FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 

Peter Flosdorf

Heilpädagogische Beziehungsgestaltung

Lambertus-Verlag, 2004
(128 Seiten, 11,50 Euro)

 

Als ich als junger Heimpsychologe während einer Tagung Herrn Flosdorf stolz von meiner empirischen Forschung an großen Stichproben berichtete, war er wenig beeindruckt. Als er aber hörte, daß ich selbst Pflege- und Heimerziehung erlebt hatte, wurde er sehr aufmerksam, und wir hatten ein Gespräch, an dessen Intensität ich mich noch heute erinnere. Nach Lektüre des nun vorliegenden Buches über heilpädagogische Beziehungsgestaltung verstehe ich besser, aus welchen Quellen seine nachhallende Dialogfähigkeit stammt: er nutzt wie kein anderer Autor der Heilpädagogik den mystisch-magischen Erkenntnisweg und stützt sich dabei besonders auf Martin Buber. Das hindert ihn mitnichten, unterschiedlichste  wissenschaftliche Fachliteratur für seine Praxis fruchtbar zu machen.

Seine selbst gestellte Aufgabe lautet:

„In der jetzt hier vorgelegten Veröffentlichung wollen wir Grundlagen für das Training heilpädagogischer Beziehungsgestaltung im Einzel- und Gruppenbezug vermitteln. Das Konzept der heilpädagogischen Beziehungsgestaltung im Einzelbezug findet über seine ersten Darstellungen (Freiburg 1987 und 1988) hinaus eine Vertiefung und Erweiterung. Der Gruppenbezug ist nur unwesentlich verändert aus der oben genannten Veröffentlichung (Freiburg 1988) übernommen und reflektiert, Gruppenarbeit vor allem unter den Rahmenbedingungen stationärer Erziehungshilfe. Die dargestellten Konzepte sind aber ebenso grundlegend für Gruppenarbeit in ambulanten Settings. In einem dritten Teil werden zusammenhängend Erfahrungen und Anregungen für die Gestaltung eines mehrwöchigen Trainings der heilpädagogischen Beziehungsgestaltung im Einzelbezug vorgestellt. ....
Wirksame und fördernde Beziehungen gestalten zu können, ist das Proprium für die Qualitätsentwicklung von Einrichtungen und Diensten in der Erziehungshilfe.“ (S. 7/8)

Das Inhaltsverzeichnis gibt einen Überblick über die Durchführung dieses Programms:

EINLEITUNG

DAS KONZEPT DER HEILPÄDAGOGISCHEN BEZIEHUNGSGESTALTUNG

Eine erste Umschreibung
Zur anthropologischen Grundlegung
Methodisch-didaktische Konstrukte für den Aufbau einer Kompetenz der Beziehungsgestaltung
Das Variablenkonzept der heilpädagogischen Beziehungsgestaltung
Operationalisierung der Variablen heilpädagogischer Beziehungsgestaltung.
Die heilpädagogische Beziehungsgestaltung als Element der Planung
Ausblick.
Literatur

DIE GRUPPE ALS SOZIALES LERNFELD

1.Allgerneine Überlegungen
Die Gruppe als spezifisches Merkmal von Heimerziehung
Jedem verfügbare soziale Vorerfahrungen in Gruppen
Überblick über die Entwicklung theoretischer und praktischer Konzepte der Gruppenarbeit in Pädagogik und Therapie

2. Heilpädagogische Gruppenarbeit
Der methodische Umgang mit den Wirkvariablen der Gruppe
Der Gruppenprozess als Erarbeitung und Bearbeitung von Normen, Zielen und Übereinkünften
Der Gruppenprozess als Erarbeitung und Bearbeitung von Aufgaben, Rollen und Rangstrukturen
Der Gruppenprozess als Erarbeitung von Selbstständigkeit und Gruppenbezogenheit
Die Dependenz (Abhängigkeit)
Die Contradependenz oder Gegenabhängigkeit
Die Independenz oder Unabhängigkeit
Die Interdependenz.
Bilden und Strukturieren von Gruppen -    Gruppenzusammensetzung und deren gruppendynamische Perspektive
Übergreifende Merkmale und Entwicklungsstufen der Gruppe und deren Konzepte
Typische Organisationsformen von Gruppen im Heim
Die "Lebensgruppe" als relativ konstante Grundform des Heimes
Vorübergehende und ergänzende beziehungsweise gruppenübergreifende Gruppenformen
Die Gesamtgruppe des Heimes und deren methodische Strukturierung
Praktische und organisatorische Konsequenzen des Konzeptes der Gruppenarbeit für den Gruppenleiter
Literatur

3. Von der Theorie zur Praxis heilpädagogischen Handelns - Erfahrungen und Anregungen für das Training heilpädagogischer Beziehungsgestaltung

A. Prozessphasen heilpädagogischer Beziehungsgestaltung und darauf bezogene Gewichtungen von Einstellungen und Interventionen der Beziehungsgestaltung

