FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 

Herausgegeberin: Stiftung ’Zum Wohl des Pflegekindes’

3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens

Kontakte zwischen Pflegekind und Herkunftsfamilie

Schulz-Kirchner-Verlag,
2004

 

Kontakte zwischen Pflegekind und Herkunftsfamilie werden in Theorie und Praxis konträr diskutiert und gehandhabt. Das 3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens widmet seine Aufmerksamkeit Kindern in Pflegefamilien, die dort dauerhaft leben. Die Beiträge und ihre Autoren sind aus dem folgendem Inhaltsverzeichnis ersichtlich:

Ludwig Salgo
Gesetzliche Regelungen und gerichtliche Entscheidungen zum Umgangsrecht

Helma und Bernhard Hassenstein
Eltern-Kind-Beziehungen in der Sicht der Verhaltensbiologie – Folgerungen für Pflegeeltern und Pflegekinder

Martina Cappenberg
Besuchskontakte vor dem Hintergrund der Bindungstheorie: Möglichkeiten und Grenzen dieser Theorie, zum Verständnis der Situation von Pflegekindern beizutragen

Sunke Himpel/Gerald Hüther
Auswirkungen emotionaler Verunsicherungen und traumatischer Erfahrungen auf die Hirnentwicklung

Annette Streeck-Fischer
Frühe Misshandlungen und ihre Folgen – Traumatische Belastungen in der Entwicklung

Monika Nienstedt
Das Besuchsrecht der Eltern und das Erleben des auf Dauer fremdplatzierten Kindes

Arnim Westermann
Die Trennung des Kindes von den Eltern und die Verleugnung der Trennung durch aufrecht erhaltene Besuchskontakte

Mériem Diouani
Von der Norm zum Einzelfall – Notwendige Konsequenzen für die Umgangspraxis im Pflegekinderwesen

Jörg M. Fegert
Wann ist der begleitete Umgang, wann ist der Ausschluss des Umgangs bei Pflegekindern indiziert?

Henrike Hopp
PflegeELTERN und Besuchskontakte

Heinzjürgen Ertmer
Regelung von Besuchskontakten – Ein Praxisbericht

Paula Zwernemann
Praxisauswertung und Fallanalysen über Besuchskontakte bei Pflegekindern

Arnim Westermann
Die Leitsätze der Stiftung zum Wohl des Pflegekindes zum Umgangsrecht.
Erörterung und Begründung

Der Beitrag von Ludwig Salgo , dem prominenten Experten für die Rechtsgrundlagen des Pflegekinderwesens, wurde bereits Ende vergangenen Jahres im Zentralblatt für Jugendrecht veröffentlicht. Mit der Kindschaftsrechtsreform sind Besuchskontakte zwischen Kindern und Eltern zur „Soll-Norm“ geworden. Richter und Jugendamtsvertreter forcieren sie deshalb, nicht selten auch dann, wenn sie sich schädigend auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Häufig werden die besonderen und für Pflegekinder typischen Hintergründe zu wenig beachtet. Der Beitrag von Ludwig Salgo ist deshalb von außerordentlicher Bedeutung. Er enthält viele Informationen, die wichtige Argumentationshilfen gegenüber Jugendämtern und Familiengerichten sind, um die Interessen von Pflegekindern zu artikulieren.

