden massiven und lang anhaltenden Erhöhungen der Glukokortikoidspiegel zur Destabilisierung der bereits angelegten synaptischen Verbindungen und neuronalen Netzwerke führt {Fuchs et al. 1995; Sapolsky 1990). Bei unkontrollierbaren Belastungen wird die Noradrenalinausschüttung vermindert (Tsuda u. Tanaka 1985), der zerebrale Energieumsatz gehemmt {Bryan u. Lehman 1988) und die Bildung neurotropher Faktoren unterdrückt (Smith et al. 1995). Halten derartige Belastungen länger an, so kann es sogar zur Degeneration noradrenerger Axone im Kortex (Nakamura et al. 1991) und zum Absterben von Pyramidenzellen im Hippokampus (Sapolsky et al. 1985; Uno et al. 1989) kommen. Verhaltensbiologische Untersuchungen zeigen in diesem Zusammenhang einen sehr interessanten Effekt: Hohe Spiegel von Glukokortikoiden, wie sie physiologischerweise bei unkontrollierbarem Streß erreicht werden, fördern die Auslöschung von erlernten Verhaltensreaktionen und führen zur Elimination vor allem solcher Verhaltensweisen, die für eine erfolgreiche Beendigung des Streßreaktionsprozesses ungeeignet sind (van Wimersma-Greidanus u. Rigter 1989).“

Holderberg betont die Singularität der Trauma-Prozesse und die daraus folgende Individualität der therapeutischen Reaktionen:
„Der Umgang mit dem Trauma erfordert unterschiedliches therapeutisches Vorgehen, so wie Menschen erlittene Traumata unterschiedlich verarbeiten, was wiederum davon abhängig ist, auf welcher Stufe ihrer Entwicklung es über sie hereinbricht, welche vorherigen Erfahrungen sie geprägt haben und von welcher Art das Trauma ist. Es ist sicher ein Unterschied ob - wie in der Mädchengruppe - mit Kindern vor Einsetzen der Pubertät gearbeitet wird und an einem aktuellen Trauma oder ob die unverarbeitete traumatische Erfahrung introjiziert und durch den Entwicklungsschub der pubertären Entwicklung und Adoleszenz sowie durch äußere Ereignisse zu einer Symptombildung führte, die dann eine Behandlung notwendig macht.
’Die von außen aufgezwungene Gewalt führt zur Introjektion der Schuldgefühle, zur Introjektion des Aggressors und der Identifikation mit ihm. .... es ist nicht das Trauma allein, welches die Introjektion bewirkt, es kommt hinzu, daß niemand da ist, der dem Opfer die Qualität des Traumas und die Realität seiner Wahrnehmung bestätigen könnte. .... Die folgende Verleugnung macht das Trauma pathogen’ (Hirsch 1992).“

Volz kennzeichnet die von ihr bearbeitete Fragestellung folgendermaßen:
„Anliegen dieses Beitrags ist es, anhand der Behandlung von erwachsenen Patienten zu vermitteln, was geschehen kann, wenn Kinder mit Traumareaktionen keine Hilfe bekommen.
Menschen, die im ersten Lebensjahr schwere Traumata erlitten haben, suchen als Erwachsene häufig Hilfe wegen psychosomatischer Symptombildung, Panikattacken, psychotischer Krisen, Depressionen, Suizidalität, Sucht, sexueller Störungen und besonders häufig wegen unglücklicher Partnerschaften und Schwierigkeiten in der lebensbegleitenden Fürsorge für ihre Kinder. Die für Traumatisierte typische Aufgeregtheit weist auf ihren Mangel hin, sich selbst zu beruhigen, zu trösten und durch wunschgeleitetes Phantasieren und Handeln für sich selbst ausreichend gut zu sorgen, worauf H. Krystal hinweist (1997).“