B. Prozessphasen der internalen Bearbeitung von Einstellungen und Verhaltensmustern

C. Vorrangig geforderte Kompetenzen und Konzepte sowie die Verfügbarkeit von Konzepten des Heilpädagogen im Prozess heilpädagogischer Beziehungsgestaltung

D. Generelle Interventionsregeln und -beschreibungen im Prozess heilpädagogischer Beziehungsgestaltung

Eine nach-denkliche Schlußbetrachtung

ANHANG

LITERATUR

DER AUTOR

Wie für den mystisch-magischen Erkenntnisweg typisch, fordert Flosdorf offene Achtsamkeit nach außen und innen und vertraut auf die Dynamik der daraus resultierenden Wechselwirkungen:
„Insofern lebt die Beziehung vom Austausch und, psychologisch gesehen, zunächst einmal von der Wahrnehmung und der Mitteilung. Wahrnehmen heißt aber nicht nur hinblicken oder in die Distanz der registrierenden Beobachtung zu gehen, sondern heißt vorurteilsfreies Aufnehmen dessen, was durch die Sinne in mich eintritt und zugleich die Wahrnehmung dessen, was in mir selbst in diesem Augenblick an psychischer Zuständigkeit aktualisiert wird. Mich selbst wahrnehmen heißt, mich gleichsam als Klangkörper erfahren und dann in innerer Achtsamkeit zu erleben, wie der andere und wie sein Eingebundensein in seine Situation auf mich einwirkt und was dies in mir emotional auslöst. Nun gilt es aber, das so Ausgelöste nicht nur in der eigenen Innerlichkeit zu konservieren oder zu erinnern, sondern in dem genannten zweiten Schritt dem anderen mit-zu-teilen .... In der Mitteilung der eigenen psychisch-emotionalen Befindlichkeit des Heilpädagogen kann das Kind ’sympathisch’, im eigentlichen Sinne des Wortes ’mitschwingend’ erfahren, was es selbst durch sein Verhalten bewirkt und ausgelöst hat .... Diese Gegenseitigkeit vollzieht sich in der heilpädagogischen Beziehungsgestaltung nicht wie im spontanen Austausch verschmelzender Gefühle eines Liebespaares, sondern wird vom Heilpädagogen aus im Wissen um die in der konkreten Situation gewünschten Ziele und die jetzt möglichen Schritte der Zielverwirklichung bewusst gesteuert. Dies setzt eine Zuständlichkeit voraus, die als Achtsamkeit beschrieben werden darf: eine sensible Offenheit und bewusste Aufmerksamkeit für das, was sich bei mir und dem Anderen im Erleben und Verhalten, das heißt in der Interaktion zwischen beiden, ereignet.“ (S. 12/13)
„Ausgangspunkt und damit wichtigste Prozessvariable in diesem Gestaltungsvorgang ist die Wahrnehmung, die eine doppelte Richtung hat: Was nehme ich in der Situation außen/beim anderen wahr und was nehme ich bei mir selbst wahr. Die Mitteilung des Wahrgenommenen induziert die Gegenseitigkeit und bringt so den Prozess der Beziehungsgestaltung in Gang. Wahrnehmen und Mitteilen sind deshalb die wichtigsten initiierenden und steuernden Variablen für die Beziehungsgestaltung  .... So können die von mir bei mir selbst wahrgenommenen Gefühle und deren Mitteilung analoge oder erweiternde Befindlichkeiten beim Partner auslösen und dynamisieren. .... In der Gegenseitigkeit der wechselseitigen Teilhabe gestaltet sich die Beziehung.“ (S.16)

Im weiteren Text entfaltet er seine in jahrzehntelanger Erziehungs-, Beratungs- und Ausbildungsarbeit gewachsenen Erkenntnisse und gelangt schließlich zu folgenden ’Interventionsregeln und -beschreibungen im Prozeß heilpädagogischer Beziehungsgestaltung’:

  • Man lernt Intervenieren und die Wirkung von Interventionen nur kennen, wenn man interveniert und reflektiert. "Wahrnehmen und mitteilen".
  • Es ist keine Katastrophe, Fehler zu machen, wohl aber, die gleichen Fehler dauernd zu machen.
  • Basisvariablen realisieren.
  • Das non-direktive Gespräch, das konfrontative Gespräch, lösungsorientierte Gespräche. Die Wirksamkeit von Interventionen ist u.a. auf dem Hintergrund von Abhängigkeit, Gegenabhängigkeit, Interdependenz zu überprüfen, durch Interagieren lernt man, die Auswirkung der Intervention (der eigenen und der anderen) im Auge zu behalten, teilnehmende Beobachtung.
  • Sich auf Achtsamkeit hin sammeln (innere und äußere Achtsamkeit) und bewusst mit den Akzentuierungen der Bewusstheit (Fühlen, Denken, Werten, Wollen, Handeln) arbeiten.
  • Im Hier und Jetzt arbeiten (Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Absichten), Interventionen als impulsgebende Information (Motivationsaufbau), als Stopp-Signal, als differenzierende Information, als Materialeingabe etc.
  • Dosiert konfrontieren (Bereitschaft und Flexibilität erkunden). Entscheidend für die Wirksamkeit einer Intervention ist das Timing (vorzeitig, zu spät, rechtzeitig).
  • Spannung wahrnehmen und aushalten und als Chance für mögliche Änderungen im Verhalten des Klienten erkennen.
  • Fachlich gezielt fragen, Mut zur Wahrhaftigkeit.
  • Strategie zum Umgang mit Widerstand und Angst, es gibt angststeigernde oder angstmindernde Interventionen, es gibt emotional entlastende oder emotional belastende Interventionen.
  • Es gibt verbale und nonverbale Interventionen, Gespräch strukturieren (Gestaltung von Pausen, Spannung aushalten können, wann wirkt dies produktiv, wann unproduktiv), eigene Körpersprache in der Auswirkung kennen.
  • Eigene Vorstellungen klar und deutlich ausdrücken. Eine Intervention ist um so wirksamer, je mehr sie von rationaler Klarheit und emotionaler Kontur geprägt ist.
  • Unklarheiten ansprechen, bei einer Intervention ist zu überlegen, ob ein Prozess angestoßen wird, der außer Kontrolle geraten kann.
  • Geht eine Intervention ’falsch’ aus, so kann man die Reaktion bearbeiten, neben den beabsichtigten, gibt es unbeabsichtigte Wirkungen. Konstruktiv verhandeln.
  • Umgang mit dysfunktionalen Einstellungen, Beziehungsmustern und Verhaltensweisen (Dysfunktionales nicht mitmachen, funktionale Muster erleben lassen, enactment, realitäts- versus phantasiebezogen).
  • Explizite Modellbildung (Veranschaulichung eines Sachverhalts aus dem eigenen Wirkungskreis) ist oft emotional und kognitiv hilfreich.
  • Differentielle positive Bekräftigung.
  • Paradoxes Kommunizieren.
  • Die Intensität der Intervention angemessen (Zeit, Stand des Prozesses, Belastbarkeit) dosieren.
  • Es empfiehlt sich, deutlich zu seiner Intervention zu stehen und sie auch unter Umständen deutlich zurückzunehmen. Sonst entstehen Unklarheiten und Störungen auf der Beziehungsebene
  • Die Intervention erhält den Zuschlag, die die unterschwellige Strömung der Gruppe bzw. des Gegenübers trifft (Implizites Team!).“ (S. 104/105)

Den Abschluß bildet eine ’nach-denkliche Schlußbetrachtung’:
„Der Mensch lebt sein Dasein in der ’Grundbefindlichkeit der Angst’ (Heidegger). Von Riemann sind im Zusammenhang mit den von ihm beschriebenen ’Grundformen der Angst’ relevante Auswirkungen für die Verfremdung ’helfender Partnerschaft’ (1982) beschrieben und analysiert worden. Einmal wirksam gewesene Abwehrformen, die sogar der ursprünglichen realen Bedrohung sehr angemessen gewesen sein können, werden leicht im Sinne einer vereinfachenden Generalisierung verfestigt und dann auch weiterhin eingesetzt, wenn die Angemessenheit nicht mehr gegeben ist. Unsere eigene Beziehungsfähigkeit ist damit nie völlig frei von neurotisierender Verfremdung. Aus Angst vor den Untiefen unserer eigenen Seele können wir uns leicht in vordergründige Aktivitäten verstricken und darin zur Verleugnung der eigenen Schwächen und Ängste gelangen. Kollegialität, Teamarbeit, Raum für befreiende Aussprachen, Angebote für Praxisanleitung und Supervision sind Konzepte, die wir in unserem Anspruch, in der Beziehungsgestaltung wirksame heilpädagogische Hilfe leisten zu wollen, für uns selbst brauchen. Es sind dies alles Konzepte, die aber nur in dem Maße wirksam werden können, wie sie personal durchdrungen sind.“ (S. 106)

Wer lediglich in pragmatischer Absicht die bewährten Methoden eines ’alten Hasen’ abholen will, versäumt das wertvollste des Buches: die Botschaft, daß heilende Pädagogik auf Menschen angewiesen ist, die sich trotz des Alltagsstresses und trotz der techno- und bürokratischen Rahmenbedingungen dem anderen Menschen seelisch öffnen, sich von ihm bewegen lassen und diese Bewegung reflektorisch und reflektiert zurückgeben. Solche Dualbeziehungen gelingen allerdings im Liebesmilieu einer heilpädagogischen Pflegefamilie wesentlich leichter als im Beziehungsmilieu eines heilpädagogischen Heims.

Kurt Eberhard  (März, 2004)

 

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