Helma und Bernhard Hassenstein warnen aus verhaltensbiologischer Sicht:
Zu versuchen, ein Kind über den beabsichtigten, ihm drohenden Verlust seiner faktischen Eltern zu täuschen, ist aber so gut wie immer aussichtslos: Kinder sind vor dem Abschluss der Pubertät zwar im logischen Denken noch nicht so geschult wie Erwachsene; aber im Erspüren gefühlsmäßiger Zusammenhänge und im Beobachten auch unscheinbarer Anzeigen für bevorstehende Änderungen sind sie bekanntlich vielen Erwachsenen überlegen. Aus diesem Grunde sind pflichtmäßige Zusammenkünfte mit den leiblichen Eltern für Kinder, die zu ihren Pflegeeltern vertrauensvolle Kind-Eltern-Beziehungen entwickelt haben, fast zwangsläufig mit existenzieller Trennungsangst verknüpft. Solche Ängste entstehen ohne jede Beeinflussung des Kindes, ja sogar entgegen verpflanzungsfreundlicher Beeinflussung seitens der Pflegeeltern. Trotz aller Bemühungen pflegen die Ängste eines Kindes von Besuch zu Besuch zu wachsen, statt abzuflauen.
In verhaltensbiologischer Sicht ist diese Reaktion in der Natur des Kindes verankert: Ein Kind wäre seelisch nicht gesund, wenn es auf den sich anbahnenden Verlust seiner faktischen Eltern und damit seines Hortes der Geborgenheit nicht mit existenzieller Angst reagieren würde. Was dies für ein Kind bedeutet, ist für Erwachsene, die als Kinder stets in gesicherten Verhältnissen aufwuchsen, beinahe uneinfühlbar - es sei denn, sie hätten die Leiden solcher Kinder unmittelbar miterlebt und mitempfunden. Nach einem derartigen Besuch - und allgemein unter dem Einfluss von Trennungsangst - können Kinder an Schlaflosigkeit, Essunlust und Erbrechen leiden. Sie können zu Bettnässern werden, allgemein gesundheitlich abfallen, zu Unfällen und Infektionen neigen. Sie können geistesabwesend oder aggressiv sein und in der Schule versagen.
... Statt dessen hat man, falls kindliche Verhaltensstörungen der beschriebenen Art auftraten, die Pflegeeltern dafür verantwortlich gemacht...
... Den Hintergrund für all diese Vorwürfe bildet auch heute noch vorkommende Unkenntnis darüber, dass kindliche Bindungen durch prägungsähnliche Lernvorgänge bei langdauerndem Zusammenleben entstehen und nicht beliebig durch Umlernen zu verändern sind, sowie die allgemeine Vorstellung, dass kindliche Bindungen beim Bestehen von Blutsverwandtschaft selbstverständlich seien. Darum meint man: Wenn Kinder sich nicht elementar zu ihren leiblichen Eltern hingezogen fühlen und keine Liebesbande entwickeln, so müsse dies in ihrer gegenwärtigen Lebenssituation begründet sein, also auf Erziehungseinflüssen durch die Pflegeeltern beruhen.
Die Wirklichkeit sieht aber anders aus: Wenn Pflegeeltern ihre Aufgaben erfüllen, den Kindern Fürsorge und Geborgenheit zu gewähren, dann wendet sich ihnen im Laufe der Zeit das Herz der Kinder zu – dies ist ein unvermeidbares Naturgeschehen – und die nicht oder selten anwesenden leiblichen Eltern sind und bleiben für die Kinder dasselbe wie alle sonstigen Menschen: nähere oder fernere Bekannte oder Fremde.“ (S. 66ff.)

Die Psychologin und Gerichtsgutachterin Martina Cappenberg referiert aus der jüngeren Bindungsforschung und zieht u.a. den Schluss, dass „...Besuchskontakte mit den Herkunftseltern eine massive Gefährdung für die weitere Persönlichkeitsentwicklung eines durch die Eltern traumatisierten Kindes darstellen...“ (S.94). Sie fordert für die Praxis und Perspektive traumatisierter Kinder Ergänzungen durch wissenschaftliche Arbeiten aus dem Bereich der Traumaforschung. Gleich mehrere Beiträge stützen ihre Position. Die Psychoanalytikerin Annette Streeck-Fischer bringt zunächst ein Fallbeispiel und führt weiter aus:
An erster Stelle steht das Erkennen und Überwinden der hier beschriebenen traumatischen Reinszenierungen. Diese Reinszenierungen finden in der Regel im Umfeld des Kindes oder Jugendlichen und in der Therapie statt.... Fortgesetzte Triggerungen und Traumatisierungen sind nicht hilfreich. Sie halten Kinder und Jugendliche in ihrer Problematik fest und verschlimmern u.U. ihren Zustand. Sie müssen erst erfahren, dass es eine andere bessere Welt gibt, in der sie sich sicher und aufgehoben fühlen können. Erst dann kann daran gedacht werden, an den Traumatisierungen zu arbeiten.“ (S. 106f f.)

