FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 

Dieter Korczak (Hrsg.)

Bildungs- und Erziehungskatastrophe?

Was unsere Kinder lernen sollten

(Westdeutscher Verlag 2003, 191 Seiten, 29,90 Euro)

 

Der von dem Vorsitzenden der Interdisziplnären Studiengesellschaft herausgegebene Band referiert die Vorträge ihrer 59. Jahrestagung in Neuss 2002.

Zum Inhalt heißt es im Klappentext

„Die Ergebnisse der PISA-Studie vermitteln den Eindruck, dass Deutschlands Schüler im internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähig sind. Bildungspolitiker haben daraus die Konsequenz gezogen, dass Schüler frühzeitiger, häufiger und härter geprüft und getestet werden sollen. Der Band ’Bildungs- und Erziehungskatastrophe’ sucht nach anderen Antworten. Die Ergebnisse der Hirnforschung belegen eindrucksvoll, dass eine frühzeitige Förderung von Kindern ihrem Lernpotenzial wie ihrem Weltverständnis zugute kommt. Die Entwicklungspsychologie zeigt, wie wichtig die liebevolle Eltern-Kind-Bindung für das Selbstbewusstsein und den Lernwillen von Kindern ist. Ein positives Lernmilieu darf aber nicht auf das Elternhaus begrenzt bleiben, sondern muss den Kindergarten wie den schulischen Bereich erfassen. Dazu gehören die pädagogische Professionalisierung der Lehrkräfte ebenso wie strukturelle Veränderungen an den Schulen. Das deutsche Schulsystem vermittelt seinen Schülern noch zu oft das Gefühl von Niederlagen anstelle von Erfolgserlebnissen. Die Risiken des modernen Lebens mit der Brüchigkeit von Berufslaufbahnen wie Eheschließungen erfordern auch eine Umorientierung im Bildungskanon. Kommunikations- und Teamfähigkeit, Belastbarkeit,. Flexibilität, vernetztes Denken und Kreativität sind moderne Schlüsselqualifikationen. Dieser Band geht intensiv der Frage nach, was unsere Kinder für die Zukunft und wie sie es lernen sollen.“

Die programmatisch angestrebte Interdisziplinarität wird aus dem Inhalts- und Autoren-Verzeichnis ersichtlich:

  • Dieter Korczak (Soziologe, Institut f. Grundlagen- u. Programmforschung in München):
    Vorwort: Was sollen unsere Kinder von uns lernen
  • Helmwart Hierdeis (Prof. für Pädagogik an der Universität Innsbruck, Psychoanalytiker):
    Die Bedeutung der Bildung in einer sich wandelnden Gesellschaft
  • Jürgen Rüttgers (Jurist, Fraktionsvorsitzender der CDU in NRW):
    Bildung und Werte
  • Jeannette von Ratibor (Managerin der Boston Consulting Group, Stuttgart):
    Die erforderlichen Bildungsqualifikationen der Modeme
  • Michael-Burkhard Piorkowsky (Prof. für Haushaltsökonomik der Universität Bonn):
    Wirtschaftliche Allgemeinbildung in den Schulen
  • Gerhard J. Suess (Prof. für Entwicklungspsychologie u. Klin. Psychologie in Hamburg):
    Gewalt in der Gesellschaft, in den Medien, in den Schulen, in der Familie:
    Plädoyer zur Stärkung der Beziehungsfähigkeit
  • Sigrid Tschöpe-Scheffler (Prof. für Sozialpädagogik in Köln):
    Wege aus der Erziehungskatastrophe - Stärkung der elterlichen Kompetenz
  • Reinhard Schydlo (Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Düsseldorf):
    Neurogene und psychogene Lernstörungen
  • Ernst von Borries (Leiter des Obermenzinger Gymnasiums in München):
    Forderungen an eine Schule von morgen - eine Stimme aus der Praxis
  • Astrid Wirtz (Redakteurin des Kölner Stadtanzeigers):
    Kinder brauchen liebevolle Konsequenz - Ganztagsschule in Deutschland ist ohne gemeinsame Erziehungsvorstellungen nicht denkbar
  • Hans-Jürgen Petrauschke (Kreisdirektor des Rhein-Kreises Neuss):
    Bildungsförderung aus kommunaler Sicht

Trotz der sehr unterschiedlichen, zum Teil kontroversen Beiträge haben sich die Autoren zur Formulierung von 12 bildungspolitischen Thesen zusammengefunden:

1) Für eine zukunftsfähige Gesellschaft benötigen wir die Erziehung zu Toleranz, Verantwortungsbereitschaft, Soziabilität und historischem Bewusstsein, die Förderung der Kreativität und der Fähigkeit, vernetzt zu denken. Bildung ist die immaterielle Ausstattung, die uns befähigt, uns und unsere Welt zu verstehen, die notwendigen Fertigkeiten zur Daseinsbewältigung und -gestaltung zu erwerben, Chancen zu nutzen und Gefahren abzuwehren.

2) Die Bildung und Stärkung unserer Persönlichkeit geschieht zuerst innerhalb frühkindlicher Bindungsbeziehungen, die wiederum die Bühne bereiten für unverzichtbare Erfahrungen in der Gleichaltrigenwelt. Das Recht des Kindes auf Achtung existiert von der ersten Minute seines Lebens und muss sowohl von Eltern wie Lehrern respektiert werden; denn Erziehungskompetenz ist vor allem Beziehungskompetenz.