von Klitzing äußert sich zur Symptomatologie und Diagnostik traumatisch bedingter Störungen sowie den therapeutischen Konsequenzen und gelangt zu folgendem Fazit:
„Frühe Traumatisierungen beeinträchtigen auf einschneidende Weise die psychoemotionale Entwicklung. Sie sind besonders schädlich, wenn die primären Bezugspersonen mitbetroffen sind, wenn es zu einer Trennung von ihnen kommt, wenn ihre extreme Hilflosigkeit erlebt wird oder wenn sie gar selbst Verursacher der Traumatisierung sind wie bei Kindsmißhandlungen. Traumatisierungen in der frühen Kindheit schreiben sich ins Gedächtnis ein, allerdings vor allem im implizit emotionalen Gedächtnis, in Form eines konditionierten Angststimulus, der nicht der Kontrolle durch explizite Erinnerungsinhalte unterworfen werden kann. Symbolische Bedeutung erhalten sie erst in der Nachträglichkeit. Durch Wiederholungszwang, repetitives Spiel oder unbewußtes Wiederherbeiführen der traumatischen Situation wird eine Verbindung zwischen subsymbolischem und symbolischem Erleben gesucht, ein Versuch, der allerdings meist auf der Handlungsebene bleibt. Erst durch eine intensive psychoanalytisch ausgerichtete Therapie kann ein schwertraumatisiertes Kind in der Regel einen ausreichenden Grad der Mentalisierung erreichen, um die früh erlebten psychischen Verletzungen mit einer symbolischen Bedeutungsebene zu verbinden und die psychischen Folgeerscheinungen damit zu kontrollieren.“

Cohen tritt der sehr häufigen Bagatellisierung der grundsätzlichen Problematik von Adoptionsverhältnissen entgegen:
„Viele Faktoren machen eine Adoption zu einem psychischen Gesundheitsrisiko (Brinich 1980). Das adoptierte Kind hat normalerweise leibliche Eltern, die ihrer Aufgabe schlecht gewachsen sind, sich nicht um ihr Kind kümmern können und es deshalb weggeben müssen. Die Schwangerschaft mag unerwünscht gewesen sein, das Kind kann anderweitig nicht versorgt werden. Das Kind kann zu den Elternfiguren, die es nicht versorgen konnten, eine schlechte Bindung entwickelt haben. Vernachlässigung oder Mißbrauch können Grund für die Adoption sein, die wiederum zu traumatischen Trennungs- und Verlusterlebnissen führt. Und: Als adoptiertes Kind wird es von adpotierenden Eltern erzogen, die ihre eigene Geschichte von Frustration und Verlust haben, die sie motiviert hat, Elternschaft durch Adoption zu verwirklichen. Von einer psychoanalytischen Perspektive gesehen, wirken diese Faktoren auch als Angstauslöser für das Kind und die Eltern und können im Phantasieleben der beteiligten Personen und in der Entwicklung ihrer Beziehungen innerhalb der Familie thematisiert werden. Die Untersuchung von Adoption in der Psychoanalyse ermöglicht Einblicke, wie sich diese Faktoren wechselseitig beeinflussen, wenn sie zusammentreffen und die Entwicklung eines Kindes formen.“

Diese kurzen Zitate sollen natürlich nicht die Lektüre des vorgestellten Buches ersetzen, sondern im Gegenteil anregen. Sein besonderes Verdienst besteht darin, daß es das neuropsychologische Paradigma durch seine Verknüpfung mit der Psychoanalyse vor einer biologistischen bzw. mechanistischen Reduktion bewahrt, wie man sie sowohl in der medizinischen wie auch in der naturwissenschaftlich-psychologischen Literatur immer wieder findet. Es wird deshalb nicht nur den Praktikern der Sozialpädagogik und Sozialarbeit, sondern auch den Ärzten und Psychotherapeuten besonders empfohlen.

Kurt Eberhard (Sept. 2003)

s.a. Sachgebiet Traumaforschung

 

 

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