Der Neurobiologe Gerald Hüther und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Sunke Himpel weisen auf die multiplen Schädigungen durch Traumatisierungen hin:
“Die primäre Bezugsperson bietet keine Sicherheit, sondern ist Quelle der Bedrohung. Bei etwas älteren Kindern, die bereits selbst Wirksamkeitskonzepte entwickelt haben, kommt noch hinzu: Die Aneignung von Kompetenzen bietet keine Sicherheit. Damit verlieren diese Kinder ihr bis dahin entwickeltes Urvertrauen in die Bewältigbarkeit der Welt .... Bei Besuchskontakten mit ihren leiblichen Eltern werden die Kinder häufig mit der früheren Traumatisierung konfrontiert und sind dem Stressor erneut ausgesetzt. Hierdurch können eine ganze Reihe belastender Erinnerungen reaktiviert werden, .... Sehr kritisch sind Besuchskontakte zu sehen, wenn es danach zu einer länger andauernden Stressantwort kommt. Über mehrere Tage andauernde Auswirkungen mit rigiden Verhaltensauffälligkeiten, emotionaler Verunsicherung .... Durch Besuchskontakte können die neu entstandenen Bindungen zu den Pflegeeltern in Frage gestellt werden....“ (S. 121ff.)

Die Psychologin Monika Nienstedt präsentiert zwei Fallgutachten, die im Ergebnis Gefährdungen für die Persönlichkeitsentwicklung der Pflegekinder durch Besuchskontakte aufzeigen. Arnim Westermann, ebenfalls Psychologe, zeigt anhand eines weiteren Beispiels aus der Praxis das gleiche Resultat und kritisiert darüber hinaus den mangelhaften Kinderschutz.

Der dann folgende Beitrag von Mériam Diouani, Diplom Pädagogin, offenbart die Konflikthaftigkeit dieses Reizthemas. Ihr Beitrag zeigt „...auf der Basis der vorangegangenen Fachbeiträge aus Rechtswissenschaft, Bindungsforschung, Traumatologie und Neurobiologie Konsequenzen für die Umgangspraxis im Pflegekinderwesen [...], die für die einzelfallgerechte Ermittlung der am ’wenigsten schädlichen Alternative’ zur Widerherstellung des Kindeswohls gefährdeter Pflegekinder durch Jugendhilfe und Justiz von Bedeutung sind.“ (S.173) Diouani bemerkt Überforderung bei den Fachkräften in Kombination mit Ausbildungsdefiziten sowie Umsetzungsdefiziten infolge von fehlenden finanziellen Mitteln und kritisiert, dass „...die Anforderung an die mit Pflegekindern befassten Fachkräfte, ihre Entscheidungen zur Umgangsfrage einzelfallgerecht zu explorieren und gegenüber den leiblichen Eltern oder dem Familiengericht fachlich fundiert zu begründen, [...] zukünftig nicht den Zufälligkeiten der jeweiligen professionellen Kompetenz und den jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen der zuständigen Behörde überlassen bleiben [kann]...“ (S.177) Als Anregung an den Gesetzgeber fordert sie eine Novellierung mit dem Ziel, dass „... ein Umgangsrecht den Eltern nur zustehen sollte, wenn der persönliche Kontakt dem Wohl des betroffenen Kindes dient und das Kind diesen Kontakt wünscht.“ (S. 190)

Jörg Fegert, Kinder- und Jugendpsychiater, sieht in schweren Misshandlungs- und Missbrauchstraumata Ausschlussgründe für den Umgang und zieht damit eine Grenze zum begleiteten Umgang. Ihm folgt der Beitrag der Sozialarbeiterin Henrike Hopp, der für Pflegeeltern wegen der vielen Anregungen und Tipps von praktischer Relevanz ist. Ebenso enthält der Praxisbericht des Jugendamtsbereichsleiters Heinzjürgen Ertmer vielerlei Anregungen. Ertmer berichtet u.a., wie konkrete und konflikthafte Konstellationen im Jugendamt Herten systematisch bearbeitet werden, und welche Regeln für die Arbeit mit Pflegekindern abgeleitet wurden.