3) Die Vorbildfunktion auf allen gesellschaftlichen Ebenen muss wieder Wirklichkeit werden: Eltern, Lehrer, Politiker, Unternehmer sollten die Werte vorbildhaft vorleben, die sie predigen. Gerade die elterliche Erziehungskompetenz und Vorbildfunktion sollte unbedingt gestärkt werden (z.B. durch frühe Hilfen, Beratung, Begleitung, Entlastung).

4) Kindergarten und Grundschule müssen gleichwertige Systeme sein und eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz erfahren.

5) Viele Kinder wollen mehr lernen, als dies gegenwärtig in Kindertageseinrichtungen der Fall ist. Die Ausbildung der Erzieher/innen muss deshalb verbessert werden, es müssen stärker vorschulische Lernangebote eingeführt werden und Lern- und Erfahrungswelten für Kinder aller Milieus zur Verfügung stehen. Die (Mutter-)Sprache sollte gefördert, die Wahrnehmung sozialer Konfliktsituationen trainiert, motorisch-sensorische Fähigkeiten unterstützt werden.

6) Schulbildung ist mehr denn je Faktor des gesellschaftlichen Wandels und sollte die veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit reflektieren. Interkulturelles Denken und Handeln ist ein Bestandteil des alltäglichen Lebens. Die Lebens- und Berufslaufbahnen sind entstandardisiert worden. Im Prozess des Wissenserwerbs müssen deshalb eigene Erfahrungen und Kompetenzen eingebracht werden können.

7) Die Ausbildung der Lehrer muss professionalisiert werden. Pädagogisch-psychologische Kenntnisse sowie Kenntnisse über Lernstörungen, Übungen zur Selbstreflexion und der didaktische Umgang mit Gruppen müssen ebenso Bestandteile der Ausbildung werden, wie Berufserfahrungen in Form von Praktika in unterschiedlichen Berufen.

8) Die Schule muss wieder ihre Mitte zwischen Ideal und Realität finden. Dazu gehören:
- vor allem in der Primarstufe sollten die Schülerzahlen klein sein (max. 15 Schüler), die Schulzeit sollte maximal 12 Jahre betragen;
- die Lernarbeit der Kinder muss im gesellschaftlichen Bewusstsein gleichwertig zur Berufsarbeit der Erwachsenen werden;
- Lesen, Erzählen und das freie Sprechen müssen vom ersten Schuljahr an geübt werden;
- möglichst viele Lehrinhalte sollten mit einer Anwendungsmöglichkeit verbunden werden, Projektarbeit sollte Bestandteil jeder schulischen Arbeit werden;
- das pädagogische Gespräch über die Schüler (und mit ihnen) muss institutionalisiert werden: Lehrer brauchen grundsätzlich Supervision und Raum für die Selbstreflexion;
- die festen verbindlichen Lernfelder sollten sein: Deutsch, Mathematik, Geschichte/Erdkunde, Fremdsprachen, Naturwissenschaft, Sport, Kunst/Musik, Philosophie;
- es sollte eine umfassende "Allgemeine Wirtschaftslehre" für den Schulunterricht entwickelt und an allen Schulformen und -stufen eingeführt werden;
- es sollten Foren für jüngere, mittlere und ältere Schüler geschaffen werden, in denen sie ihre Fertigkeit präsentieren können; deshalb sollten gezielt Talente über die Grundfertigkeiten hinaus gefördert werden;
- regelmäßige Leistungsvergleiche zwischen Lehrern, zwischen Schulen gehören zukünftig zum Standard. Die selbstständige Schule soll im Wettbewerb eine Chance zum Vergleich und zur Entwicklung eines eigenständigen Profils bekommen.

9) Bei der Entwicklung der Schulkonzepte müssen die verschiedenen Ressourcen und sozialstrukturellen Bedingungen vor Ort unbedingt berücksichtigt werden.

10. Neue Institutionen der Zusammenarbeit zwischen Schulen und Elternhaus, zwischen Gesundheitswesen, Jugendämtern, Schulpsychologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Schulen sind notwendig.

11. Kein Schulsystem kann mehr leisten, als es der Gesellschaft wert ist.

12. Die Schule muss sich vom Niederlagensystem zum Erfolgssystem wandeln, um die Humanressource Bildung entfalten zu können und für Schüler wie Lehrer motivierend und stimulierend zu sein. (S. 25 - 28)

In diesen Thesen spiegelt sich die in der Erziehungs- und Bildungs-Debatte übliche Übergewichtung des schulischen Bereichs wider. Gleichwohl machen die Beiträge von Gerhard Suess, Sigrid Tschoepe-Scheffler und Reinhard Schydlo sehr deutlich, dass die Wurzeln der schwierigsten Erziehungs- und Bildungsprobleme lange vor der Einschulung zu suchen sind, nämlich in der neuropsychologischen Entwicklung der ersten Lebensjahre. Deshalb kann dieses Buch nicht nur den Schulpädagogen, sondern auch den Eltern, Kindergärtnerinnen und Vorschulerzieherinnen als praxisbegleitende Ermutigung und Unterstützung empfohlen werden. Hoffentlich findet es auch die eigentlich angesprochenen Adressaten: die Bildungspolitiker des Bundes und der Länder!

Kurt Eberhard (Jan. 2004)

s.a. Sachgebiet Erziehungs- und Bildungskrise

 

 

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