Eine empirische Analyse der Sozialarbeiterin Paula Zwernemann, die auf 20 Jahre Erfahrung im Pflegekinderdienst des Landkreis Waldshut zurückblickt, bringt viele interessante Details zum Vorschein. Wie Fegert vertritt sie die Auffassung, dass “... in Fällen von sexuellem Missbrauch und schwerer Misshandlung [...] in der Regel ein Ausschluss von Kontakten notwendig [ist], bis das Kind das Erlebte verarbeitet hat.“ (S.273) Weiter aus ihrem Fazit:
“Die Praxisauswertung zeigt, dass es nicht die Besuchskontakte sind, die eine gesunde Identitätsentwicklung ermöglichen, sondern dass sichere Eltern-Kind-Bindungen und die Beachtung der gesamten Biografie des Kindes Voraussetzung dafür sind. Für eine positiv verlaufende Identitätsentwicklung ist es erforderlich, dass einerseits die Pflegeeltern die leiblichen Eltern als zum Leben des Pflegekindes gehörende Personen akzeptieren und andererseits die leiblichen Eltern den Pflegeeltern in ihrer Position eine eben solche Akzeptanz entgegenbringen und akzeptieren, dass das Kind in der Pflegefamilie ein neues Zuhause und neue Eltern gefunden hat. Eine weitere wichtige Bedingung ist, dass das Kind angstfrei in die Begegnung geht und die Pflegeeltern dem Kind den erforderlichen Schutz gewähren.... Die Fallanalysen haben gezeigt, dass in fast allen Fällen vor der Inpflegegabe des Kindes mindestens eine, meist jedoch mehrere ambulante Hilfen gewährt wurden. Es wurde deutlich, dass die vorausgehenden Hilfen oft zu lange gewährt wurden und oftmals im Endeffekt nicht gegriffen haben. Dies bedeutete für die betroffenen Kinder, dass sie zu lange in einem schädigenden Umfeld belassen wurden. Dadurch wurden die Chancen für eine heilende Entwicklung in der Pflegefamilie geschmälert, bzw. erschwert....“ (S.273 ff.)

Abschließend erläutert und begründet Arnim Westermann die Leitsätze zum Umgangsrecht, wie sie bereits im vorangegangenen 2. Jahrbuch veröffentlicht wurden. Das nun vorliegende 3. Jahrbuch ist die gegenwärtig gründlichste Darstellung und Diskussion der heiklen Umgangsproblematik im Pflegekinderwesen. Einseitige und ideologische Positionen haben nun hoffentlich keine Chance mehr, in der Fachwelt ernst genommen zu werden.

Christoph Malter (April, 2004)

s.a. 15. Tag des Kindeswohls

 

 

Onlinebestellung über unseren Partner

Liste der rezensierten bzw. präsentierten Bücher

 

[AGSP] [Aufgaben / Mitarbeiter] [Aktivitäten] [Veröffentlichungen] [Suchhilfen] [FORUM] [Magazin] [JG 2011 +] [JG 2010] [JG 2009] [JG 2008] [JG 2007] [JG 2006] [JG 2005] [JG 2004] [JG 2003] [JG 2002] [JG 2001] [JG 2000] [Sachgebiete] [Intern] [Buchbestellung] [Kontakte] [Impressum]

[Haftungsausschluss]

[Buchempfehlungen] [zu den Jahrgängen]

Google
  Web www.agsp.de   

 

 

 

 

 

simyo - Einfach mobil telefonieren!

 


 

Google
Web www.agsp.de

 

Anzeigen

 

 

 

 


www.ink-paradies.de  -  Einfach preiswert drucken